Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers

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Dafür gab die damalige Zeit ihm nicht allzuviele Möglichkeiten. Nur ganz wenige, besonders reiche junge Leute konnten sich den Luxus leisten, eine Maitresse »auszuhalten«, das heißt ihr eine Wohnung zu nehmen und für ihren Lebensunterhalt aufzukommen. Ebenso erfüllte sich nur einigen besonders Glücklichen das damalige literarische Liebesideal – das einzige, das in Romanen geschildert werden durfte – das Verhältnis mit einer verheirateten Frau. Die andern halfen sich meist mit Ladenmädchen und Kellnerinnen aus, was wenig innere Befriedigung bot. Denn in jener Zeit vor der Emanzipation der Frau und ihrer tätigen selbständigen Teilnahme am öffentlichen Leben verfügten nur Mädchen aus allerärmster proletarischer Herkunft über einerseits genug Unbedenklichkeit, anderseits genug Freiheit für solche flüchtige Beziehungen ohne ernste Heiratsabsichten. Schlecht gekleidet, abgemüdet nach einem zwölfstündigen, jämmerlich bezahlten Tagewerk, ungepflegt (ein Badezimmer war in jenen Zeiten noch das Privileg reicher Familien), und in einem engen Lebenskreise aufgewachsen, standen diese armen Wesen so tief unter dem Niveau ihrer Liebhaber, dass diese sich meist selbst scheuten, öffentlich mit ihnen gesehen zu werden. Zwar hatte für diese Peinlichkeit die vorsorgliche Konvention ihre besonderen Maßnahmen erfunden, die sogenannten Chambres Séparées, wo man mit einem Mädchen ungesehen zu Abend essen konnte, und alles andere erledigte sich in den kleinen Hotels der dunklen Seitenstraßen, die ausschließlich auf diesen Betrieb eingerichtet waren. Aber all diese Begegnungen mussten flüchtig und ohne eigentliche Schönheit bleiben, mehr Sexualität als Eros, weil immer nur hastig und heimlich wie eine verbotene Sache getan. Dann gab es allenfalls noch die Möglichkeit der Beziehung zu einem jener amphibischen Wesen, die halb außerhalb, halb innerhalb der Gesellschaft standen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Künstlerinnen, den einzig »emanzipierten« Frauen jener Zeit. Aber im Allgemeinen blieb das Fundament des damaligen erotischen Lebens außerhalb der Ehe die Prostitution; sie stellte gewissermaßen das dunkle Kellergewölbe dar, über dem sich mit makellos blendender Fassade der Prunkbau der bürgerlichen Gesellschaft erhob.

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Von der ungeheuren Ausdehnung der Prostitution in Europa bis zum Weltkriege hat die gegenwärtige Generation kaum mehr eine Vorstellung. Während heute auf den Großstadtstraßen Prostituierte so selten anzutreffen sind wie Pferdewagen auf der Fahrbahn, waren damals die Gehsteige derart durchsprenkelt mit käuflichen Frauen, dass es schwerer hielt, ihnen auszuweichen als sie zu finden. Dazu kamen noch die zahlreichen »geschlossenen Häuser«, die Nachtlokale, die Kabaretts, die Tanzdielen mit ihren Tänzerinnen und Sängerinnen, die Bars mit ihren Animiermädchen. In jeder Preislage und zu jeder Stunde war damals weibliche Ware offen ausgeboten, und es kostete einen Mann eigentlich ebensowenig Zeit und Mühe, sich eine Frau für eine Viertelstunde, eine Stunde oder Nacht zu kaufen wie ein Paket Zigaretten oder eine Zeitung. Nichts scheint mir die größere Ehrlichkeit und Natürlichkeit der gegenwärtigen Lebens- und Liebesformen so sehr zu bekräftigen, wie dass es der Jugend von heute möglich und fast selbstverständlich geworden ist, diese einst unentbehrliche Institution zu entbehren, und dass es nicht die Polizei, nicht die Gesetze gewesen, welche die Prostitution aus unserer Welt zurückgedrängt haben, sondern dass sich dieses tragische Produkt einer Pseudomoral bis auf spärliche Reste durch verminderte Nachfrage selbst erledigt hat.

Die offizielle Stellung des Staats und seiner Moral gegenüber dieser dunklen Angelegenheit war nun niemals recht behaglich. Vom sittlichen Standpunkt aus wagte man einer Frau das Recht zum Selbstverkauf nicht offen zuzuerkennen, vom hygienischen Standpunkt aus konnte man wiederum die Prostitution, da sie die lästige außereheliche Sexualität kanalisierte, nicht entbehren. So suchten sich die Autoritäten mit einer Zweideutigkeit zu helfen, indem sie eine Teilung machten zwischen geheimer Prostitution, die der Staat als unmoralisch und gefährlich bekämpfte, und einer erlaubten Prostitution, die mit einer Art Gewerbeschein versehen und vom Staate besteuert war. Ein Mädchen, das sich entschlossen hatte, Prostituierte zu werden, bekam von der Polizei eine besondere Konzession und als Berechtigungsschein ein eigenes Buch. Indem sie sich polizeilicher Kontrolle unterstellte und der Pflicht genügte, sich zweimal in der Woche ärztlich untersuchen zu lassen, hatte sie das Gewerberecht erworben, ihren Körper zu jedem ihr richtig dünkenden Preise zu vermieten. Sie war anerkannt als Beruf innerhalb aller anderen Berufe, aber – hier kam der Pferdefuß der Moral – doch nicht vollkommen anerkannt. So konnte zum Beispiel eine Prostituierte, wenn sie ihre Ware, das heißt ihren Körper, an einen Mann verkauft hatte und er nachher die vereinbarte Bezahlung verweigerte, nicht gegen ihn Klage führen. Dann war mit einemmal ihre Forderung – ob turpem causam, wie das Gesetz motivierte – plötzlich eine unmoralische geworden, die nicht den Schutz der Obrigkeiten fand.

Schon an solchen Einzelheiten spürte man die Zwiespältigkeit einer Auffassung, die einerseits diese Frauen einordnete in ein staatlich erlaubtes Gewerbe, sie aber persönlich als Outcasts außerhalb des allgemeinen Rechts stellte. Aber die eigentliche Unwahrhaftigkeit bestand in der Handhabung, dass alle diese Beschränkungen nur für die ärmeren Klassen galten. Eine Balletttänzerin, die für zweihundert Kronen in Wien ebenso zu jeder Stunde und für jeden Mann zu haben war wie das Straßenmädchen für zwei Kronen, brauchte selbstverständlich keinen Gewerbeschein; die großen Demimondaines wurden sogar in der Zeitung in dem Bericht über das Trabrennen oder Derby unter den prominenten Anwesenden genannt, weil sie eben schon selbst zur »Gesellschaft« gehörten. Ebenso standen einige der vornehmsten Vermittlerinnen, die den Hof, die Aristokratie und die reiche Bürgerschaft mit Luxusware versorgten, jenseits des Gesetzes, das sonst Kuppelei mit schweren Gefängnisstrafen belegte. Die strenge Disziplin, die mitleidslose Überwachung und die soziale Ächtung hatten nur Geltung innerhalb der Armee der Tausende und Tausende, welche mit ihrem Körper und ihrer gedemütigten Seele eine alte und längst unterhöhlte Moralauffassung gegen freie und natürliche Liebesformen verteidigen sollte.

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Diese ungeheure Armee der Prostitution war – ebenso wie die wirkliche Armee in einzelne Heeresteile, Kavallerie, Artillerie, Infanterie, Festungsartillerie – in einzelne Gattungen aufgeteilt. Der Festungsartillerie entsprach in der Prostitution am ehesten jene Gruppe, die bestimmte Straßen der Stadt als ihr Quartier völlig besetzt hielt. Es waren meist jene Gegenden, wo früher im Mittelalter der Galgen gestanden hatte oder ein Leprosenspital oder ein Kirchhof, wo die Freimänner, die Henker und die anderen sozial Geächteten Unterschlupf gefunden, Gegenden also, welche die Bürgerschaft schon seit Jahrhunderten als Wohnsitz lieber mied. Dort wurden von den Behörden einige Gassen als Liebesmarkt freigegeben; Tür an Tür saßen wie im Yoshiwara Japans oder am Fischmarkt in Cairo noch im zwanzigsten Jahrhundert zweihundert oder fünfhundert Frauen, eine neben der andern, an den Fenstern ihrer ebenerdigen Wohnungen zur Schau, billige Ware, die in zwei Schichten, Tagschicht und Nachtschicht, arbeitete.

Der Kavallerie oder Infanterie entsprach die ambulante Prostitution, die zahllosen käuflichen Mädchen, die sich Kunden auf der Straße suchten. In Wien wurden sie allgemein »Strichmädchen« genannt, weil ihnen von der Polizei mit einem unsichtbaren Strich das Trottoir abgegrenzt war, das sie für ihre Werbezwecke benutzen durften; bei Tag und Nacht bis tief ins Morgengrauen schleppten sie eine mühsam erkaufte falsche Eleganz auch bei Eis und Regen über die Straßen, immer wieder für jeden Vorübergehenden das schon müde gewordene, schlecht geschminkte Gesicht zu einem verlockenden Lächeln zwingend. Und alle Städte erscheinen mir heute schöner und humaner, seit diese Scharen hungriger, unfroher Frauen nicht mehr die Straßen bevölkern, die ohne Lust Lust feilboten und bei ihrem endlosen Wandern von einer Ecke zur andern schließlich doch alle denselben unvermeidlichen Weg gingen: den Weg ins Spital.

Aber auch diese Massen genügten noch nicht für den ständigen Konsum. Manche wollten es noch bequemer und diskreter haben, als auf der Straße diesen flatternden Fledermäusen oder traurigen Paradiesvögeln nachzujagen. Sie wollten die Liebe behaglicher: mit Licht und Wärme, mit Musik und Tanz und einem Schein von Luxus. Für diese Klienten gab es die »geschlossenen Häuser«, die Bordelle. Dort versammelten sich in einem sogenannten, mit falschem Luxus eingerichteten »Salon« die Mädchen in teils damenhaften Toiletten, teils in schon unzweideutigen Negligés. Ein Klavierspieler sorgte für musikalische Unterhaltung, es wurde getrunken und getanzt und geplaudert, ehe sich die Paare diskret in ein Schlafzimmer zurückzogen; in manchen der vornehmeren Häuser besonders in Paris und in Mailand, die eine gewisse internationale Berühmtheit hatten, konnte ein naives Gemüt der Illusion anheimfallen, in ein Privathaus mit etwas übermütigen Gesellschaftsdamen eingeladen zu sein. Äußerlich hatten es die Mädchen in diesen Häusern besser im Vergleich zu den ambulanten Straßenmädchen. Sie mussten nicht in Wind und Regen durch Kot und Gassen wandern, sie saßen im warmen Raum, bekamen gute Kleider, reichlich zu essen und insbesondere reichlich zu trinken. Dafür waren sie in Wahrheit Gefangene ihrer Wirtinnen, welche die Kleider, die sie trugen, ihnen zu Wucherpreisen aufzwangen und mit dem Pensionspreis solche rechnerische Kunststücke trieben, dass auch das fleißigste und ausdauerndste Mädchen in einer Art Schuldhaft blieb und nie nach seinem freien Willen das Haus verlassen konnte.

 

Die geheime Geschichte mancher dieser Häuser zu schreiben wäre spannend und auch dokumentarisch wesentlich für die Kultur jener Zeit, denn sie bargen die sonderbarsten, den sonst so strengen Behörden selbstverständlich wohlbekannten Heimlichkeiten. Da waren Geheimtüren und eine besondere Treppe, durch die Mitglieder der allerhöchsten Gesellschaft – und wie man munkelte, selbst des Hofes – Besuch machen konnten, ohne von den anderen Sterblichen gesehen zu werden. Da waren Spiegelzimmer und solche, die geheimen Zublick in nachbarliche Zimmer boten, in denen sich Paare ahnungslos vergnügten. Da waren die sonderbarsten Kostümverkleidungen, vom Nonnengewand bis zum Ballerinenkleid, in Laden und Truhen für besondere Fetischisten verschlossen. Und es war dieselbe Stadt, dieselbe Gesellschaft, dieselbe Moral, die sich entrüstete, wenn junge Mädchen Zweirad fuhren, die es als eine Schändung der Würde der Wissenschaft erklärte, wenn Freud in seiner ruhigen, klaren und durchdringenden Weise Wahrheiten feststellte, die sie nicht wahrhaben wollte. Dieselbe Welt, die so pathetisch die Reinheit der Frau verteidigte, duldete diesen grauenhaften Selbstverkauf, organisierte ihn und profitierte sogar daran.

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Man lasse sich also nicht durch die sentimentalen Romane oder Novellen jener Epoche irreführen; es war für die Jugend eine schlimme Zeit, die jungen Mädchen luftdicht vom Leben abgeschlossen unter die Kontrolle der Familie gestellt, in ihrer freien körperlichen wie geistigen Entwicklung gehemmt, die jungen Männer wiederum zu Heimlichkeiten und Hinterhältigkeiten gedrängt von einer Moral, die im Grunde niemand glaubte und befolgte. Unbefangene, ehrliche Beziehungen, also gerade, was der Jugend nach dem Gesetz der Natur hätte Beglückung und Beseligung bedeuten sollen, waren nur den allerwenigsten gegönnt. Und wer von jener Generation sich redlich seiner allerersten Begegnungen mit Frauen erinnern will, wird nur wenige Episoden finden, deren er mit wirklich ungetrübter Freude gedenken kann. Denn außer der gesellschaftlichen Bedrückung, die ständig zu Vorsicht und Verheimlichung zwang, überschattete damals noch ein anderes Element die Seele nach und selbst in den zärtlichsten Augenblicken: die Angst vor der Infektion. Auch hier war die Jugend von damals benachteiligt im Vergleich zu jener von heute, denn es darf nicht vergessen werden, dass vor vierzig Jahren die sexuellen Seuchen hundertfach mehr verbreitet waren als heute und vor allem hundertfach gefährlicher und schrecklicher sich auswirkten, weil die damalige Praxis ihnen klinisch noch nicht beizukommen wusste. Noch bestand keine wissenschaftliche Möglichkeit, sie wie heute derart rasch und radikal zu beseitigen, dass sie kaum mehr als eine Episode bilden. Während heutzutage an den Kliniken kleiner und mittlerer Universitäten dank der Therapie Paul Ehrlichs oft Wochen vergehen, ohne dass der Ordinarius seinen Studenten einen frisch infizierten Fall von Syphilis zeigen kann, ergab damals die Statistik beim Militär und in den Großstädten, dass unter zehn jungen Leuten mindestens einer oder zwei schon Infektionen zum Opfer gefallen waren. Unablässig wurde die Jugend damals an die Gefahr gemahnt; wenn man in Wien durch die Straßen ging, konnte man an jedem sechsten oder siebenten Haus die Tafel »Spezialarzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten« lesen, und zu der Angst vor der Infektion kam noch das Grauen vor der widrigen und entwürdigenden Form der damaligen Kuren, von denen gleichfalls die Welt von heute nichts mehr weiß. Durch Wochen und Wochen wurde der ganze Körper eines mit Syphilis Infizierten mit Quecksilber eingerieben, was wiederum zur Folge hatte, dass die Zähne ausfielen und sonstige Gesundheitsschädigungen eintraten; das unglückliche Opfer eines schlimmen Zufalls fühlte sich also nicht nur seelisch, sondern auch physisch beschmutzt, und selbst nach einer solchen grauenhaften Kur konnte der Betroffene lebenslang nicht gewiss sein, ob nicht jeden Augenblick der tückische Virus aus seiner Verkapselung wieder erwachen könnte, vom Rückenmark aus die Glieder lähmend, hinter der Stirn das Gehirn erweichend. Kein Wunder darum, dass damals viele junge Leute sofort, wenn bei ihnen die Diagnose gestellt wurde, zum Revolver griffen, weil sie das Gefühl, sich selbst und ihren nächsten Verwandten als unheilbar verdächtig zu sein, unerträglich fanden. Dazu kamen noch die anderen Sorgen einer immer nur heimlich ausgeübten vita sexualis. Suche ich mich redlich zu erinnern, so weiß ich kaum einen Kameraden meiner Jugendjahre, der nicht einmal blass und verstörten Blicks gekommen wäre, der eine, weil er erkrankt war oder eine Erkrankung befürchtete, der zweite, weil er unter einer Erpressung wegen einer Abtreibung stand, der dritte, weil ihm das Geld fehlte, ohne Wissen seiner Familie eine Kur durchzumachen, der vierte, weil er nicht wusste, wie die Alimente für ein von einer Kellnerin ihm zugeschobenes Kind zu bezahlen, der fünfte, weil ihm in einem Bordell die Brieftasche gestohlen worden war und er nicht wagte, die Anzeige zu machen. Viel dramatischer und anderseits unsauberer, viel spannungshafter und gleichzeitig bedrückender war also die Jugend in jener pseudo-moralischen Zeit, als sie die Romane und Theaterstücke ihrer Hofdichter schildern. Wie in Schule und Haus war auch in der Sphäre des Eros der Jugend fast nie die Freiheit und das Glück gewährt, zu dem sie ihr Lebensalter bestimmte.

All dies musste notwendig betont werden in einem ehrlichen Bilde der Zeit. Denn oft, wenn ich mich mit jüngeren Kameraden der Nachkriegsgeneration unterhalte, muss ich sie fast gewaltsam überzeugen, dass unsere Jugend im Vergleich mit der ihren keineswegs eine bevorzugte gewesen. Gewiss, wir haben mehr Freiheit im staatsbürgerlichen Sinn genossen als das heutige Geschlecht, das zum Militärdienst, zum Arbeitsdienst, in vielen Ländern zu einer Massenideologie genötigt und eigentlich in allen der Willkür stupider Weltpolitik wehrlos ausgeliefert ist. Wir konnten ungestörter unserer Kunst, unseren geistigen Neigungen uns hingeben, die private Existenz individueller, persönlicher ausformen. Wir vermochten kosmopolitischer zu leben, die ganze Welt stand uns offen. Wir konnten reisen ohne Pass und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion. Wir hatten tatsächlich – ich leugne es keineswegs – unermesslich mehr individuelle Freiheit und haben sie nicht nur geliebt, sondern auch genutzt. Aber wie Friedrich Hebbel einmal schön sagt: »Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.« Selten ist ein und derselben Generation beides gegeben; lässt die Sitte dem Menschen Freiheit, so zwängt ihn der Staat ein. Lässt ihm der Staat seine Freiheit, so versucht ihn die Sitte zu knechten. Wir haben besser und mehr die Welt erlebt, die Jugend von heute aber lebt mehr und erlebt bewusster ihre eigene Jugend. Sehe ich heute die jungen Menschen aus ihren Schulen, aus ihren Colleges mit heller, erhobener Stirn, mit heiteren Gesichtern kommen, sehe ich sie beisammen, Burschen und Mädchen, in freier, unbekümmerter Kameradschaft, ohne falsche Scheu und Scham in Studium, Sport und Spiel, auf Skiern über den Schnee sausend, im Schwimmbad antikisch frei miteinander wetteifernd, im Auto zu zweit durch das Land sausend, in allen Formen gesunden, unbekümmerten Lebens ohne jede innere und äußere Belastung verschwistert, dann scheint mir jedesmal, als stünden nicht vierzig, sondern tausend Jahre zwischen ihnen und uns, die wir, um Liebe zu gewähren, Liebe zu empfangen, immer Schatten suchen mussten und Versteck. Redlich erfreuten Blicks werde ich gewahr, welch ungeheure Revolution der Sitte sich zugunsten der Jugend vollzogen hat, wieviel Freiheit in Liebe und Leben sie zurückgewonnen hat und wie sehr sie körperlich und seelisch an dieser neuen Freiheit gesundet ist; die Frauen scheinen mir schöner, seit ihnen erlaubt ist, ihre Formen frei zu zeigen, ihr Gang aufrechter, ihre Augen heller, ihr Gespräch unkünstlicher. Welch eine andere Sicherheit ist dieser neuen Jugend zu eigen, die niemandem sonst Rechenschaft geben muss über ihr Tun und Lassen als sich selbst und ihrer inneren Verantwortung, die der Kontrolle sich entrungen hat von Müttern und Vätern und Tanten und Lehrern und längst nichts mehr ahnt von all den Hemmungen, Verschüchterungen und Spannungen, mit denen man unsere Entwicklung belastet hat; die nichts mehr weiß von den Umwegen und Heimlichkeiten, mit denen wir uns als ein Verbotenes erschleichen mussten, was sie mit Recht als ihr Recht empfindet. Glücklich genießt sie ihr Lebensalter mit dem Elan, der Frische, der Leichtigkeit und der Unbekümmertheit, die diesem Alter gemäß ist. Aber das schönste Glück in diesem Glück erscheint mir, dass sie nicht lügen muss vor den andern, sondern ehrlich sein darf zu sich selbst, ehrlich zu ihrem natürlichen Fühlen und Begehren. Mag sein, dass durch die Unbekümmertheit, mit der die jungen Menschen von heute durch das Leben gehen, ihnen etwas von jener Ehrfurcht vor den geistigen Dingen fehlt, die unsere Jugend beseelte. Mag sein, dass durch die Selbstverständlichkeit des leichten Nehmens und Gebens manches in der Liebe ihnen verlorengegangen ist, was uns besonders kostbar und reizvoll schien, manche geheimnisvolle Hemmung von Scheu und Scham, manche Zartheit in der Zärtlichkeit. Vielleicht sogar, dass sie gar nicht ahnen, wie gerade der Schauer des Verbotenen und Versagten den Genuss geheimnisvoll steigert. Aber all dies scheint mir gering gegenüber der einen und erlösenden Wandlung, dass die Jugend von heute frei ist von Angst und Gedrücktheit und voll genießt, was uns in jenen Jahren versagt war: das Gefühl der Unbefangenheit und Selbstsicherheit.

Universitas Vitae

Endlich war der langersehnte Augenblick gekommen, da wir mit dem letzten Jahr des alten Jahrhunderts auch die Tür des verhassten Gymnasiums hinter uns zuschlagen konnten. Nach mühsam bestandener Schlussprüfung – denn was wussten wir von Mathematik, Physik und den scholastischen Materien? – beehrte uns, die wir zu diesem Anlass schwarze, feierliche Bratenröcke anziehen mussten, der Schuldirektor mit einer schwungvollen Rede. Wir seien nun erwachsen und sollten durch Fleiß und Tüchtigkeit unserem Vaterlande Ehre machen. Damit war eine achtjährige Kameradschaft zersprengt, wenige meiner Gefährten auf der Galeere habe ich seitdem wiedergesehen. Die meisten von uns inskribierten sich an der Universität, und neidvoll blickten uns diejenigen nach, die sich mit anderen Berufen und Beschäftigungen abfinden mussten.

Denn die Universität hatte in jenen verschollenen Zeiten in Österreich noch einen besonderen, romantischen Nimbus; Student zu sein, gewährte gewisse Vorrechte, die den jungen Akademiker weit über alle Altersgenossen privilegierten; diese antiquarische Sonderbarkeit dürfte in außerdeutschen Ländern wenig bekannt und darum in ihrer Absurdität und Unzeitgemäßheit einer Erklärung bedürftig sein. Unsere Universitäten waren meist noch im Mittelalter gegründet worden, zu einer Zeit also, da Beschäftigung mit den gelehrten Wissenschaften als etwas Außerordentliches galt, und um junge Menschen zum Studium heranzulocken, verlieh man ihnen gewisse Standesvorrechte. Die mittelalterlichen Scholaren unterstanden nicht dem gewöhnlichen Gericht, durften in ihren Collegien nicht von den Bütteln gesucht oder belästigt werden, sie trugen besondere Tracht, hatten das Recht, sich ungestraft zu duellieren und waren als eine geschlossene Gilde mit eigenen Sitten oder Unsitten anerkannt. Im Lauf der Zeit und mit der zunehmenden Demokratisierung des öffentlichen Lebens, als alle andern mittelalterlichen Gilden und Zünfte sich auflösten, verlor sich in ganz Europa diese Vorrechtsstellung der Akademiker; nur in Deutschland und in dem deutschen Österreich, wo das Klassenbewusstsein immer über das demokratische die Oberhand behielt, hingen die Studenten zäh an diesen längst sinnlos gewordenen Vorrechten und bauten sie sogar zu einem eigenen studentischen Kodex aus. Der deutsche Student legte sich vor allem eine besondere Art studentischer »Ehre« neben der bürgerlichen und allgemeinen zu. Wer ihn beleidigte, musste ihm »Satisfaktion« geben, das heißt mit der Waffe im Duell entgegentreten, sofern er sich als »satisfaktionsfähig« erwies. »Satisfaktionsfähig« wiederum war nun nach dieser selbstgefälligen Bewertung nicht etwa ein Kaufmann oder Bankier, sondern nur ein akademisch Gebildeter und Graduierter oder ein Offizier – kein anderer unter den Millionen konnte der besonderen Art »Ehre« teilhaftig werden, mit einem solchen bartlosen dummen Jungen die Klinge zu kreuzen. Anderseits musste man, um als »richtiger« Student zu gelten, seine Mannhaftigkeit »bewiesen« haben, das heißt möglichst viele Duelle bestanden haben und sogar die Wahrzeichen dieser Heldentaten als »Schmisse« sichtbar im Gesicht tragen; blanke Wangen und eine nicht eingehackte Nase waren eines echt germanischen Akademikers unwürdig. So sahen sich die Couleurstudenten, das heißt solche, die einer farbentragenden Verbindung angehörten, genötigt, um immer neue »Partien schlagen« zu können, sich gegenseitig und andere völlig friedfertige Studenten und Offiziere unablässig zu provozieren. In den »Verbindungen« wurde auf dem Fechtboden jeder neue Student für diese würdige Haupttätigkeit »eingepaukt« und auch sonst in die Gebräuche des Burschenschaftswesens eingeweiht. Jeder »Fuchs«, das heißt jeder Neuling, wurde einem Corpsbruder zugeteilt, dem er sklavischen Gehorsam zu leisten hatte und der ihn dafür in den edlen Künsten des »Comments« unterwies, die da waren: bis zum Erbrechen zu saufen, einen schweren Humpen Bier in einem Satz bis zur Nagelprobe (bis zum letzten Tropfen) zu leeren, um so glorreich zu erhärten, dass er kein »schlapper Bursche« sei, oder Studentenlieder im Chor zu brüllen und im Gänsemarsch nachts durch die Straßen randalierend die Polizei zu verhöhnen. All das galt als »männlich«, als »studentisch«, als »deutsch«, und wenn die Burschenschaften mit ihren wehenden Flaggen, bunten Kappen und Bändern samstags zum »Bummel« aufzogen, fühlten sich diese einfältigen, durch ihr eigenes Treiben in einen sinnlosen Hochmut getriebenen Jungen als die wahren Vertreter der geistigen Jugend. Mit Verachtung sahen sie auf den »Pöbel« herab, der diese akademische Kultur und deutsche Männlichkeit nicht gebührend zu würdigen verstand.

 

Für einen kleinen Provinzgymnasiasten, der als grüner Junge nach Wien kam, mochte wohl diese Art forscher und »fröhlicher Studentenzeit« als Inbegriff aller Romantik gelten. Noch jahrzehntelang sahen in der Tat die bejahrten Notare und Ärzte in ihren Dörfern weinselig gerührt empor zu den in ihrem Zimmer gekreuzt aufgehängten Schlägern und bunten Attrappen, stolz trugen sie ihre Schmisse als Kennzeichen ihres »akademischen« Standes. Auf uns dagegen wirkte dieses einfältige und brutale Treiben einzig abstoßend, und wenn wir einer dieser bebänderten Horden begegneten, wichen wir weise um die Ecke; denn uns, denen individuelle Freiheit das Höchste bedeutete, zeigte diese Lust an der Aggressivität und gleichzeitige Lust an der Hordenservilität zu offenbar das Schlimmste und Gefährlichste des deutschen Geistes. Überdies wussten wir, dass hinter dieser künstlich mumifizierten Romantik sich sehr schlau berechnete praktische Ziele versteckten, denn die Zugehörigkeit zu einer »schlagenden« Burschenschaft sicherte jedem Mitglied die Protektion der »alten Herren« dieser Verbindung in den hohen Ämtern und erleichterte die spätere Karriere. Von den Bonner »Borussen« führte der einzig sichere Weg in die deutsche Diplomatie, von den katholischen Verbindungen in Österreich zu den guten Pfründen der herrschenden christlich-sozialen Partei, und die meisten dieser »Helden« wussten genau, dass ihre farbigen Bänder ihnen in Hinkunft ersetzen mussten, was sie an eindringlichen Studien versäumt, und dass ein paar Schmisse auf der Stirne ihnen bei einer Anstellung einmal förderlicher sein konnten als was hinter dieser Stirne war. Schon der bloße Anblick dieser rüden militarisierten Rotten, dieser zerhackten und frech provozierenden Gesichter hat mir den Besuch der Universitätsräume verleidet; auch die andern, wirklich lernbegierigen Studenten vermieden, wenn sie in die Universitätsbibliothek gingen, die Aula und wählten lieber die unscheinbare Hintertür, um jeder Begegnung mit diesen tristen Helden zu entgehen.

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Dass ich an der Universität studieren sollte, war im Rate der Familie von je beschlossen gewesen. Aber für welche Fakultät mich entscheiden? Meine Eltern ließen mir die Wahl vollkommen frei. Mein älterer Bruder war bereits in das väterliche Industrieunternehmen eingetreten, demgemäß lag für den zweiten Sohn keinerlei Eile vor. Es handelte sich schließlich doch nur darum, der Familienehre einen Doktortitel zu sichern, gleichgültig welchen. Und sonderbarer Weise war die Wahl mir ebenso gleichgültig. An sich interessierte mich, der ich meine Seele längst der Literatur verschrieben, keine einzige der fachmäßig dozierten Wissenschaften, ich hatte sogar ein geheimes, noch heute nicht verschwundenes Misstrauen gegen jeden akademischen Betrieb. Für mich ist Emersons Axiom, dass gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, dass man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben. Zahllose Male habe ich im praktischen Leben bestätigt gefunden, dass Antiquare oft besser Bescheid wissen über Bücher als die zuständigen Professoren, Kunsthändler mehr verstehen als die Kunstgelehrten, dass ein Großteil der wesentlichen Anregungen und Entdeckungen auf allen Gebieten von Außenseitern stammt. So praktisch, handlich und heilsam der akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich scheint er mir für individuell produktive Naturen, bei denen er sich sogar im Sinn einer Hemmung auszuwirken vermag. Insbesondere an einer Universität wie der unsern in Wien mit ihren sechs- oder siebentausend Studenten, die durch Überfüllung den so fruchtbaren persönlichen Kontakt zwischen Lehrer und Schüler von vornherein hemmte und überdies durch allzugroße Treue zu ihrer Tradition gegen die Zeit zurückgeblieben war, sah ich nicht einen einzigen Mann, der mich für seine Wissenschaft hätte faszinieren können. So wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich am wenigsten beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte. Ich entschloss mich schließlich für Philosophie – oder vielmehr »exakte« Philosophie, wie es bei uns nach dem alten Schema hieß –, aber wahrhaftig nicht aus einem Gefühl innerer Berufung, denn meine Fähigkeiten zu rein abstraktem Denken sind gering. Gedanken entwickeln sich bei mir ausnahmslos an Gegenständen, Geschehnissen und Gestalten, alles rein Theoretische und Metaphysische bleibt mir unerlernbar. Immerhin war hier das rein stoffliche Gebiet am eingeschränktesten, der Besuch von Vorlesungen oder Seminaren in der »exakten« Philosophie am leichtesten zu umgehen. Alles, was nottat, war, am Ende des achten Semesters eine Dissertation einzureichen und eine einzige Prüfung zu machen. So legte ich mir von vornherein eine Zeiteinteilung zurecht: drei Jahre um das Universitätsstudium mich überhaupt nicht bekümmern! Dann in dem einen letzten Jahr in scharfer Anstrengung den scholastischen Stoff bewältigen und irgendeine Dissertation rasch fertigmachen! Dann hatte die Universität mir gegeben, was ich einzig von ihr wollte: ein paar Jahre voller Freiheit für mein Leben und für die Bemühung in der Kunst: universitas vitae.

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Überblicke ich mein Leben, so kann ich mich an wenige so glückliche Augenblicke erinnern wie jene ersten dieser Universitätszeit ohne Universität. Ich war jung und hatte darum noch nicht das Gefühl der Verantwortung, Vollendetes leisten zu müssen. Ich war leidlich unabhängig, der Tag hatte vierundzwanzig Stunden, und alle gehörten mir. Ich konnte lesen und arbeiten, was ich wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft schuldig zu sein, die Wolke der akademischen Prüfung rührte noch nicht an den hellen Horizont, denn wie lang sind drei Jahre gemessen am neunzehnten Lebensjahr, wie reich, wie füllig und wie voll von Überraschungen und Geschenken kann man sie gestalten!

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