Swanns Vergeltung

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From the series: BELOVED #46
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Kapitel 5

Dan atmete tief durch und klopfte an Grahams Tür. Nach dem lausigen Eindruck, den er am Vortag durch seine Verspätung hinterlassen hatte, hatte er ehrlich nicht erwartet, dass Graham ihm einen warmherzigen Empfang bereiten würde. Mit Grahams kaltem, äußerst beherrschtem Auftreten hatte er trotzdem nicht gerechnet. Er hatte angenommen, ein Freund von Terri wäre genau so offen und herzlich wie sie.

»Komm rein.« Grahams befehlsgewohnte Baritonstimme klang geschäftsmäßig.

Statt dass Graham langsam auftaute, wie Terri versprochen hatte, erinnerte sein Benehmen eher an einen Winter in Minnesota. Dans Eindruck von Grahams Büro war derselbe wie am Tag zuvor: Supermans Festung der Einsamkeit, ausgestattet mit Leder und Chrom. Niveauvoll, ohne etwas über Graham preiszugeben. Auf dem Schreibtisch standen keine Familienfotos. Nichts, was auch nur im Entferntesten persönlich war. Sogar die Kunstwerke an den Wänden wirkten kalt.

Graham sah auch gut genug aus, um Superman spielen zu können. Und was für einen Unterschied macht das? Dan hatte niemals vorgehabt, sich mit dem Chef einzulassen. Und nachdem er Graham auf dem Parkdeck hängen gelassen hatte, würde es zu dem, wozu es vielleicht gekommen wäre, todsicher nicht mehr kommen.

»Findet unsere Besprechung immer noch statt?« Dan trat ein.

»Warum sollte sie das nicht?« Abgesehen von der hochgezogenen Augenbraue war Grahams Gesicht ausdruckslos.

So viel zum Thema, einem den Einstieg zu erleichtern. Dan bedachte Graham mit einem Lächeln, das nicht erwidert wurde. Erfahren, wie er war, brauchte er keine Streicheleinheiten. Mit Anwälten wie Graham hatte er in New York oft genug zu tun gehabt. Er hatte gehofft, in North Carolina wären die Dinge vielleicht anders, aber er konnte damit umgehen.

Graham nahm einen Aktenstapel von seinem Schreibtisch und nickte zu dem runden Tisch am Fenster hinüber. »Setz dich.«

»Danke.« Dan nahm Platz.

Graham platzierte die Akten mitten auf dem Tisch und gesellte sich zu ihm. »Benson gegen Crane, Ltd.«, eröffnete er ohne lange Vorrede. »Altersdiskriminierung. Berufung auf den Schutz des Whistleblowers. Flugzeugteilehersteller. Unser Klient ist neunundfünfzig. Das Unternehmen hat finanzielle Probleme. Der Klient behauptet, er hätte seine Sicherheitsbedenken dem Manager mitgeteilt und nichts wäre passiert.«

»Also hat er es eskaliert?«

»Woraufhin sie ihn gefeuert haben«, erklärte Graham. »Er verfügt über eine Menge Aufzeichnungen. Gespräche mit der Geschäftsleitung und der Personalabteilung. Alles dokumentiert.« Grahams Stimme vibrierte vor Leidenschaft.

»Vergleich?«

»Daran arbeite ich, aber ich könnte etwas frisches Blut gebrauchen. Einen anderen Ansatz. Sie mauern.«

Dan war erleichtert, das zu hören. Wenn Graham sich seiner Grenzen bewusst war, gab es vielleicht doch Hoffnung für ihre Zusammenarbeit. Sie könnten es abwechselnd angehen. »Wie lautet das aktuellste Angebot?«

»Fünfzigtausend. Und das nach einem Startangebot von sage und schreibe zehntausend. Wir wollen Schadensersatz in Höhe von fünfhunderttausend plus Lohnnachzahlung. Davon möchte ich mindestens die Hälfte für den Klienten erzielen.« Graham tippte auf eine Akte, die mit Korrespondenz beschriftet war.

»Sie warten ab, wer zuerst blinzelt.«

»Ich hatte schon mit diesem Anwalt zu tun.« Graham nickte kurz. »Über ihn liegen mehr Anwaltsbeschwerden vor, als ich an beiden Händen abzählen könnte. Er kann sich immer herauswinden.«

»Was ist sein Ansatz?«

Grahams Augen wurden schmal. »Eine Zeugin, die behauptet, unser Mandant hätte Firmeneigentum gestohlen.«

»Du glaubst, die Zeugin ist erfunden?«

»Wir konnten sie nicht auftreiben. Die angegebene Adresse bezieht sich auf eine Wohnung in Charlotte, aber der Vermieter gibt an, sie wäre vor ein paar Wochen ausgezogen. Es liegt keine Weiterleitungsadresse vor.«

»Und der gegnerische Anwalt behauptet, sie sind auf der Suche nach ihr.« Die Zeugin existierte wahrscheinlich nicht, aber sie stellte ein großartiges Druckmittel dar.

»Stimmt.«

»Ich hasse Poker.« Dan rieb sich den Nacken. Mit Graham über Fälle zu reden, war wenigstens nicht so anstrengend, wie Small Talk mit ihm zu betreiben.

»Ich bin auch kein großer Fan davon. Besonders nicht von der schmutzigen Sorte. Aber unser Klient ist unruhig.« Kurz flackerte etwas in Grahams Augen auf. Ärger? Er hatte zu viele Kläger erlebt, die sich trotz gut begründeter Ansprüche mit weniger zufriedengaben, als sie sollten. »Seine Frau und er kommen finanziell nur schwer über die Runden. Sie arbeitet als Angestellte in einem Gemischtwarenladen. Sie halten sich gerade so über Wasser, und diese Sache…«

»Könnte erst in mehreren Jahren vor Gericht gehen.« Dan schüttelte den Kopf. »Womit soll ich anfangen?«

»Wir haben einen Privatdetektiv auf die Zeugin angesetzt. Meine Assistentin Sarah gibt dir die Kontaktdaten.«

Eine Viertelstunde später, nachdem sie die wichtigsten Unterlagen zusammen durchgegangen waren, stand Graham auf und streckte sich. »Wasser? Mit oder ohne Kohlensäure?«

»Ein stilles Wasser wäre großartig.« Dan rieb sich den Nacken.

Graham holte zwei Flaschen aus einem kleinen Kühlschrank neben seinem Schreibtisch und stellte Dan eine davon hin.

»Danke.« Dan öffnete die Flasche und trank einen großen Schluck.

»Terri sagt, du beherrschst den Job.«

In Grahams Worten schwang eine Herausforderung mit. Dan war auf der Hut, hatte sich jedoch durch genügend heikle Situationen manövriert, um zu wissen, dass er damit umgehen konnte. »Danke. Ausgehend von dem, was sie mir erzählt hat, geht ihr ähnlich vor wie mein alter Arbeitgeber. Ein paar staatliche Fälle, aber in der Mehrheit solche auf Bundesebene.«

»Wir sind schneller gewachsen als erwartet.« Grahams Stimme vibrierte vor unterschwelligem Stolz. Die Kanzlei existierte seit kaum fünf Jahren, und laut den lokalen Handelsblättern war ihre Erfolgsbilanz in der Region einmalig. »In der nächsten Sitzungsperiode bestreiten wir unsere erste Verhandlung vor dem Verfassungsgericht.«

»Terri hat es erwähnt.«

Graham blickte starr aus dem Fenster. »Ich vertraue Terri, aber die letztendliche Entscheidung, ob wir dir eine Partnerschaft anbieten, liegt ganz allein bei mir.«

»In Ordnung.« Dan holte tief Luft, um die Anspannung aus seiner Magengrube zu vertreiben. Lacey und er kämen auch gut zurecht, wenn dieser Job sich nicht auszahlen sollte. Er hatte das meiste von Benns Lebensversicherung umsichtig investiert.

Aber die Tinte auf dem Kaufvertrag für das Haus war kaum getrocknet, und er wollte nicht unbedingt schon wieder alles einpacken und umziehen. Vor allem nicht, weil Lacey ab Ende des Sommers einen Platz in der Krippe hatte. In der Gegend gab es noch mehr Firmen, die an ihm interessiert sein könnten, aber er bezweifelte, dass eine davon ihm einen ähnlich großzügigen Vertrag anbieten würde. Noch einmal Jahre zu investieren, bis er sich wieder auf Partnerebene hochgearbeitet hatte, war keine Option. Benn und er hatten aus gutem Grund mit der Adoption gewartet, bis er Partner geworden war. Er hatte nicht die Absicht, Lacey seiner Sechzig- oder Siebzig-Stunden-Woche auszusetzen, während er sich noch einmal beweisen musste.

»Ich weiß, dass du in deiner alten Firma den Ton angegeben hast«, fuhr Graham fort. Er hatte sich immer noch nicht umgedreht, was Dan irritierend fand.

»Graham, du musst dich nicht zurückhalten. Ich brauche keine weiche Landung.«

Graham drehte sich um und stellte seine Flasche auf den Tisch. »In Ordnung.« In seiner Wange zuckte ein Muskel, doch ansonsten hielt er seinen Gesichtsausdruck vollkommen unter Kontrolle. Er legte eine Hand auf die Stuhllehne. »Ich bin nicht sehr beeindruckt von deiner Unfähigkeit, pünktlich ins Büro zu kommen. Und das auch noch an deinem ersten Tag.«

»Dafür entschuldige ich mich. Du hast jedes Recht, Pünktlichkeit von mir zu erwarten. Es wird nicht wieder vorkommen.« Jedenfalls hoffte er das.

»Dein Privatleben ist deine Sache«, fuhr Graham unverdrossen fort. »Aber du wirst zweifellos bald feststellen, dass dein New Yorker Lebensstil dir hier Probleme verursachen wird.«

»Zweifellos.« Dan erstickte einen Seufzer. Glaubte Graham etwa, er feierte die Nächte durch? Wahrscheinlich. Aber die Wahrheit ging Graham nichts an. Er war in seinem Leben mit Schlimmerem fertig geworden, als mit dieser Art von Vorurteil. Und er fühlte sich schon lange nicht mehr schuldig, wenn er den Erwartungen anderer nicht entsprach.

»Haben wir uns verstanden?«, erkundigte sich Graham.

»Völlig. Und noch mal, bitte entschuldige.«

»Gut.« Die Spannung in Grahams Schultern ließ sichtbar nach. »Mehr muss in der Angelegenheit nicht gesagt werden.« Er griff nach einer anderen Akte. »Lass uns weiterarbeiten.«

Kapitel 6

»Du da drinnen, lebst du noch?« Terri steckte ein paar Minuten nach sechs den Kopf in Grahams Büro.

»Soweit ich weiß, schon.«

»Autsch.« Sie kam herein und setzte sich auf die Schreibtischkante. »Sind wir ein bisschen angespannt?«

»Bietest du mir eine Schultermassage an?«, konterte er.

»Ist das eine Schwachstelle in deiner Rüstung?« Sie glitt vom Tisch und begann, ihm die Schultern zu massieren.

Er seufzte. »Möglicherweise habe ich etwas überreagiert.« Ihr konnte er seine Fehler ohne Angst eingestehen. Sie würde sie niemals gegen ihn verwenden.

»Möglicherweise?«

»Gegenüber dem Neuen.«

»Du meinst Dan?«, hakte sie mit einem kaum unterdrückten Grinsen auf den Lippen nach. Sie liebte es, ihm mehr Details zu entlocken. »Was hast du zu ihm gesagt?«

 

Er lehnte den Kopf zurück und sah sie an. Er hatte sich wie ein Arschloch benommen. »Kann sein, dass ich angedeutet habe, er soll seinen Lebensstil ändern.«

»Du… Was? Das hast du nicht wirklich gemacht, Graham.« Sie stach ihm die Daumen so fest in den Rücken, dass er zusammenzuckte.

»Er ist an seinem ersten Tag zu spät gekommen, Terri.« Er mochte überreagiert haben, aber Unpünktlichkeit war nun einmal inakzeptabel.

»Und wenn er einen guten Grund dafür hatte?«

»Dann hat er ihn nicht erwähnt.« Allerdings hatte er sich entschuldigt.

»Würdest du dich weniger ärgern, wenn er dir eine Entschuldigung geliefert hätte?«

Er runzelte die Stirn.

»Er ist erwachsen und ein Profi, und du hasst solchen Schwachsinn«, fuhr sie fort. »Warum nicht im Zweifel für den Angeklagten?«

»Ich gebe mein Bestes.« Warum ließ er nur zu, dass Dan ihm so unter die Haut ging?

Sie widmete sich wieder seinen Schultern. »Du solltest ihn besser kennenlernen. Warum lädst du ihn nicht mal nach der Arbeit auf einen Drink ein?«

Seine Schultern verspannten sich erneut. Er wollte nicht darüber nachdenken, wie eine Verabredung mit Dan auf ein paar Drinks wohl ausgehen würde.

»Möchtest du darüber sprechen?« An der neu hinzugekommenen Anspannung hatte sie viel zu kneten.

»Da gibt es nichts zu reden.« Sie hatte schon unzählige Male versucht, ihn dazu zu bringen, ihr gegenüber offener über sein Privatleben zu sprechen. So war es sicherer.

»In Ordnung. Wie wäre es dann, wenn ich dich heute Abend auf einen Drink einlade? Das letzte Mal ist Wochen her. Ich zahle.«

»Ich…«, setzte er an, änderte seine Meinung dann jedoch. »Klar.« Er vermisste ihre wöchentlichen Happy Hours in der Landmark Tavern. »Aber ich habe nicht viel Zeit.«

»Heißes Date?«

Er runzelte die Stirn. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte sie nie aufgegeben, ihn davon überzeugen zu wollen, dass er mehr vom Leben verlangen sollte.

»In Ordnung. Schätze, das war's für heute.« Sie nahm die Hände von seinen Schultern und ging zur Tür.

»Danke für die Massage.«

Sie lachte und winkte ihm zu, als sie das Büro verließ. »Ich hole dich später ab.«

Graham hatte gerade seine Anzugjacke angezogen, als Dan um kurz vor halb sieben den Kopf in sein Büro steckte. »Feierabend?«

Dan nickte. »Dachte, ich bringe dir die hier vorher noch vorbei.« Er legte einen Stapel Unterlagen auf Grahams Sideboard ab.

»Der Privatdetektiv hat etwas zutage gefördert.«

»Jepp. Und ich habe selbst ein bisschen recherchiert.« Dan grinste und tippte auf den Stapel. Seine Augen erschienen plötzlich blauer.

Schon auf der Highschool war er attraktiv gewesen, aber jetzt sah er noch viel besser aus. Leicht unordentlich gestuftes, rotbraunes Haar und ein Fünf-Uhr-Nachmittags-Bartschatten hatten den Bürstenhaarschnitt von damals ersetzt. Dans schlanker Körper hatte an all den richtigen Stellen Muskelmasse zugelegt, angefangen bei seinen muskulösen Oberschenkeln über seinen Arsch bis hin zu seinen starken Unterarmen.

Graham verspürte einen plötzlichen Drang zur Flucht. Schlimm genug, dass er in der Nacht zuvor einen Albtraum davon gehabt hatte, zurück an der Highschool zu sein. Todsicher würde er jetzt nicht anfangen, sich in Fantasien über den Typen zu ergehen.

»Können wir morgen besprechen, was der Privatdetektiv herausgefunden hat?«, erkundigte er sich. »Ich muss wirklich los.« Ich muss hier raus, bevor ich etwas tue oder sage, das ich bereuen werde.

»Klar. Morgen ist in Ordnung. Hab einen schönen Abend.«

Graham ging die drei Blocks zu Jay's, seiner bevorzugten Aufrissbar, zu Fuß. Die drei – oder waren es vier? – Drinks mit Terri hatten ihre Aufgabe erfüllt. Er fühlte sich gut. Sogar besser als gut.

Sein Körper vibrierte im Rhythmus des Basses, als er sich an die Bar setzte. »Scotch. Pur.«

Der Barkeeper, Jake, nickte und zwinkerte ihm zu. Kurz nachdem Graham nach Raleigh gezogen war, hatten sie eine Nacht miteinander verbracht. Danach hatte Jake sich mit ihm verabreden wollen, aber dafür war er zu sehr mit seiner aufstrebenden Anwaltskanzlei beschäftigt gewesen. Nun war Jake nicht mehr als ein freundliches Gesicht.

Graham war es lieber so.

Der Blonde zu seiner Linken beugte sich zu ihm herüber. »Tanzen?«

Graham nahm einen großen Schluck von seinem Drink, erwiderte den Blick des Blonden und nickte. Zu Paradise by the Dashboard Light betraten sie die Tanzfläche. Früher war das einer der Lieblingssongs seiner Mutter gewesen.

Ein paar Stammgäste beobachteten sie beim Tanzen. Graham konnte nicht nachvollziehen, was sie in ihm sahen, aber es kümmerte ihn auch nicht wirklich. Er kam aus einem einzigen Grund hierher – darüber log er sich nie etwas vor.

»Zu dir oder zu mir?«, fragte der Blonde – Collin – eine Stunde später nach einer weiteren Runde Drinks.

»Zu mir.«

Ein Dunstschleier aus Hitze und Luftfeuchtigkeit erwartete sie, als sie den Club verließen. Grahams Shirt klebte ihm an der Brust. Egal. In ein paar Minuten wären sie in seiner Wohnung und er würde die Klamotten sowieso ausziehen.

Collin war nicht sein Typ, aber seine blauen Augen hatten Graham an das nachmittägliche Gespräch mit Dan und einen Vorfall vor fünfzehn Jahren erinnert. Ein paar der gemeineren von den beliebten Mädchen hatten Laurie, die Neue, in die Ecke gedrängt. Sie hatten sich ihre Tasche geschnappt und den Inhalt quer durch den Flur verteilt. Und nachdem sie gackernd von dannen gezogen waren, hatte Danny sich neben Laurie hingekniet und gesagt: »Na komm, lass mich dir helfen.«

Seine Augen waren so unglaublich blau gewesen. Und als er hinzufügte: »Mach dir nichts draus«, und dabei sein strahlendes, sorgloses Lächeln aufblitzen ließ, hatte Jimmy sich gewünscht, er wäre an Lauries Stelle.

Graham verbannte das Bild von Dans Gesicht aus seinen Gedanken. Neben ihm ließ Collin sich über das Footballteam von Carolina aus und darüber, wie er Saisontickets abgestaubt hatte, weil sein Vater ein großzügiger Spender war.

»Planänderung«, verkündete Graham.

»Was?« Collin starrte ihn an.

»Ich bin müde«, log Graham. »Ist einfach nicht meine Nacht.«

»Ach, jetzt komm. Vor ein paar Minuten schienst du noch ganz bei der Sache zu sein.«

»Tut mir leid.« Graham lächelte ihn ausdruckslos an. »Vielleicht ein andermal.«

Collin schüttelte den Kopf und machte sich auf den Rückweg zur Bar. Graham griff in seine Hosentasche und zog den Schlüsselanhänger heraus, der ihm Zutritt zum Gebäude verschaffte. Er hatte keine Erklärung dafür, aber er war einfach nicht in der Stimmung.

Kapitel 7

»Sie haben was?«, knurrte Graham in den Hörer.

»Sie haben eine einstweilige Verfügung beantragt«, erklärte Kara, Grahams Rechtsanwaltsgehilfin, in ihrem beruhigendsten Tonfall. »Sie behaupten, Ms. Carter wäre an eine Wettbewerbsklausel gebunden, und sie streben ein vorübergehendes Kontaktverbot an. Kam heute mit der Post.«

Von der Wettbewerbsklausel hatte Graham gewusst. Zog man das Staatsgesetz heran, war sie wahrscheinlich nicht durchsetzbar – dafür waren Umfang und Geltungsbereich zu weit gefasst. Das hatte er mit Petra Carter besprochen, als er ein halbes Jahr zuvor zugestimmt hatte, sie zu vertreten. Er hatte sie sogar Terri gezeigt, die bezüglich seiner Analyse einer Meinung mit ihm gewesen war.

»Sag Vanessa, dass ich in dieser Sache ihre Hilfe brauche«, ordnete Graham an. Sie mussten ihre Antwort schnell einreichen und zusehen, dass der Fall auf der Prozessliste nach oben rutschte. Das Letzte, was Graham wollte, war, dass Petras künftiger Arbeitgeber aus Angst vor einer Klage ihre Übereinkunft brach.

»Sie ist bis zum Wochenende in Virginia mit Amtsenthebungen beschäftigt«, erklärte Kara. »Soll ich ihr sagen, dass sie den Rest auf andere Termine verschieben soll?«

»Nein. Ich finde schon jemand anderen, der mich dabei unterstützt.« Graham holte tief Luft und zwang sich, die Schultern zu entspannen. Terri hatte recht. Er kam mit neuen Manövern in letzter Minute schlecht zurecht. Besonders, wenn er wusste, dass der Ansatz schwachsinnig war. Mit den Anwälten von Camcorp hatte er bereits zweimal zu tun gehabt. Und obwohl er Fälle vertreten hatte, bei denen sich die Zusammenarbeit mit den gegnerischen Anwälten mehr als unerfreulich gestaltet hatte, stellte Brad Muldoon von Ferguson & Muldoon sie alle in den Schatten.

Verdammte Schlange. Da Richter Winston dem Fall zugeteilt worden war, brauchten sie jemanden, der die Probleme ganz ruhig erklären konnte. Winston war nicht der Hellste, aber er war mit voller Aufmerksamkeit bei der Sache. Muldoon würde alles in seiner Macht Stehende tun, um Graham auf die Palme zu bringen, und er war der einzige Anwalt, dem das immer wieder gelang. Graham argumentierte nicht so gut wie sonst, wenn er angepisst war.

Nein, er brauchte jemanden, der besser einen kühlen Kopf bewahren konnte als er selbst. Jemanden, der Muldoon nicht an sich heranlassen würde.

»Graham?«

»Entschuldige.« Er war so in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er Kara am anderen Ende der Leitung ganz vergessen hatte.

»Terri hat erwähnt, dass Dan Parker schon Fälle bearbeitet hat, in denen es um Wettbewerbsklauseln ging. Soweit ich das sehe, hat er in dieser Woche noch keine Termine.«

»Gut.« Dan war zwar die letzte Person, mit der er Zeit verbringen wollte, aber er führte diese Kanzlei nicht, damit er auf seine persönlichen Launen und Ängste eingehen konnte. Er würde tun, was für seine Klienten am besten war, und solange Dan sich fügte, würde Graham ihn nicht mit einem Tritt in den Hintern rauswerfen. »Sag ihm, er soll in mein Büro kommen, und bring die Unterlagen zur Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung mit.«

»Mach ich.«

Er legte auf und atmete noch einmal tief durch. Als es an der Tür klopfte, hatte er ein Dutzend E-Mails gesichtet und die Hälfte gelöscht.

»Herein.« Er sah auf und erblickte Dan, der Kara die Tür aufhielt. Dan hatte sich seiner üblichen Krawatte entledigt und den Kragen aufgeknöpft. Beim Anblick des kleinen Flecken Hauts musste Graham tief Luft holen, um ruhig zu bleiben.

Konzentrier dich.

»Bitte sehr.« Sie reichte ihm und Dan eine Kopie des Antrags auf die einstweilige Verfügung. »Ich fange mit der Stellungnahme an. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas brauchen.«

»Danke, Kara.« Graham wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte.

»Wirkt ziemlich direkt«, meinte Dan, nachdem er den Antrag durchgeblättert hatte. »Gibt es noch etwas, das ich über den Fall wissen müsste, bevor ich mich hineinstürze?« Er setzte sich an den Tisch.

»Wir haben eine Schadensforderung wegen eines feindseligen Arbeitsumfelds eingereicht. Camcorp entwickelt medizinische Geräte. Unsere Klientin ist seit fast einem Jahr arbeitslos.«

»Anspruch wegen Altersdiskriminierung?«

Graham nickte und nahm neben ihm Platz. »Petra ist einundsechzig. Sie war Managerin. Ganz oben auf der Gehaltsskala. Sie betreute einige innovative Spitzenprojekte. Als Camcorp vor drei Jahren von Stellertek aufgekauft wurde, fingen sie an, ihr diese wegzunehmen. Erst nur ein paar kleine Dinge, dann mehr und mehr, bis ihr nichts mehr blieb. Ihre Projekte leitet jetzt jemand mit nur halb so viel Erfahrung.«

»Der nur halb so viel verdient.« Dan fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wodurch ihm eine besonders widerspenstige Locke in die Stirn fiel. Ihm so nahe zu sein, weckte in Graham den Wunsch, die Hand auszustrecken und sie zurückzustreichen. Oder vielleicht auch dieses seidige Haar noch mehr zu verwuscheln…

Graham lächelte und gab vor, seine eigene Kopie der Dokumente durchzusehen. »Einige andere Langzeitangestellte haben sich über dieselbe Behandlung beschwert. Gerüchte besagen, die Firma versuche, Kosten einzusparen. Petra hat letztendlich gekündigt. Sie ist mit einem Magengeschwür im Krankenhaus gelandet, weil sie sich Sorgen darüber macht, wie sie die Collegegebühren ihrer Kinder bezahlen soll.«

Dan schüttelte den Kopf. »Und die anderen Angestellten?«

»Haben eine geheime Abfindungsvereinbarung akzeptiert«, erwiderte Graham. »Wahrscheinlich über ein halbes Jahresgehalt. Wir haben von Anfang an um Offenlegung gekämpft. Petra meint, irgendwo gäbe es ein Memo, das detailliert auf die Notwendigkeit zur Kosteneinsparung eingeht.«

 

»Aber sie behaupten, es würde nicht existieren?«

»Natürlich.« Graham seufzte.

»Warum dann ich?«

Immer direkt zum Punkt. Das mochte Graham an Dan. »Der gegnerische Anwalt ist ein Arschloch. Und ich…« Besser, er sagte es gleich und hatte es hinter sich. »Lass uns einfach sagen, wir sind ein paarmal aneinandergeraten.«

»Er drückt die richtigen Knöpfe bei dir.« Dans Gesichtsausdruck war verständnisvoll, aber nicht urteilend.

»Das könnte man so sagen.« Graham verkniff sich ein Grinsen. Dass Dan so schnell die richtigen Schlüsse zog, mochte er auch. »In der Vergangenheit ist mir das zugutegekommen. Diesmal haben wir es jedoch mit einem anderen Richter zu tun.«

»Verstanden. Womit fangen wir also an?«

Sie waren um sechs mit der Stellungnahme fertig. Graham hatte erwartet, dass es länger dauern würde, aber Dan hatte die Aufgabe wie ein Profi erledigt.

»Danke für deine Hilfe«, sagte Graham, nachdem sie den Schriftsatz an eine der Rechtsanwaltsgehilfinnen übergeben hatten.

»Gern geschehen.« Dan klappte den Laptop zu und schob ihn in seinen Aktenkoffer. Dann zog er sein Handy hervor, las eine Nachricht und lächelte. »Ich mache mich besser auf den Weg.«

»Pläne fürs Abendessen?«, erkundigte Graham sich.

»Das könnte man so sagen.« Dan steckte das Handy weg und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Grahams Magen zog sich zusammen. Warum zum Teufel kümmerte es ihn überhaupt, was Dan nach der Arbeit tat? Doch er konnte den Gedanken daran, dass zu Hause jemand auf Dan wartete, einfach nicht abschütteln.

»Wir sehen uns morgen«, verabschiedete sich Dan, bevor Graham etwas erwidern konnte.

»Bis morgen.« Graham drehte sich zu seinem Computer um und öffnete das Mailprogramm.

»Graham?«

Graham sah nicht auf. »Ja?«

»Ach, nichts«, meinte Dan. »Hab noch einen schönen Abend.«

»Mhm.«

Graham wartete, bis die Bürotür ins Schloss fiel, bevor er den Kopf hob. Dan Parker mochte ein kompetenter Anwalt sein, aber Graham hatte kein Interesse daran, sein Freund zu werden.

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