Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Der Junge konnte sich eines Lachens nicht enthalten, als er sah, wie gewürfelt alles war.

Aber als die wilden Gänse hörten, daß er lachte, riefen sie gleichsam tadelnd: »Fruchtbares, gutes Land. Fruchtbares, gutes Land.«

Der Junge war schon wieder ernsthaft geworden. »Daß du lachen kannst!« dachte er, »du, dem das Allerschrecklichste widerfahren ist, was einem Menschen widerfahren kann!«

Er hielt sich eine Weile ernsthaft, bald mußte er aber wieder lachen.

Allmählich, als er sich an den Sitz und die Fahrt gewöhnt hatte, so daß er an etwas anderes denken konnte, als nur daran, wie er sich auf dem Rücken des Gänserichs festhalten sollte, fiel es ihm auf, wie voll die Luft von Vogelscharen war, die nordwärts flogen. Und da war ein Schreien und Rufen von einem Schwarm zum andern. »Also ihr seid heute auch übers Wasser gekommen,« riefen einige. – »Ja, das sind wir,« antworteten die Gänse. »Wie denkt ihr, daß es mit dem Frühling steht?« – Nicht ein Blatt an den Bäumen und kaltes Wasser in den Seen,« lautete die Antwort.

Wenn die Gänse über einen Ort dahinflogen, wo zahmes Federvieh draußen war, riefen sie: »Wie heißt der Hof? Wie heißt der Hof?« Und der Hahn machte einen langen Hals und antwortete: der Hof heißt Kleinhof, heut wie vorm Jahr, heut wie vorm Jahr.«

Die meisten Häuser hatten ja ihren Namen nach dem Besitzer, wie das in Schonen Sitte und Gebrauch ist, aber statt zu antworten, daß es Per Matssons oder Ola Bossons Haus sei, gaben ihnen die Hühner andere Namen, die sie passend fanden. Hähne, die auf ärmliche Anwesen der Häuslereien gehörten, riefen: »Dieser Hof heißt Grützlos.« Und andere, die zu den allerärmsten Hütten gehörten, riefen: »Dies Haus heißt: Kauewenig, Kauewenig, Kauewenig.«

Die großen, wohlhabenden Bauernhöfe bekamen seine Namen von den Hühnern, wie Glücksfeld, Eierberg und Geldheim.

Aber die Hähne auf den Rittergütern waren viel zu hochmütig, um sich etwas Amüsantes auszudenken. Einer von ihnen krähte und schrie mit einer Kraft, als wolle er, daß man ihn ganz bis zur Sonne hinauf hören sollte: »Dies ist das Rittergut Dybeck. Heut wie vorm Jahr. Heut wie vorm Jahr.«

Und ein wenig weiter hin stand einer und rief: »Dies ist Svaneholm. Das muß doch Gott und alle Welt wissen.«

Der Junge beobachtete, daß die Gänse nicht geradeaus flogen. Sie schwebten hierhin und dorthin über die ganze schonensche Ebene, als freuten sie sich, wieder da zu sein und hätten die größte Lust, jedes einzelne Gehöft zu besuchen.

Sie kamen an eine Stelle, wo einige mächtige Gebäude mit hohen Schornsteinen und rings um sie herum eine Menge kleinerer Häuser lagen. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik,« riefen die Hähne. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik.«

Der Junge schrak zusammen. Den Ort sollte er doch wohl kennen. Der lag nicht weit von seinem Heim, und im letzten Jahr hatte er dort als Hirtenbube gedient. Aber es schien, als wenn nichts sich so recht gleich sah, wenn man es so von oben betrachtete.

Aber nein, aber nein! Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads, die im vorigen Jahr seine Kameraden waren. Der Junge hätte gern gewußt, ob sie noch dort waren. Was würden sie wohl sagen, wenn sie ahnten, daß er hoch oben über ihrem Kopf dahinflog?

Dann verloren sie Jordberga aus den Augen und flogen auf Svedala und Skabersjö zu und zurück über das Börringer Kloster und Häkkeberga. Der Junge bekam an dem einen Tage mehr von Schonen zusehen, als während aller der Jahre, die er gelebt hatte.

Wenn die wilden Gänse zahme Gänse antrafen, amüsierten sie sich am allerbesten. Dann flogen sie ganz langsam und riefen hinab: »Jetzt geht es in die Berge. Wollt ihr mit? Wollt ihr mit?«

Aber die zahmen Gänse antworteten: »Es ist noch Winter. Ihr seid zu früh draußen. Kehrt um! Kehrt um!«

Die wilden Gänse flogen tiefer hinab, so daß man sie besser hören konnte, und riefen: »Kommt mit, dann wollen wir euch fliegen und schwimmen lehren.«

Dann wurden die zahmen Gänse böse und antworteten nicht mehr mit einem einzigen »Gack«.

Aber die wilden Gänse flogen noch tiefer hinab, so daß sie fast den Boden streiften, und dann stiegen sie wieder langsam, als seien sie sehr bange geworden. »Uha, uha!« riefen sie. »Das waren gar keine Gänse. Das waren nur Schafe. Das waren nur Schafe.«

Die Gänse auf dem Felde gerieten ganz außer sich und schrien: »Möchtet ihr erschossen werden, alle miteinander, alle miteinander!«

Wenn der Junge alle diese Scherze hörte, lachte er. Aber dann mußte er daran denken, welch ein Unglück er über sich selbst gebracht hatte, und dann weinte er. Aber nach einer Weile lachte er wieder.

Nie zuvor hatte er sich mit einer solchen Geschwindigkeit vorwärts bewegt, und er hatte doch immer so gern schnell und wild reiten mögen. Und er hatte natürlich nie geahnt, daß es da oben in der Luft so frisch sein konnte, wie es war, und daß ein so herrlicher Geruch von fetter Erde und Harz vom Erdboden aufstieg. Und er hatte auch gar nicht darüber nachgedacht, wie es wohl sein müßte, wenn man sich so hoch oben in der Luft bewegte. Aber es war, als flöge man fort von allem Leid und allen Sorgen und Verdrießlichkeiten, die man sich nur denken konnte.

II. Akka von Kebnekajse

Der Abend.

Der große, zahme Gänserich, der mit in die Luft aufgestiegen war, fühlte sich sehr stolz, so mit den wilden Gänsen über Schonen hin und her zu fliegen und mit den zahmen Vögeln Scherz zu treiben. Aber wie glücklich er auch war, konnte er nicht umhin, am Nachmittag müde zu werden. Er versuchte, tiefer zu atmen und stärker mit den Flügeln zu schlagen, aber trotzdem blieb er mehrere Gänselängen hinter den andern zurück.

Als die wilden Gänse, die zu hinterst flogen, merkten, daß die zahme nicht mitkommen konnte, riefen sie der Gans, die an der Spitze des Keiles flog und den Zug anführte, zu: »Akka von Kebnekajse! Akka von Kebnekajse!« – »Was wollt ihr von mir?« fragte die Führergans. – »Der Weiße bleibt zurück. Der Weiße bleibt zurück.« – »Sagt ihm, daß es leichter ist, schnell zu fliegen als langsam!« rief die Führergans und streckte die Flügel wie bisher.

Der Gänserich versuchte, dem Rat zu folgen und die Schnelligkeit zu erhöhen, davon wurde er aber so ermattet, daß er ganz bis zu den gestutzten Weiden hinabsank, die Äcker und Wiesen einfriedigten.

»Akka! Akka! Akka von Kebnekajse!« riefen von neuem die, die zu hinterst flogen und sahen, wie schwer es für den Gänserich war. – »Was wollt ihr denn schon wieder?« fragte die Führergans und schien sehr verstimmt.

»Der Weiße sinkt auf die Erde nieder. Der Weiße sinkt auf die Erde nieder.« – »Sagt ihm, daß es leichter ist, hoch zu fliegen als niedrig!« rief die Führergans. Und sie mäßigte ihre Geschwindigkeit nicht im geringsten, sondern streckte die Flügel wie bisher.

Der Gänserich versuchte auch diesen Rat, als er aber in die Höhe aufsteigen wollte, wurde er so atemlos, daß es war, als müsse ihm die Brust zerspringen.

»Akka! Akka!« riefen dann die, die zu hinterst flogen. – »Könnt ihr mich denn nicht in Frieden fliegen lassen?« fragte die Führergans und tat noch ungeduldiger als vorhin. – »Der Weiße ist nahe daran, herunterzustürzen. Der Weiße ist nahe daran, herunterzustürzen.« – »Sagt ihm, daß, wer nicht mit der Schar folgen kann, am besten wieder heimkehrt!« rief die Führergans. Und es kam ihr nicht im geringsten in den Sinn, die Geschwindigkeit zu mäßigen, sondern sie streckte die Flügel wie bisher.

»Steht es so!« sagte der Gänserich. Es ward ihm plötzlich klar, daß die wilden Gänse nie daran gedacht hatten, ihn mit nach Lappland hinaufzunehmen. Sie hatten ihn nur des Scherzes halber mitgelockt.

Nein, wie er sich ärgerte, daß ihn die Kräfte jetzt im Stich ließen, so daß er den Landstreichern nicht zeigen konnte, daß eine zahme Gans auch zu etwas zu gebrauchen ist. Und das allerärgerlichste war, daß er in Akka von Kebnekajses Schar hineingeraten war. Denn wenn er auch nur eine zahme Gans war, hatte er doch von einer Führergans gehört, die Akka hieß und fast hundert Jahre alt war. Sie war so angesehen, daß sich die besten wilden Gänse, die es nur gab, ihr anzuschließen pflegten. Niemand aber verachtete zahme Gänse so sehr wie Akka und ihre Schar, und er hätte ihr gern gezeigt, daß er ihnen ebenbürtig sei.

Er flog langsam hinter den andern drein, während er sich mit sich selbst beriet, ob er umkehren oder weiterfliegen sollte. Da sagte plötzlich der kleine Knirps, den er auf dem Rücken hatte: »Lieber Gänserich Martin, du kannst doch wohl begreifen, daß es für dich, der du nie geflogen hast, unmöglich ist, mit den wilden Gänsen ganz bis nach Lappland hinaufzukommen. Willst du nicht lieber umkehren, ehe du dich ganz zuschanden machst?«

Aber der Gänserich kannte nichts Schlimmeres als diesen Häuslerjungen, und kaum ward es ihm klar, daß der armselige Bursche ihm nicht zutraute, die Reise zurücklegen zu können, als er sich auch schon entschloß, auszuhalten. »Sagst du noch ein Wort davon, so schmeiße ich dich in die erste Mergelgrube, über die wir hinfliegen,« sagte er, und im selben Augenblick verlieh ihm der Zorn solche Kräfte, daß er fast ebenso gut fliegen konnte wie irgendeine von den andern.

Er hätte jedoch kaum so weiter fliegen können, aber das tat auch nicht nötig, denn jetzt sank die Sonne schnell, und gerade bei Sonnenuntergang nahmen die Gänse den Kurs abwärts. Und ehe der Junge und der Gänserich sich's versahen, waren sie an das Ufer des Bombsees niedergeschwebt.

»Es scheint die Absicht zu sein, daß wir hier übernachten,« dachte der Junge und hüpfte von dem Rücken des Gänserichs herunter.

Er stand an einem schmalen Sandufer und vor ihm lag ein ziemlich großer See. Der war häßlich anzusehen, denn er war fast ganz mit einer Eiskruste bedeckt, die schmutzig und uneben und voller Risse und Löcher war, so, wie das Eis im Frühling ist. Das Eis hatte scheinbar seine längste Zeit gesehen, drinnen am Lande hatte es sich schon gelöst und ringsherum hatte es einen breiten Gürtel von schwarzem, blankem Wasser. Aber noch lag es da und verbreitete Kälte und winterliche Unheimlichkeit um sich.

 

An der andern Seite des Sees schien es hell und frei und bebaut zu sein, aber da, wo sich die Gänse niedergelassen hatten, war eine große Tannenschonung. Und es sah so aus, als wenn der Tannenwald imstande wäre, den Winter festzuhalten. An allen andern Stellen war der Boden frei von Schnee, aber unter den dichten Tannenzweigen lag Schnee, der geschmolzen war und wieder gefroren, geschmolzen und gefroren, bis er hart war wie Eis.

Dem Jungen war es, als sei er in eine Wildnis, in ein Winterland gekommen, und ihm ward so unheimlich zumute, daß er gern laut geschrien hätte.

Er war hungrig. Er hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen. Aber woher sollte er Essen bekommen? Im Monat März wächst nichts Eßbares weder an der Erde noch an den Bäumen.

Ja, wo sollte er Essen herbekommen, und wer würde ihm ein Dach über dem Haupte geben, und wer würde ihm sein Bett machen, und wer würde ihn an seinem Feuer erwärmen, und wer würde ihn gegen wilde Tiere beschützen?

Denn jetzt war die Sonne fort, und die Kälte stieg vom See herauf, und die Finsternis senkte sich vom Himmel herab, und die Angst kam in den Spuren der Dämmerung geschlichen, und im Walde fing es an zu pusseln und zu rascheln.

Jetzt war es vorbei mit dem frischen Mut, den der Junge gehabt hatte, während er oben in der Luft war, und in seiner Angst sah er sich nach seinen Reisegefährten um. Er hatte ja sonst niemand, an den er sich halten konnte.

Da entdeckte er, daß es mit dem Gänserich noch schlimmer stand als mit ihm. Er war an demselben Fleck liegen geblieben, wo er hinabgeschwebt war, und es sah so aus, als wenn er im Begriff war zu sterben. Der Hals lag schlaff an der Erde, die Augen waren geschlossen, und sein Atmen war nur noch ein schwaches Röcheln.

»Lieber Gänserich Martin,« sagte der Junge, »du mußt versuchen, einen Trunk Wasser zu nehmen! Es sind kaum zwei Schritt bis an den See hinab.«

Aber der Gänserich rührte sich nicht.

Der Junge war ja früher hart gegen alle Tiere gewesen, auch gegen den Gänserich, aber jetzt fand er, daß Martin die einzige Stütze war, die er hatte, und er war schrecklich bange, ihn zu verlieren. Er machte sich sofort daran, ihn zu schieben und zu stoßen, um ihn ans Wasser hinabzubefördern. Der Gänserich war groß und schwer, daher war es ein hartes Stück Arbeit für den Jungen, aber schließlich gelang es ihm.

Der Gänserich kam kopfüber in den See hinein. Einen Augenblick lag er regungslos im Schlamm, aber bald steckte er den Kopf heraus, schüttelte das Wasser aus den Augen und prustete. Dann schwamm er stolz zwischen dem Röhricht und den Rohrkolben dahin.

Die wilden Gänse lagen schon vor ihm draußen im See. Sie hatten sich weder nach dem Gänserich noch nach dem Gänsereiter umgesehen, sondern sich sofort ins Wasser gestürzt. Sie hatten gebadet und sich geputzt, und nun lagen sie da und schlabberten halbverfaultes Entengrün in sich hinein.

Der weiße Gänserich war so glücklich, einen kleinen Barsch zu erblicken. Er schnappte ihn schnell auf, schwamm damit ans Ufer und legte ihn vor den Jungen hin. »Den sollst du zum Dank dafür haben, daß du mir ins Wasser hineinhalfst,« sagte er.

Das war das erstemal im Laufe des ganzen Tages, daß der Junge ein freundliches Wort hörte. Er war so erfreut, daß er Lust hatte, dem Gänserich um den Hals zu fallen, aber er konnte sich doch nicht dazu entschließen. Und auch über das Geschenk freute er sich. Zuerst meinte er, es sei unmöglich, rohen Fisch zu essen, aber dann bekam er doch Lust, den Versuch zu machen.

Er fühlte nach, ob er sein Dolchmesser mitbekommen hatte, und glücklicherweise hing es noch an dem Hosenknopf, aber es war freilich so klein geworden, daß es nicht größer war als ein Streichholz. Nun, er konnte es auf alle Fälle gebrauchen, um den Fisch auszunehmen und die Schuppen zu entfernen, und der Barsch war schnell verzehrt.

Als der Junge gut gesättigt war, überkam ihn ein Gefühl der Scham, daß er etwas hatte essen können, was roh war. »Es scheint wirklich, als ob ich kein Mensch mehr bin, sondern ein richtiger Kobold,« dachte er bei sich.

Die ganze Zeit, während der Junge aß, blieb der Gänserich neben ihm stehen, und als er den letzten Bissen heruntergeschluckt hatte, sagte er mit schwacher Stimme: »Wir haben uns ja mit einem wilden Gänsevolk eingelassen, das alle zahmen Vögel verachtet.« – »Das habe ich freilich auch schon bemerkt,« sagte der Junge. – »Es würde sehr ehrenvoll für mich sein, wenn ich ganz bis nach Lappland hinauf mit ihnen fliegen und ihnen zeigen könnte, daß eine zahme Gans doch auch zu etwas taugt.« – »Hm, ja,« sagte der Junge ein wenig zögernd, denn er glaubte nicht, daß der Gänserich das würde durchführen können, aber er wollte ihm nicht widersprechen. – »Aber ich glaube nicht, daß ich mich allein auf einer solchen Reise zurechtfinden kann,« sagte der Gänserich, »deshalb möchte ich gern wissen, ob du nicht mit mir kommen und mir helfen willst.«

Der Junge hatte natürlich gar nichts anderes gedacht, als daß er so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückkehren wollte, und er war so überrascht, daß er gar nicht wußte, was er antworten sollte. »Ich glaubte, wir wären gar keine guten Freunde,« sagte er. Aber das schien der Gänserich ganz vergessen zu haben. Das einzige, was er noch wußte, war, daß der Junge ihm vor einem Augenblick das Leben gerettet hatte.

»Ich muß wohl zu Vater und Mutter zurück,« sagte der Junge. – »Ja, zum Herbst will ich dich zu ihnen zurückbringen,« entgegnete der Gänserich. »Ich will dich nicht verlassen, ehe ich dich daheim auf die Türschwelle niedergesetzt habe.«

Der Junge dachte, daß es am Ende ganz gut sei, wenn er sich den Eltern eine Weile noch nicht zu zeigen brauchte. Der Vorschlag schien ihm gar nicht so übel, und er wollte gerade sagen, daß er darauf einginge, als er hinter sich einen großen Lärm hörte. Es waren die wilden Gänse, die alle auf einmal aus dem See heraufgekommen waren und das Wasser abschüttelten. Dann stellten sie sich in einer langen Reihe auf, die Führergans an der Spitze, und kamen auf die beiden zu.

Als der weiße Gänserich jetzt die wilden Gänse näher betrachtete, war ihm gar nicht so recht geheuer. Er hatte geglaubt, daß sie mehr Ähnlichkeit mit den zahmen Gänsen hätten und daß er sich ihnen verwandter fühlen würde. Sie waren viel kleiner als er, und keine von ihnen war weiß, sie waren alle grau, mit einer braunen Schattierung. – Und vor ihren Augen wurde er beinahe bange. Die waren gelb und schienen, als wenn ein Feuer dahinter brenne. Der Gänserich hatte immer gelernt, daß es am hübschesten sei, langsam und watschelnd zu gehen, aber diese Gänse gingen nicht, sie liefen fast. Am unruhigsten aber wurde er, als er ihre Füße ansah. Sie waren groß, abgetreten und zerrissen. Man konnte sehen, daß sich die wilden Gänse niemals daran kehrten, wohin sie traten. Sie machten keine Umwege. Sonst waren sie sehr zierlich und wohlgepflegt, aber an ihren Füßen konnte man sehen, daß sie arme Leute aus der Wildnis waren.

Der Gänserich hatte gerade noch Zeit, dem Jungen zuzuflüstern: »Antworte nun ordentlich, aber erzähle nicht, wer du bist!« Und dann waren sie da.

Als die wilden Gänse vor ihnen standen, verbeugten sie sich viele Male mit dem Hals, und der Gänserich tat dasselbe, noch mehrmals als sie. Sobald man sich hinreichend begrüßt hatte, sagte die Führergans: »Jetzt können wir wohl erfahren, was für Leute ihr seid?«

»Von mir ist nicht viel zu sagen,« erwiderte der Gänserich. »Ich bin im letzten Frühling in Skanör geboren. Im Herbst wurde ich an Holger Nielsen in Westvemmenhög verkauft, und da bin ich seither gewesen.«

»Es scheint ja gerade nicht, als wenn du Grund hättest, mit deiner Familie zu prahlen,« sagte die Führergans. »Was macht dich denn so eingebildet, daß du dich den wilden Gänsen anschließen willst?« – »Es könnte ja sein, daß ich euch wilden Gänsen zeigen will, daß auch wir zahmen Gänse zu etwas zu gebrauchen sind,« sagte der Gänserich. – »Das wäre ja schön, wenn du uns das zeigen wolltest!« meinte die Führergans. »Wir haben nun schon gesehen, wie gut du fliegen kannst, aber vielleicht bist du tüchtiger auf anderen Gebieten. Du hast vielleicht Übung im langen Schwimmen?« – »Nein, dessen kann ich mich nicht rühmen.« Er glaubte schon merken zu können, daß die Führergans bereits beschlossen hatte, ihn heimzusenden, und er machte sich nichts daraus, was er antwortete. »Ich bin nie weiter geschwommen als über eine Mergelgrube,« fuhr er fort. – »Dann erwarte ich, daß du ein Meister im Laufen bist,« sagte die Gans. – »Nie habe ich eine zahme Gans laufen sehen, und habe es auch selbst nicht getan,« sagte der Gänserich und machte sich noch geringer, als er war.

Der große Weiße war nun fest überzeugt, daß die Führergans sagen würde, sie wolle ihn unter keinen Umständen mitnehmen. Er war höchlichst überrascht, als sie sagte: »Du antwortest mutig, wenn man dich fragt, und wer Mut hat, kann ein guter Reisekamerad werden, wenn er auch im Anfang nicht tüchtig ist. Was meinst du dazu, daß du ein paar Tage bei uns bleibst, bis wir gesehen haben, ob du zu etwas zu gebrauchen bist?« »Damit bin ich sehr zufrieden,« sagte der Gänserich und war sehr vergnügt.

Darauf zeigte die Führergans mit dem Schnabel auf den Jungen und sagte: »Aber wer ist denn das, den du da bei dir hast? So einen hab' ich noch nie gesehen.« – »Das ist mein Kamerad,« sagte die Gans. »Er ist sein ganzes Leben lang Gänsejunge gewesen. Er kann sicher auf der Reise von Nutzen sein.« – »Das mag ja für eine zahme Gans ganz gut sein,« entgegnete die wilde. »Wie heißt er?« – »Er hat mehrere Namen,« sagte der Gänserich zögernd und wußte nicht, was er in der Eile ersinnen sollte, denn er wollte nicht verraten, daß der Junge einen Menschennamen hatte. »Er heißt Däumling!« sagte er endlich. »Ist er aus dem Geschlecht der Kobolde?« fragte die Führergans. – »Um welche Zeit pflegt ihr Wildgänse euch eigentlich zum Schlafen hinzusetzen?« fragte der Gänserich schnell, um der Antwort auf die letzte Frage zu entgehen. »Meine Augen fallen um diese Zeit des Tages von selbst zu.«

Es war leicht zu sehen, daß die Gans, die mit dem Gänserich sprach, sehr alt war. Das ganze Federkleid war eisgrau, ohne dunkle Streifen. Der Kopf war größer, die Beine gröber und die Füße mehr abgetreten als die irgendeiner andern Gans. Die Federn waren steif, die Flügel knochig, und der Hals war dünn. Dies alles war das Werk des Alters. Nur den Augen hatte die Zeit nichts anzuhaben vermocht. Sie schienen klarer, gleichsam jünger als die all der andern.

Sie wandte sich jetzt mit Würde an den Gänserich. »Jetzt sollst du wissen, Gänserich, daß ich Akka von Kebnekajse bin, und die Gans, die zu meiner Rechten fliegt, ist Yki von Vassijaure, und die zu meiner Linken ist Kaksi von Nuolja! Du sollst auch wissen, daß die zweite Gans zur Rechten Kolme von Svappavara ist, und dahinter fliegt Viisi von den Oviksbergen und Kuusi von Sjangeli! Und du sollst wissen, daß diese, sowie die sechs jungen Gänse, die zu hinterst fliegen, drei rechts und drei links, alle Hochgebirgsgänse von edelstem Stamme sind. Du mußt uns nicht für Landstreicher halten, die mit jedem Beliebigen fliegen, und du mußt nicht glauben, daß wir unsern Schlafplatz mit jemand teilen, der nicht sagen will, welcher Familie er entstammt.«

Als die Führergans also sprach, ging der Junge schnell auf sie zu. Es hatte ihm weh getan, daß der Gänserich, der so mutig für sich selbst geantwortet hatte, so ausweichende Antworten gab, als es sich um ihn handelte. »Ich will nicht verheimlichen, wer ich bin,« sagte er. »Ich heiße Niels Holgersen und bin der Sohn eines Häuslers, und bis auf den heutigen Tag bin ich ein Mensch gewesen, aber heute vormittag...«

Weiter kam er nicht. Kaum hatte er gesagt, daß er ein Mensch sei, als die Führergans drei Schritt zurückwich, und die andern noch weiter. Und sie machten alle lange Hälse und fauchten ihn an.

»Diesen Verdacht habe ich von dem ersten Augenblick an gehabt, als ich dich hier an dem Ufer des Sees sah,« sagte Akka. »Und nun mußt du dich sofort entfernen. Wir dulden keine Menschen unter uns.«

»Es ist doch nicht möglich,« sagte der Gänserich vermittelnd, »daß ihr wilden Gänse vor einem bange sein könnt, der so klein ist. Morgen soll er auch nach Hause reisen, aber über Nacht müßt ihr ihn wirklich hier bei uns bleiben lassen. Niemand von uns kann es verantworten, so einen armen Kleinen jetzt zu nächtlicher Stunde sich auf eigene Hand gegen Wiesel und Füchse verteidigen zu lassen.«

 

Die wilde Gans kam jetzt näher heran, aber es war leicht zu sehen, daß es ihr schwer wurde, ihre Furcht zu beherrschen. »Ich habe gelernt, vor allem bange zu sein, was einen Menschennamen trägt, mag es groß oder klein sein,« sagte sie. »Aber wenn du, Gänserich, für den da einstehen willst, daß er uns keinen Schaden zufügt, so kann er wohl Erlaubnis bekommen, über Nacht hier bei uns zu bleiben. Ich fürchte freilich, daß unser Nachtquartier weder dir noch ihm behagen wird, denn wir haben die Absicht, uns zum Schlafen da draußen auf der Eisscholle niederzulassen.«

Sie dachte wohl, daß der Gänserich seine Bedenken dabei haben würde. Der aber ließ sich nicht anfechten. »Ihr seid wirklich klug, daß ihr es versteht, einen so sichern Schlafplatz zu erwählen,« sagte er.

»Aber du stehst uns dafür ein, daß er sich morgen nach Hause begibt.« – »Ja, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als euch ebenfalls zu verlassen,« sagte der Gänserich. »Ich habe versprochen, daß ich ihn nicht im Stich lassen will.«

»Es steht dir frei, zu fliegen, wohin du willst,« entgegnete die Führergans.

Damit hob sie die Flügel und flog über das Eis dahin, und eine wilde Gans nach der andern folgte ihr.

Der Junge war betrübt, daß nun aus seiner Reise nach Lappland nichts wurde, und außerdem ängstigte er sich vor dem kalten Nachtquartier. »Das wird ja immer schlimmer, Gänserich,« sagte er. »Erstens erfrieren wir draußen auf dem Eise.«

Aber der Gänserich war guten Mutes. »Das hat keine Not,« sagte er. »Jetzt will ich dich nur bitten, so schnell wie möglich soviel Gras und Stroh zusammenzusammeln, wie du nur tragen kannst.«

Als der Junge den ganzen Arm voll von welkem Gras hatte, packte ihn der Gänserich in seinen Hemdbund, hob ihn empor und flog auf das Eis, wo die wilden Gänse schon standen und schliefen, den Schnabel unter dem Flügel.

»Breite nun das Gras auf das Eis aus, damit ich etwas habe, worauf ich stehen kann, ohne festzufrieren. Hilfst du mir, dann werde ich dir auch helfen,« sagte der Gänserich.

Das tat der Junge, und sobald er fertig war, packte der Gänserich ihn noch einmal in den Hemdbund und steckte ihn unter seinen Flügel. »Da, denke ich, wirst du gut und warm liegen,« sagte er und klemmte den Flügel fest heran.

Der Junge lag so in Daunen eingepackt, daß er nicht antworten konnte, aber herrlich warm lag er, und müde war er, und schlafen tat er im selben Augenblick.

Die Nacht.

Es ist eine alte Wahrheit, daß Eis immer verräterisch ist, und daß man sich nicht darauf verlassen kann. Mitten in der Nacht geriet die Eisscholle auf dem Vombsee in Bewegung, so daß sie an einer einzelnen Stelle gegen das Ufer stieß. Und nun geschah es, daß Reineke Fuchs, der zu jener Zeit an der östlichen Seite des Sees im Park bei Övedskloster wohnte, dies entdeckte, als er auf einer nächtlichen Jagd draußen war. Reineke hatte die wilden Gänse schon am Abend gesehen, aber er hatte nicht erwartet, einer von ihnen habhaft zu werden. Jetzt begab er sich schnell auf das Eis hinaus.

Als Reineke ganz dicht bei den wilden Gänsen angelangt war, glitt er aus, so daß seine Klauen gegen das Eis kratzten. Die Gänse erwachten und schlugen mit den Flügeln, um sich in die Luft emporzuschwingen. Aber Reineke war ihnen zu flink. Wie aus einer Kanone geschossen, kam er angesaust, faßte eine Gans am Flügel und stürzte wieder an das Ufer zurück.

Aber in dieser Nacht waren die wilden Gänse nicht allein auf dem Eise; sie hatten einen Menschen unter sich, wie klein der auch war. Der Knabe erwachte durch das Flügelschlagen des Gänserichs. Er war auf das Eis hinabgefallen und saß da nun ganz wach. Er hatte von dem ganzen Spektakel nichts verstanden, bis er einen kleinen kurzbeinigen Hund mit einer Gans im Maul über das Eis davonlaufen sah.

Der Junge lief gleich hinterdrein, um dem Hund die Gans wegzunehmen. Wohl hörte er den Gänserich hinter sich dreinrufen: »Nimm dich in acht, Däumeling! Nimm dich in acht!« – »Aber vor so einem kleinen Hund brauche ich doch nicht bange zu sein,« dachte der Junge und stürmte dahin.

Die wilde Gans, die Reineke Fuchs geraubt hatte, hörte den Lärm von den Holzschuhen des Jungen, die auf dem Eise klapperten, und sie wollte ihren eigenen Ohren kaum trauen. »Glaubt der Knirps, daß er mich dem Fuchs entreißen kann?« dachte sie. Und wie übel es ihr auch erging, es begann in ihrer Kehle ganz munter zu glucksen, fast als lache sie.

»Das erste, was geschieht, ist, daß er in einen Riß im Eise fällt,« dachte sie.

Aber wie dunkel auch die Nacht war, sah der Junge doch deutlich alle Risse und Löcher, die im Eise waren, und sprang kühn darüber hinweg. Das kam daher, daß er jetzt die guten Nachtaugen der Kobolde hatte und im Dunkeln sehen konnte. Er sah den See wie auch das Ufer so deutlich, als sei es Tag.

Reineke Fuchs lief auf das Eis hinauf, da, wo es ans Land stieß, und gerade als er sich an dem steilen Ufer hinaufarbeitete, rief ihm der Junge zu: »Laß die Gans los, du Schlingel!« Reineke wußte nicht, wer da rief, und ließ sich keine Zeit, sich umzusehen, er beschleunigte nur seinen Lauf.

Der Fuchs lief nun in einen Wald mit großen, prächtigen Buchen, und der Junge folgte ihm, ohne daran zu denken, daß ihm Gefahr drohen könne. Dahingegen dachte er die ganze Zeit daran, wie verächtlich die wilden Gänse ihn am vorhergehenden Abend behandelt hatten, und er hatte wohl Lust, ihnen zu zeigen, daß ein Mensch doch ein wenig über allen andern Geschöpfen steht.

Einmal über das andere rief er dem Hunde zu, daß er die Beute fahren lassen solle. »So ein Hund, der sich nicht schämt, eine Gans zu stehlen!« sagte er. »Laß sie sofort los, sonst prügle ich dich, darauf kannst du dich verlassen. Laß sie los, sage ich, sonst werde ich deinem Herrn erzählen, wie du dich aufführst.«

Als Reineke Fuchs merkte, daß man ihn für einen Hund hielt, der vor Prügel bange ist, fand er das so komisch, daß er kurz davor war, die Gans fallen zu lassen. Reineke war ein großer Räuber, der sich nicht damit begnügte, hinter Mäusen und Ratten auf den Feldern dreinzujagen, sondern der sich auch auf die Höfe wagte, um Hühner und Gänse zu stehlen. Er wußte, daß er in der ganzen Umgegend gefürchtet war. Etwas so Törichtes hatte er nicht gehört, seit er ein ganz kleines Füchslein war.

Aber der Junge lief so, daß er ein Gefühl hatte, als glitten die dicken Buchen rückwärts an ihm vorüber, und er holte Reineke ein. Schließlich war er ihm so nahe, daß er den Schwanz gefaßt bekam. »Jetzt nehme ich dir doch die Gans weg!« rief er und hielt so fest, wie er nur konnte. Aber er war nicht stark genug, um Reineke zurückzuhalten. Der Fuchs zog ihn mit sich, so daß die welken Buchenblätter um ihn herstoben.

Aber jetzt schien es, als wenn Reineke dahintergekommen sei, wie klein der Verfolger war. Er stand still, legte die Gans an die Erde nieder und setzte die Vorderpfoten darauf, damit sie nicht wegfliegen sollte. Er wollte ihr gerade die Kehle durchbeißen, aber er konnte sich nicht enthalten, den Knirps erst ein wenig zu necken: »Mach' daß du nach Hause kommst und verklag mich beim Hausherrn, denn nun beiße ich die Gans tot!« sagte er.

Wer erstaunt war, als er sah, was für eine spitze Schnauze, als er hörte, was für eine heisere und häßliche Stimme der Hund hatte, den er verfolgte, das war der Junge. Aber er wurde nun auch so wütend darüber, daß sich der Fuchs lustig über ihn machte, daß er nicht daran dachte, bange zu sein. Er umklammerte den Schwanz noch fester, stemmte die Füße gegen die Wurzel einer Buche, und im selben Augenblick, als der Fuchs den Rachen über der Kehle der Gans aufriß, zog er mit aller Macht an. Reineke war so überrascht, daß er sich ein paar Schritte rückwärts ziehen ließ, und die wilde Gans wurde frei. Die hob sich mit Mühe in die Luft empor. Einer ihrer Flügel war verletzt, so daß sie ihn kaum gebrauchen konnte, und außerdem konnte sie in der dunklen Nacht nichts im Walde sehen, sondern war so hilflos wie ein Blinder. Deswegen konnte sie dem Jungen in keiner Weise helfen, sondern strebte einer Öffnung im Laubdach zu und flog wieder nach dem See hinab.