Absinthe

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Kapitel 2

Wie ein rotes Leuchtfeuer drehen sie sich in der Ferne und stechen mir so penetrant in die Augen, dass ich sie schnell zukneife. Mit spielerischer Leichtigkeit ziehen sie die Aufmerksamkeit aller, die sie auch nur für einen kurzen Moment erblicken, auf sich. Die überdimensionierten Flügel der berühmt-berüchtigten roten Mühle, deren grelle Farben die Besucher anlocken wie ein Irrlicht die Motten in der Dunkelheit, drehen sich wie von Geisterhand betrieben in einem stets gleichbleibenden, monotonen Rhythmus – Elektrizität. Ihr ist mit Sicherheit auch das warme und dennoch seltsam unwirkliche Licht der vielen kleinen Lämpchen geschuldet, die den Place Blanche an diesem angenehm kühlen Spätsommerabend erhellen.

Der Erfolg dieses Varietés ist in der Tat beeindruckend. Erst vor drei Jahren eröffnet, hat sich das Moulin Rouge in einer atemberaubenden Geschwindigkeit zu einem der Publikumsmagneten des Montmartre gemausert. Ein Anziehungspunkt für Männer und Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten – und mein werter Freund Toulouse stets mittendrin im Getümmel. Seinen Erzählungen zufolge tanzen und schunkeln hier Fabrikbesitzer und Gewerkschaftsführer mit einem seligen Lächeln auf den Lippen Seite an Seite und vornehme Adlige erheben die Gläser mit hoffnungslos abgebrannten Schöngeistern. In dieser Halbwelt des frivolen Nervenkitzels gibt es offensichtlich keinerlei Klassenunterschiede. Das ist auch der einzige Aspekt, in dem mir das Moulin Rouge nicht bis ins Mark suspekt ist. Ein jeder sei gleich dem anderen, haben sie doch allesamt ihren Franc für ein Ticket in eine farbenprächtige, für kurze Zeit die Realität übertünchende Traumlandschaft bezahlt.

So lauten die in den schillerndsten Farben ausgeschmückten Erzählungen, die man über diesen Ort in den Straßen des Montmartre zu hören bekommt, und ich glaube ihnen. Denn wenn einer wissen muss, wie es im Innern der roten Mühle wirklich zugeht, so ist es der kleine Mann neben mir, der sich gerade mit einem wohligen Murmeln tiefer in die zerschlissenen Ledersitze der Kalesche drückt. Seit der Eröffnung ist Toulouse beinah jeden Abend im Moulin Rouge anzutreffen, unter dem mehr als fadenscheinigen Vorwand, neue Motive für seine Bilder finden zu wollen.

Wirklich mehr als fadenscheinig, denn nicht erst seitdem ich von Louise weiß, beschleicht mich der Verdacht, dass es ihm bei seiner Begeisterung für dieses Varieté längst nicht mehr nur um die Ausübung seiner Kunst geht. Sollte es ihm jemals darum gegangen sein.

Ich werfe meinem Freund einen verstohlenen Blick zu. Es beschleicht mich die Frage, ob seine Chancen bei Louise wirklich so gut stehen, wie er es sich wünscht.

Mit Wohlwollen und auf hohen Absätzen reicht Toulouse an die 1,50 Meter, wodurch er stets etwas Verhutzeltes, Zwergenhaftes an sich hat. Er ist noch jung, noch keine dreißig, doch lassen ihn der wallende Bart und seine verschrobene Art bedeutend älter wirken.

»Ich bin dir übrigens immer noch böse, dass du mich allen Ernstes in dieses Tollhaus schleifst.«

Ich blicke nach vorne, hinaus auf die schnell vorbeiziehende Straße, doch erkenne ich aus dem Augenwinkel, wie sich ein selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen meines Freundes formt, ehe er antwortet:

»Manche Menschen muss man eben zu ihrem Glück zwingen, mein junger Freund. Finde dich damit ab. Du hast einen Tapetenwechsel bitter nötig.«

»Und manche Menschen vertrauen zu sehr darauf, dass man ihnen all ihre Faxen verzeiht.«

»Natürlich. Und eigentlich hast du mir auch schon längst verziehen.«

Auch wenn ich es nicht sehe, so weiß ich, dass sich seine Augenbrauen wieder fragend über die Brillenränder spannen. Und das Schlimmste ist, dass er recht hat. Eigentlich bin ich ihm längst nicht mehr böse. Die Wut ist bereits im Laufe des Tages abgeflaut und hat einem wesentlich ekligeren Gefühl Platz gemacht. Seit Stunden fühle ich mich fürchterlich aufgekratzt und auf kindliche Weise nervös, dass es mir den Magen zusammenkrampft und ich meine Hände nicht mehr stillhalten kann. Daran ändert auch nichts, dass sich die Anzahl der von Toulouse gemalten Plakate, die schemenhaft an uns vorbeijagen, innerhalb der letzten Minuten vervielfacht hat. Wie von meinem Freund angepriesen, hängen sie in diversen Ausführungen an allen Wänden und an jeder Litfaßsäule.

Wir kommen näher. Die roten Flügel werden größer.

Bedrohlicher.

Das schnelle, gleichmäßige Klappern der Hufe auf unebenem Kopfsteinpflaster und das Rattern der Räder gleicht einem beruhigenden, beständig gleichbleibenden Stakkato, dessen Abstände kürzer werden, als die Kalesche auf den Boulevard de Clichy einbiegt und auf Schritttempo abbremst.

»Da sind wir ja endlich!«, frohlockt Toulouse und klatscht die Hände ineinander. Ich wünschte aufrichtig, ich könnte seine Freude teilen. Meine Hände verkrampfen sich unwillkürlich in meinem Schoß, taube Finger krallen sich ineinander.

Mühsam richtet sich Toulouse in den von viel zu vielen Fahrgästen durchgesessenen Polstern auf und lehnt sich bereits halb aus dem Innern des Wagens, selbst als dieser noch nicht ganz steht. Er kann es kaum mehr erwarten auszusteigen. Mit versierten Handgriffen richtet er sich den schiefsitzenden Zylinder und wirft sich in Positur. Die Pferde halten mit leisem Schnauben einige Meter vom Eingang des Varietés entfernt hinter einer langen Schlange von weiteren Kutschen und Droschken.

Und wie ich es mir nicht anders in meinen schlimmsten Albträumen hätte ausmalen können, scheint allgemeine Hektik und turbulente Aufregung diesen Ort fest im Griff zu haben. Sobald die Dämmerung einsetzt, kommen die Menschen von überall her wie Nachtfalter aus ihren Verstecken eingetrudelt. Im flackernden Licht der Gaslaternen vor dem Moulin Rouge schimmern die bunten Kleider der Frauen wie die Flügel eines Schmetterlings und das warme Licht bricht sich in den glänzenden Zylindern ihrer Begleiter.

Die metallene Trittleiter mit zwei für ihn sehr großen, federnden Schritten hinabspringend, richtet Toulouse sein etwas zerknittertes, schwarzes Cape, ehe er abwartend und mit einer nicht zu übersehenden Ungeduld zu mir heraufblickt.

»Heute noch, Monsieur. Die Damen warten nicht!«

Sein kleiner Fuß trippelt bei diesen Worten ungeduldig auf das Kopfsteinpflaster.

Eilig versuche ich, meine doch wesentlich längeren Beine aus dem engen Innern des Wagens zu befreien und als es mir schließlich gelingt, hat sich mein Begleiter bereits auf dem Absatz umgedreht und tapert schnellen Schrittes das Trottoir hinab, seinen Spazierstock dabei lässig in der linken Hand hin und her schwingend wie ein Dandy.

Ich folge ihm kopfschüttelnd.

Meine Güte, Toulouse hat wirklich nicht übertrieben, als er sagte, es würde um das Moulin Rouge keine Straße mehr ohne sein Plakat geben. Louise strahlt mir in zigfacher Ausführung von allen Seiten entgegen, das Rot der Schrift leuchtet warm, der Druck ist erstaunlich gut geworden. Das haben sich Oller und Zidler einiges kosten lassen.

»So, mein lieber Freund, da wären wir«, verkündet Toulouse lautstark und vollführt eine ausladende Geste, als wir vor der Front des Moulin Rouge direkt unter der sich leise surrend, fortwährend drehenden Mühle zum Stehen kommen.

»Was du nicht sagst, Toulouse«, murmle ich abwesend und bin gänzlich fasziniert von den sich direkt über meinem Kopf drehenden bunten Lichtern. Bewundernd lege ich meinen Kopf in den Nacken, dass mir beinah der Zylinder vom Kopf fällt. Wie fast alles an meiner Ausstattung ist auch er eine Leihgabe eines von Toulouses zahlreichen Freunden. Wir haben nur leider nicht dieselbe Größe, weder was Zylinder noch Jacketts anbelangt, woran mich der immer wieder von meinen Schultern rutschende Stoff stets aufs Neue erinnert.

Ohne mein Zutun schleichen sich mir die Bilder eines ausstaffierten Pudels in den Sinn, die ich jedoch sofort energisch abzuschütteln versuche. Ziellos schweift mein Blick umher. Wandert von den kleinen Lämpchen auf den Flügeln hinüber zum Dach und wieder zurück. Ich wende mich zur Seite, um besser an meinem Jackett herumwerkeln zu können, als ich den eindrucksvollen, mittelalterlich anmutenden Turm zur Linken des Varietés bemerke.

»Was ist das für ein Turm?«

»Das ist der gotische Turm. Dort kannst du zu Abend essen, wenn du willst«, entgegnet Toulouse trocken. Für ihn ist am Äußeren des Moulin Rouge absolut nichts mehr neu oder interessant. Er hat bereits damit begonnen, sich an der langen Schlange der Wartenden vorbeizudrängeln, und bedeutet mir mit hektischen Handbewegungen ihm zu folgen. Er schwingt seinen auf Hochglanz polierten Gehstock dabei so wild hin und her, dass es einem der Herren neben ihm beinah den Zylinder vom Kopf schlägt. Den finsteren Blick, den sich Toulouse dafür einfängt, registriert er nicht.

Ich werfe noch einen letzten Blick auf den erkerhaften Vorbau, der sich wie die Turmspitze einer Kathedrale in den langsam dunkler werdenden Himmel erhebt, und schon folge ich Toulouse widerwillig an der Warteschlange vorbei. Dieser Turm steht ganz im Gegensatz zum restlichen, gedrungenen Erscheinungsbild der roten Mühle. Sie ist viel zu grell, viel zu bunt.

Ein eiskalter Schauer jagt mir Gänsehaut über den Rücken und kriecht mir in alle Glieder. Das Gemurmel und die bösen Seitenblicke stoisch ignorierend, versuche ich mein Bestes, mich so schnell wie möglich an der wartenden Masse hinter Toulouse her zu schlängeln, der allein aufgrund seiner geringen Größe einen überwältigenden Vorteil hat.

 

Eines schönen Tages werde ich Toulouse schonend beibringen müssen, dass mir Veranstaltungen, auf denen sich viel zu viele Menschen in viel zu enge Räume drängen und mit viel zu lauten Stimmen miteinander sprechen, ein absoluter Gräuel sind. Der bleierne Knoten in meiner Magengrube wächst zu einem greifbaren Etwas heran und er wächst noch einmal um ein beachtliches Stück, als wir uns an der Reihe vorbei durch das niedrige Eingangsportal quetschen und mir einer der genervten Wartenden einen heftigen Stoß in die Rippen versetzt.

Das Innere des Eingangsbereichs ist schrecklich düster. Nur hinter dem Glas des Ticketschalters brennt ein schwaches Petroleumlicht. Toulouse nickt dem hageren Mann mit der ausdrucklosen Miene am Schalter einmal kurz höflich zu und lüpft den Zylinder, das Raunen und Murmeln der anderen Besucher hinter sich mit gewohnter Gelassenheit ausblendend. Der Mann hinter dem Glas erwidert die Geste, doch selbst mit sehr viel Wohlwollen ist das Rucken der bärtigen Mundwinkel kaum als Lächeln auszumachen. Und selbst dieses kurze Rucken verschwindet augenblicklich wieder, als seine trüben Augen zu mir wandern. Sofort huscht die nichtssagende Miene zurück auf sein Gesicht.

»Ticket, Monsieur.«

Mit einer mechanisch anmutenden Geste streckt er seine knochige Hand durch das kleine Loch in der Glasscheibe und hält sie mir wartend entgegen.

»Aber ich habe –«

Bevor ich auch nur noch ein weiteres Wort sagen kann, zieht mich Toulouse so heftig an meinem Ärmel von der Glasscheibe weg, dass mir das Jackett bis in die Armbeuge rutscht und das rostfleckige Hemd darunter entblößt.

»Das geht in Ordnung, Jaques. Unser junger Freund hier gehört zu mir«, erklärt er, während er mich mit enormer Kraft am Sichtfenster vorbeizerrt und in den Vorhof das Varietés schubst.

Taumelnd finde ich mein Gleichgewicht wieder und fühle mich in diesem Moment so unglaublich verloren.

»Weißt du, wo Zidler steckt?«, fragt Toulouse im freundlichsten Plauderton. Jaques verzieht noch immer keine Miene.

»Gespräch mit Oller im Turm, kann nicht mehr lange dauern«, erfolgt die geschnarrte Antwort und mit einem abrupten Kopfrucken weist Jaques Toulouse ins Innere, jedoch nicht, ohne mich noch eines abschätzigen Blickes zu würdigen. Offensichtlich ist er alles andere als erfreut darüber, mich ticketlos durchzuwinken.

»Herrje, ich hatte ja ganz vergessen, dass man dich hier noch gar nicht kennt«, lacht Toulouse schallend sein sonores Lachen, als er sich bei mir unterhakt und mich gnadenlos weiter in den von vielen gespannten Lichterketten hell erleuchteten Innenhof schleift. Mein Arm fühlt sich an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt ein Vor- oder ein Nachteil ist«, entgegne ich atemlos, ich kann noch immer die bösen Blicke Jaques’ spüren, wie sie sich wie Pfeilspitzen in meinen Rücken bohren.

Der gartenähnliche Innenhof, der sich vor uns am Fuße eines kleinen Hügels erstreckt, quillt über vor Menschen, pulsiert und dröhnt vor Stimmengewirr. Und unweigerlich steuert Toulouse uns mitten hinein in den Tumult.

Viel zu viele Eindrücke prasseln in viel zu kurzer Zeit auf mich hernieder und schlagen wie eine mannshohe Welle über meinem Kopf zusammen. Gerade waren wir noch auf der schlecht beleuchteten, dreckigen Straße des Place Blanche. Doch nun wurden wir wie Gulliver in eine andere, fremde Welt hineingeworfen.

»Ich warne dich, Toulouse. Wehe, du lässt mich hier allein in diesem Chaos«, zische ich gepresst, im Slalom weiterhin Armen, Beinen, Kleidern, Hüten und Stöcken ausweichend.

Es ist unsäglich voll. Dicht an dicht gedrängt stehen Männer und Frauen vor einer kleinen, hölzernen Bühne, auf der eine Reihe von Mädchen in gefährlich durchsichtigen Tutus gerade etwas aufführen, das nur mit sehr viel Fantasie Ähnlichkeit mit Ballett aufweist. Und neben der Bühne ragt etwas Graues, Großes in den Himmel und mir fallen vor lauter Starren bald die Augen aus dem Kopf.

»Toulouse, dort drüben steht ein Elefant!«

Mein Gott, muss sich das dumm anhören!

Doch dort steht unzweifelhaft ein lebendiger Elefant. Riesig, grau und ungemein faltig.

Toulouse zu meiner Linken wendet jedoch noch nicht einmal den Kopf zu der Monstrosität, nur ein schiefes Lächeln verzieht seinen Mund.

»Der ist nicht echt«, spricht er es in den allgegenwärtigen Trubel hinein, sodass seine Worte mich nur undeutlich erreichen.

»Nichts weiter als Tonnen und Tonnen von Stuck. Überbleibsel der Weltausstellung von vor zwei Jahren.«

Er verdreht die Augen.

»Noch etwas, das uns neben diesem scheußlichen Stahlskelett am Champ de Mars dauerhaft von der Ausstellung geblieben ist. Keine Ahnung, für welches Land er ursprünglich hergestellt wurde, aber hinterher wusste keiner mehr, wohin mit dem Ding, da hat Zidler ihn für ’nen Apfel und ’n Ei gekauft.«

Mit einer von Gewohnheit zeugenden Gewandtheit bahnt sich Toulouse weiter mit mir im Schlepptau seinen Weg durch die Massen, als habe er eine imaginäre Landkarte vor Augen, denn er kann in diesem Wald aus schwarzgewandeten Rücken und Beinen unmöglich sehen, wohin er läuft.

»Ich wusste gar nicht, wie schnell man dich mit großen Dingen beeindrucken kann, Noël«, setzt er mit spöttischer Stimme nach und ich höre abrupt damit auf, mir nach dem Stuckungetüm den Hals zu verrenken.

»Du kannst da auch reingehen. In den Elefanten, meine ich, wenn – Jesus Christus, wenn du es schaffst, an diesen Nilpferden vorbeizukommen, Herrgott noch mal! Machen Sie sich doch noch ein wenig breiter, Madame, dann braucht Ihr Hinterteil bald sein eigenes Arrondissement!«, giftet der Gnom, als er einen haarscharfen Haken um eine Gruppe sich unterhaltener, älterer Damen schlägt, deren Brüste aus den viel zu engen Rüschenkleidern quellen und deren überaus breite Hinterteile definitiv keiner ausladender Tournüre mehr bedurft hätten. Da sie Toulouse wegen seiner Größe einfach übersehen, werfen sie mir zuerst irritierte, dann mörderische Blicke zu.

Eilig haste ich meinem Begleiter hinterher, mit Wangen so rot, dass sie den Mühlenflügeln Konkurrenz machen könnten.

Toulouse schlägt einen weiteren Bogen, diesmal um zwei Männer in feinen, gebügelten Anzügen und stocksteifen Zylindern.

Auch wenn er dies niemals zugeben würde, so muss es ihn doch wahrlich nerven, dass er sich mit mir Bremsklotz am Bein nicht so schnell fortbewegen kann, wie es ihm lieb wäre. Unter gepresstem Schnaufen zerrt er mich an der Bühne vorbei und bleibt letztlich einige Meter vor der Schlange zum Innenraum des Varietés stehen. Mit verkniffenem Gesicht hält er sich die Seite.

»Meine Güte, das wird auch jedes Mal voller in dem Schuppen«, nuschelt er gepresst im Versuch, die Seitenstiche wegzuatmen.

Ich nicke geistesabwesend. All diese ungewohnten Eindrücke schwappen mit einer brachialen Intensität auf mich hernieder, dass mir der Kopf schwirrt.

Wo zur Hölle bin ich hier nur hineingeraten?

Die bunten Lichter flimmern und flirren vor meinen Augen wie aufgeschreckte Glühwürmchen, sie tanzen mal hierhin, mal dorthin.

»Ich denke, einen Sitzplatz können wir getrost vergessen«, sinniert Toulouse neben mir leise vor sich hin, auch wenn er unmöglich mehr sehen kann als die Rücken seiner Vordermänner.

Die Schlange macht nur schleppend Fortschritte. Quälend langsam presst sich Mensch nach Mensch in den schon hoffnungslos überfüllten, schummrigen Innenraum. Ein Meer aus dunklen Hüten. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge hinwegzuschauen. Ein großer, bärtiger Mann kommt hakenschlagend auf uns zu.

»Toulouse, alter Pinselschwinger!«

Es durchfährt mich wie ein Stromschlag, dieses donnernde Rufen nach meinem Freund, welches selbst das Lärmen der Masse problemlos übertönt.

»Charles, wenn das kein Zufall ist, dich hier zu treffen!«

Toulouses Bartspitzen zucken amüsiert.

Charles Zidler.

Selbst das Lachen des Inhabers dröhnt mit Leichtigkeit über das summende Stimmengewirr hinweg und mit einigen großen Schritten bahnt sich ein Hüne von Mann einen Weg durch die erstaunt dreinschauende Menschentraube.

»Geschäfte im Turm«, entgegnet er sogleich entschuldigend und ohne weitere Erklärung, da er uns erreicht und sich in voller Größe vor uns aufbaut. Ein massiger Mann um die fünfzig, mit dunklen, von buschigen Brauen umgebenen Augen, die strahlend auf den ihm gerade mal bis zum Gürtel reichenden Toulouse hinabblicken. Sein ausladender, schlohweißer Backenbart verleiht ihm ein wildes Aussehen.

Mich nimmt er nicht wahr.

»Ich habe davon gehört«, entgegnet Toulouse wissend und stemmt die Hände herausfordernd in die Hüften. »Und wie ich sehe, wird meine Kunst ausreichend gewürdigt. Keine Wand, an der es nicht hängt. Wie versprochen.«

Zidler lacht erneut sein einnehmendes Lachen, das von seinem ganzen Körper Besitz ergreift und ihn zum Vibrieren bringt.

»Natürlich, Toulouse, natürlich. Abgemacht ist abgemacht. Und Louise ist schier außer sich vor Freude über das Poster, sie war drauf und dran, mir um den Hals zu fallen, als ich es ihr heute Morgen gezeigt habe. Sie kann es kaum erwarten, dir zu danken.«

Toulouse scheint bei diesen so lapidar daher gesagten Worten um einige Zentimeter zu wachsen.

»Ist das so?«, fragt er schließlich betont gelassen. »Dann sollte ich wohl schnellstens mit ihr sprechen, damit sie mir wirklich um den Hals fallen kann. Allerdings wird das schwierig werden, bei der Schlange.« Mit einem abgehackten Kopfrucken weist er vage in die Richtung der ebenfalls Anstehenden vor uns. Zidler zwinkert seinem Maler verschwörerisch zu.

»Kein Problem, folg mir. Ich habe eh noch das ein oder andere Wörtchen wegen zukünftiger Werbung mit dir zu wechseln.«

Toulouse lacht auf und deutet anschließend mit seiner freien Hand auf mich.

»Bevor ich es vergesse, Charles. Darf ich vorstellen: Noël Poisonnier. Ein junger, aufstrebender Künstler und enger Freund von mir. Er ist zum ersten Mal hier und ich kann ihn unmöglich allein umherirren lassen. Da finde ich ihn morgen früh nur völlig verkatert in der Gosse wieder.«

Ich beiße mir auf die Lippen, um mir einen gepfefferten Kommentar zu verkneifen. Nur mit Müh und Not bekommen meine angespannten Gesichtsmuskeln ein angedeutetes Lächeln für Zidler zustande.

Dankenswerterweise übergeht Zidler Toulouses Kommentar mit der Gosse geflissentlich und macht sich uns voran auf den Weg quer über den Innenhof. »Noch ein kunstschaffender Freigeist, meiner Treu! Ihr seid wie Motten. Überall, wo es bunt und was los ist, kann man sich sicher sein, euch zu finden, nicht wahr?« Er grinst schelmisch und es will nicht recht zu seinem einschüchternden Bart passen.

Unschlüssig rucke ich mit den Schultern. Ich weiß nicht, ob ich diesen Kommentar als Kompliment auffassen soll.

»Naja, als Künstler sollte man ja schon versuchen, das Leben einzufangen …«

Toulouses Augenbrauen heben sich.

»Ebenfalls Maler?«, fragt Zidler einigermaßen interessiert klingend nach, ohne sich dabei zu mir umzudrehen. Zielstrebig steuert er eine schmale Seitentür am Rande der Bühne mit den halbnackten Mädchen an.

»Ja, Maler.«

Das Wort klingt so armselig aus meinem Mund. Es hat einen vollkommen anderen Klang, wenn Toulouse dies von sich behauptet. Der Betrieb um uns herum legt sich langsam. Artig reihen sich auch die letzten verbliebenen Gruppen und Pärchen in die Schlange ein.

»Hätte ich gar nicht gedacht«, fährt Zidler fort und ich zucke zusammen. Ich hatte mit überhaupt keiner weiteren Reaktion mehr gerechnet. Er wühlt in den Taschen seiner weißen Manchesterhose und fördert schließlich einen Schlüsselbund zutage.

»Ich dachte, ihr kreatives Volk würdet allesamt so extravagant aussehen wie unser werter Toulouse hier. Du könntest fast als anständiger Kerl durchgehen, mein Junge.« Er bricht erneut in schallendes Gelächter aus und rammt den gefundenen Schlüssel ins Schloss. Das war nun definitiv kein Kompliment mehr.