Wieso Heimat, ich wohne zur Miete

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Drittes Kapitel, in dem wir Emre kennenlernen, Krishna Mustafa eine Moschee findet und in einem Waffenladen Zuflucht sucht

Du bist ja lustig, sagt Emre und lacht. Du hast echt geglaubt, Isa hätte dir eine Karte zu einem Auftritt des Präsidenten gegeben?



Du bist ja lustig, das hat Laura am Anfang auch immer gesagt. Wir haben viel zusammen gelacht, nicht nur am Anfang, wir haben 16 Monate viel gelacht und dann hat sie auf einmal erkannt, dass ich meine Identität noch nicht gefunden habe, und sich getrennt. Ich sehe Emre auf dem Bildschirm, im Hintergrund kann ich mein Bett erkennen. Das Bett, in dem ich so viel Zeit mit Laura verbracht habe. Mit Laura konnte jeder Wochentag und jede Tageszeit ein Sonntagmorgen werden. Ich frage mich, ob Emre und sie sich über den Weg laufen werden. Bestimmt.



Emre studiert Deutsch und Englisch in Istanbul und macht gerade ein Auslandssemester in Freiburg. Als Kinder waren wir Nachbarn und haben immer zusammen gespielt, während meine Mutter bei der Arbeit war. Seit wir 15 sind, haben wir wieder Kontakt, über das Internet.



Emre wollte sein Auslandssemester zuerst in Berlin machen, aber wir haben gedacht, wenn er nach Freiburg kommt, können wir mehr Zeit miteinander verbringen. Dann hat Laura mit mir Schluss gemacht und ich wollte unbedingt in die Türkei, um dort meine Identität zu suchen. So haben wir die Zimmer getauscht und nun ist er in Freiburg, lange bevor das Semester anfängt.



Wie geht es dir denn da? frage ich.



Nach Istanbul und nach London ist das ein Dorf, sagt er, man kann überall zu Fuß hin, aber es gibt alles, was es in einer Großstadt geben muss. Alkohol ist billig. Und das Biogemüse. Ich werde gesund essen und viel Bier trinken, so viel steht fest. Wenn man alleine ausgeht, guckt einen niemand komisch an. Ich war schon in ein paar Kneipen, die mir gefallen haben. Die scheinen ganz in zu sein, aber niemand dort ist aufgetakelt und protzt. Es ist fast so, als gäbe es kein Nachtleben für die Reichen in dieser Stadt. Oder man sieht den Reichen ihren Reichtum nicht an. Und alle sagen immer achso. Weißt du das eigentlich? Achso, wenn man etwas versteht, achso, wenn man etwas nicht versteht, achso, wenn etwas anders ist als erwartet, achso, wenn man jemanden verarschen möchte, achso, wenn man überrascht ist, achso, wenn man etwas vergessen hat, achso, wenn einem etwas einfällt, achso, wenn man etwas nicht glaubt, achso, wenn man etwas glaubt, achso, wenn man ironisch sein möchte.



Ach so.



Ja. Das sagt ihr ständig. Wie ein Zauberwort oder so.



Kann sein.



Ist so.



Ach so, ist so. Hast du schon festgestellt.



Ja, glaub mir.



Ich werde mal darauf achten.



Nachdem ich mit Emre gesprochen habe, baue ich Aya Triada zu Ende und beschließe anschließend, in die Moschee zu gehen. Um nicht noch einmal so eine Pleite zu erleben wie bei der Suche nach Starbucks, entscheide ich mich für Sultan Ahmet, die Blaue Moschee. Das ist die, in die alle Touristen gehen, die werde ich sicherlich finden.



Es ist heiß. Der heißeste Sommer in Istanbul seit Jahren, hat Emre gesagt, bevor ich gefahren bin. Heiß wie die Türangeln der Hölle. Meine Dreads fühlen sich an wie Brennstäbe, die von meinem Kopf baumeln, also gehe ich zum Friseur und lasse sie mir schneiden. Das wird dir schwerfallen, dich irgendwann von ihnen zu trennen, hat Hase immer gesagt, aber es ist ganz einfach. Nur den Bart möchte ich behalten und lasse ihn nicht rasieren.



Als ich rauskomme, kommt es mir schon weniger heiß vor, dafür brennt jetzt die Sonne auf meiner Kopfhaut, deshalb kaufe ich in einem Laden eines dieser kleinen weißen Käppis, wie sie die Gläubigen häufig tragen.



Am Touristeneingang von Sultan Ahmet ist eine lange Schlange. Ohne Dreadlocks und mit Käppi nehme ich einfach den Eingang für das Gebet, dort steht niemand an.



Ich kann nicht beten, das hat mir nie jemand beigebracht. Ich weiß nur, dass man auf die Knie fällt, sich auf die Fersen hockt, die Stirn auf diesen Teppich legt, den Kopf nach links und rechts dreht und irgendwann die Handflächen nach oben nimmt. Ich will es einfach mal versuchen. Ich beginne im Stehen und bewege ein wenig die Lippen. Das fühlt sich gut an. Es kommt mir vor, als würde Gott anerkennend nicken. Er versteht ja jede Sprache, nicht nur die richtige. Dann sinke ich auf die Knie und lege die Stirn auf den Boden. Schon vorher im Stehen hat es nach Fußschweiß gerochen, aber jetzt ist es so, als hätte jemand Fußgeruch aus mehreren Jahrhunderten gesammelt und daraus eine Essenz hergestellt. Ein winziger Tropfen würde genügen, um eine Tonne Kaffee ungenießbar zu machen.



Ich bleibe da unten, atme entspannt weiter. So schlimm, wie die Leute immer tun, ist Fußgeruch gar nicht. Ich liege mit der Stirn auf dem Boden und denke über Gott nach. Er hat sicherlich nichts gegen Fußgeruch. Er hat ihn schließlich erfunden. Aber vielleicht findet er diese Art zu beten komisch. Er sieht ja alles, nichts bleibt ihm verborgen. Auch wenn ich jetzt Richtung Mekka bete, sieht er mich gleichzeitig von hinten, wie ich ihm den Arsch entgegenstrecke. Ich weiß nicht, ob er es gut findet, immer nur Nacken und Ärsche zu sehen.



Ich stehe auf, murmle wieder irgendetwas vor mich hin, falle auf die Knie, Stirn auf den Boden, wieder aufstehen. Ich mache das noch einige Male. Es ist heiß und ich habe ohnehin schon geschwitzt, noch bevor ich mich bewegt habe. Jetzt ist auch noch mein Kreislauf in Schwung gekommen und das bringt mich auf eine Idee.



Ich lege mich mit dem Rücken auf den Boden, stelle die Füße an meinem Hintern auf, setzte die Hände neben die Ohren und drücke mich hoch in die Brücke. Das haben wir als Kinder oft gemacht (Tausende Male), und Laura macht es immer beim Yoga, das kann Gott nicht schlecht finden. Ich biete ihm mein Herz dar statt meinen Rücken und meinen Arsch. Ich schlage eine Brücke zwischen dieser Welt und jener unsichtbaren Welt.



So eine Brücke ist anstrengend, als ich runterkomme, bin ich außer Puste. Ich richte mich auf, setze mich auf die Fersen und warte so, bis mein Atem sich beruhigt hat.



Hase sagt, im Westen werde immer behauptet, Islam würde auf Arabisch

Unterwerfung

 bedeuten, aber die Leute, die das sagten, könnten in der Regel kein Arabisch. Er hat mir erklärt, dass Islam

Hingabe

 heißt. Hase hat mal Arabisch studiert.



Ich habe versucht, Gott alles zu geben, was ich zu bieten habe, aber als ich aus der Moschee rauskomme, hat sich der Himmel verdunkelt und es weht ein Wind, der sich anfühlt, als würde man sich am ganzen Körper föhnen. Ich habe eine Stadtplan-App auf mein Handy geladen, damit ich mich nicht mehr verlaufe und die Leute mich nicht in die falsche Richtung schicken können. Ich gehe runter Richtung Eminönü, von dort will ich mit dem Bus nach Hause fahren. Unterwegs fängt es an zu regnen, zunächst ganz leicht, aber dann wird es schnell stärker und ich gehe in den nächstbesten Laden, um nicht nass zu werden.



Es ist ein Waffenladen, in dem es Gewehre, Pistolen und Messer gibt. Ich gucke mir die Gewehre an, es interessiert mich, was hier so frei verkauft wird. Nicht, dass ich etwas davon verstehen würde, außer dass das hier keine Luftdruckgewehre sind. Ich nehme eins von der Halterung und lege an, weil ich wissen möchte, wie sich das anfühlt. Als Kind durfte ich kein Spielzeuggewehr haben, auch keines aus Holz. Ich durfte nicht mal eines im Laden ganz kurz in die Hand nehmen. Und jetzt nehme ich mir gleich das nächste und lege noch mal an. Dieses scheint sich besser an meine Schulter zu schmiegen. Das dritte, das ich ausprobiere, ist ein wenig zu schwer. Das vierte liegt am besten in der Hand, ich schaue in den Spiegel, ob es mir so gut steht, wie es sich anfühlt. Ich finde, ich sehe damit gefährlich aus, und fange an zu lachen.



Der Regen wird noch stärker. Ich schaue zur Tür hinaus. Wassermassen fließen die Straße hinunter. Es sieht nicht so aus, als würde es regnen, es sieht aus, als würden Lufttropfen in ein Meer fallen.



Viertes Kapitel, in dem Krishna Mustafa zum Pudding Shop geht, zum ersten Mal Nesrin begegnet und erneut seinen Vater verpasst

Hase hat viel erzählt vom Pudding Shop und wie er dort mal Jörg Fauser getroffen hat, der damals opiatabhängig war. Aber nicht das Opiat, sondern der Alkohol zerstört die Menschen, sagt Hase immer und redet dann von Jim Morrison, Janis Joplin, Jimi Hendrix, aber auch von Amy Winehouse und von Jeffrey Lee Pierce. Hase ist damals nicht bis nach Indien gefahren, sondern irgendwann aus Afghanistan wieder zurück nach Deutschland, aber das ist eine andere Geschichte.



Meine Mutter hat nicht so viel erzählt vom Pudding Shop, außer dass mein Vater und sie sich dort kennengelernt haben. Und dass es dort diesen Pudding gibt, in dem auch Hühnchenbrust ist, auch wenn man das nicht schmeckt.



Jetzt stehe ich vor dem Pudding Shop und ein Reiseführer lotst eine ganze Busladung amerikanischer Touristen rein. Die Touristen sind alt und dick und laut und ich frage mich, ob der Pudding Shop es schöner gefunden hat, als noch mehr junge Menschen ein und aus gingen. Ich warte draußen, dass es leerer wird, doch die letzten Amerikaner stehen mit ihren Tabletts noch an der Kasse, da kommt schon die nächste Reisegruppe und drängelt sich rein.



Der Pudding Shop war selbst wohl auch noch jünger und hübscher, als Hase hier gewesen ist. Er hieß ja auch gar nicht Pudding Shop, sondern Tulpe. Damals hatten noch nicht so viele an ihr gerochen, sie hatte ihren eigenen Duft und vielleicht hatte sie Träume, was sie mal werden wollte. Sie hatte einen eigenen Duft und sie war ein kluges Mädchen, sie wusste viel, deswegen kamen alle zu ihr und so lernte sie noch mehr. Sie lernte etwas von der Welt, von den Menschen, von den Straßen, von den Autos und Kleinbussen, sie sah zukünftige Schriftsteller, sie sah Menschen auf Drogen, sie sah wenigstens einige Tage lang dieselben Gesichter und konnte sie wiedererkennen, sie roch den Duft der freien Liebe.

 



Doch dann änderte sie ihren Namen, sie vergaß, was sie einmal gewusst hatte, und nahm auf einmal jeden. Jeder, der genug Geld hatte, konnte rein und raus, und die meisten kamen nur einmal und machten sich nicht die Mühe, sie richtig anzuschauen. Also gab sie sich auch keine Mühe, sie lehnte sich zurück und ließ es über sich ergehen. Sie hatte ihren ursprünglichen Duft verloren, doch das scherte die Besitzer wenig.



Solange sie genug Geld einbringt, wird sie weiter am Straßenrand stehen und die Touristen werden ihre Tür öffnen (Tausende Male) und hineingehen, ohne zu ahnen, dass sie mal schön gewesen sein muss.



Natürlich weiß ich, dass ein Restaurant keine Tulpe ist; und selbst wenn sie eine wäre, hätte sie keine Augen und keine Ohren und könnte nichts sehen und nichts hören. Aber manchmal arbeitet mein Kopf für sich allein. Hase behauptet, ich sei naturstoned.



Ich stehe vor dem Pudding Shop und frage mich, ob er ein Teil meiner Identität ist, weil meine Eltern sich dort kennengelernt haben. Dann frage ich mich, ob Laura einen neuen Freund finden wird und ob ich dann traurig sein werde. Und ob sie ihn wieder verlassen wird, wenn sie sieht, dass ich meine Identität gefunden habe. Aber wie soll sie mir später ansehen, dass ich vor dem Pudding Shop gestanden habe?



Ich gehe rein, als die Schlange nicht mehr bis vor die Tür geht, und nehme ein Tavuk göğsü, den Pudding mit zarten Fäden von Hühnchenbrust. Und Döner. Ich glaube, der Döner ist Teil der türkischen Identität, deshalb hieß es

Dönermorde

, als diese ganzen Türken ermordet wurden. Sie essen Döner und sie sterben, das reichte für ihre Identität. In meiner Identität ist vielleicht irgendwie weniger Fleisch drin, weil ich ja auch weniger Türke bin.



Als ich wieder rauskomme, ist da eine Frau vor dem Laden, die etwa so alt ist wie ich und auch Dreadlocks hat. Ich lächle sie an, dann fällt mir wieder ein, dass ich ja keine Dreadlocks mehr habe und wieder diese Kappe trage und sie bestimmt nicht weiß, warum ich sie einfach so anlächle.



Ich hatte auch Dreadlocks, sage ich auf Englisch zu ihr, bis gestern, da habe ich sie mir schneiden lassen.



Sie nickt.



Ich heiße Krishna Mustafa.



Ich heiße Nesrin.



Oh, du bist Türkin, sage ich auf Türkisch.



Sie nickt.



Wartest du hier auf jemanden?



Ja, auf einen Krishna Mustafa, der kommt und ein wenig Hirschplauderei mit mir betreibt.



Was ist Hirschplauderei?



Sie sieht mich an.



Verzieh dich, mein Sohn, yallah.



Und wenn du das freundlich sagen würdest, wie würde das klingen?



Bist du bekloppt, oder was? Verpiss dich.



Ich hatte wirklich Dreadlocks, sage ich, aber sie guckt so böse, dass ich tatsächlich gehe. Ich bin ohnehin mit meinem Vater verabredet und muss noch zur İstiklal, ich möchte nicht schon wieder zu spät sein.



Ich weiß nicht, was mein Vater mit diesem Starbucks hat, aber nachdem ich eine Viertelstunde davor auf ihn gewartet habe, ruft er an und fragt, wo ich bin.



Vor dem Starbucks.



Ich auch.



Ich sehe dich nicht.



Ich dich auch nicht, sage ich, heb doch mal die Hand.



Ich sehe mich um, doch niemand hebt die Hand.



Was für ein Laden ist neben dem Starbucks? fragt mein Vater.



Wieso, frage ich, wollen wir uns lieber dort treffen?



Was für ein Laden?



Topshop Topman

 steht hier.



Du stehst vor einem anderen Starbucks als ich, sagt er.



Oh. Okay. Warte. Ich finde dich.



Ich frage im Laden und gehe zum nächsten Starbucks, doch dort sehe ich meinen Vater auch nicht. Ich rufe an.



Dann gibt es wohl drei, sagt er, jetzt warte du.



Zehn Minuten später ruft er an und möchte wissen, wo ich bin.



Immer noch vor dem Starbucks.



Vier, Scheiße, es sind vier. Vier Buttfuck. Vier verdammte, muttergefickte Buttfuck. Als hätten nicht wir den Kaffee extra bis nach Wien gebracht, damit er sich von dort aus verbreiten kann, als würde das nicht alles auf uns zurückgehen. Da kommen die und machen gleich vier Buttfuck in einer Straße auf, damit der Osmane nicht hochmütig werde, damit er traurig und verwirrt sei. Latte mich am Arsch.



Dann bekommt er einen Anruf rein und muss dringend weg. Wir verschieben unser Treffen.



Fünftes Kapitel, in dem Krishna Mustafa Yunus und Esra kennenlernt, die Geschichte ihres Pudding Shops hört und sich fragt, warum Liebeskummer und Laura mit L anfangen

Mein Vater ist heute Morgen an die Ägäis geflogen, um mal ein paar Wochen auszuspannen, wie er sagt. Wir werden uns erst sehen können, wenn er wieder zurück ist. Yunus und Esra kommen gerade von der Ägäis zurück, wo sie ein paar Tage mit Esras Eltern Urlaub gemacht haben.



Esra ist braungebrannt, aber man kann erkennen, dass sie von Natur aus dunkel ist, dunkler noch als ich. Ihre Augenbrauen sind gezupft, doch da sind so kleine Punkte, an denen man sieht, dass sie ziemlich dick sein müssen. Die Haare an ihren Armen sind lang und ihre Nase wirkt ein wenig zu groß für ihr Gesicht. Sie kommt aus Hatay, sagt aber, dass ihre Familie ursprünglich aus dem Iran stammt.



Yunus ist ein hellerer Typ mit lockigen Haaren und einem Flaum im Gesicht, der vielleicht ein Bart werden wollte, nun aber feststellen muss, dass sich seine Hoffnungen nie erfüllen werden. Er kommt aus Zonguldak an der Schwarzmeerküste.



Man fragt hier immer, woher jemand stammt, aus welcher Provinz die Familie kommt. Mein Vater lebt nun schon seit über 27 Jahren in Istanbul, mehr als die Hälfte seines Lebens, aber wenn er nach seiner Heimat gefragt wird, sagt er Kars. Und wenn man mich fragt, sage ich auch Kars, obwohl ich noch nie da war.



Yunus ist der andere Mitbewohner hier, Esra ist seine Freundin, und während der Ventilator die Luft dreht und dreht, ohne dass sie kühler wird, sitzen wir im Wohnzimmer und reden. Es ist etwas an den beiden, das schön ist und weh tut. Ich verstehe nicht warum, aber manchmal bekomme ich trotz der Hitze eine Gänsehaut, wenn ich die zwei ansehe, manchmal verknotet sich mein Magen, als wäre er ein Taschentuch, das mich an etwas erinnern möchte.



Als ich den beiden erzähle, wie ich bei Erdoğan war, fällt Esra fast von der Couch vor Lachen.



Aber so ist es ja, sagt sie, so viel Unterschied ist da nicht. Der Mann ist lustig. Warum sollten wir Bäume fällen wollen, wir haben genau drei Quadrillionen Bäume in diesem Land gepflanzt.



Das hat er wirklich gesagt, ergänzt Yunus.



Wer?



Recep Tayyip Erdoğan, der Präsident, der, der uns Çapulcu genannt hat, nicht Yılmaz Erdoğan, der auf der Zugfahrt von Ankara nach Hakkâri die Bäume entlang der Schienen gezählt hat.



Der, der uns zusammengebracht hat.



Yılmaz Erdoğan hat euch zusammengebracht?



Nein, RTE.



RTL? Ihr habt euch bei einer Fernsehsendung kennengelernt?



RTE. Recep Tayyip Erdoğan.



Der hat euch zusammengebracht?



Ja, sagt Yunus, wir sind diesem Mann Dank schuldig.



Ja, sagt Esra, wie sollte denn die Tochter eines Sufi-Derwisches, die in Tarabya wohnt, den Sohn eines Fischers kennenlernen, der in Mecidiyeköy ein Zimmer hat? Einen, der für die Arbeit am Rechner sitzt und in seiner Freizeit Candy Crush und GTA spielt? Wie sollte eine BWL-Studentin einen freien Programmierer kennenlernen, der eigentlich nur für Kundenbesuche und Beşiktaş-Spiele das Haus verlässt und sonst in seinem Rechner wohnt?



Wie? Weil ihr beide beim Präsidenten wart?



Gezi, sagt Yunus, das ging nur bei Gezi, da kamen alle zusammen. Junge, Alte, Kurden, Aleviten, Marxisten, Moslems, Schwule, Lesben, Hip-Hopper, Metaller, Rocker, Playstation-Zocker, Fußballfans, Studenten, Schüler, Gezi hat alle Grenzen aufgehoben, wir haben einfach alle zusammen geweint, weil die Polizei so rührend war, wir habe alle zusammen gelacht, wir sind zusammen weggelaufen, wir haben zusammen Rennie und Talcid genommen.



Rennie und Talcid?



Ja, gegen die Schmerzen vom Tränengas.



So werden wir unser Kind nennen, sagt Esra, wenn es ein Mädchen wird, Rennie, wenn es ein Junge wird, Talcid.



Du bist schwanger?



Nein. Das war ein Witz.



Ach so.



Was heißt achso?



Das ist so ein deutsches Wort, das man immer sagen kann.



Und wir sind uns auch nicht einig, sagt Yunus, wenn es ein Mädchen wird, möchte ich es Tazyık nennen, wenn es ein Junge wird, Toma.



Beide lachen.



Ich verstehe wieder nicht.



Kennst du Toma?



Nein, sage ich.



Toma, das ist die Abkürzung für Toplumsal Olaylara Müdahale Aracı, so heißen hier die Wasserwerfer, die sprühen Wasser mit viel Druck. Druck, tazyık, du kennst das Wort?



Ich nicke.



Toma, Toplumsal Olaylara Müdahale Aracı, zu Deutsch Interventionsfahrzeuge für gesellschaftliche Ereignisse. Das ist lustig. Als würde man Panzer Streitwagen für nicht verbale Auseinandersetzungen nennen.



Ihr habt euch im Tränengas kennengelernt? frage ich. Das finde ich romantisch.



Ich war schon tagelang mit Toma beschäftigt, sagte Yunus, ich dachte, es wird etwas Ernstes mit uns, doch dann habe ich Esra im Park gesehen, wie sie Essen verteilt hat. Ich habe sie gesehen und dachte: Es gibt keine hässlichen Mädchen, es gibt nur zu wenig Tränengas.



Beide sehen mich an.



Er ist nicht von hier, sagt Esra, er versteht die Witze nicht.



Es ist über ein Jahr her, sagt Yunus, aber wir zitieren immer noch die Graffiti von damals. Hast du um Taksim herum mal gesehen, wie viele Wände grau überstrichen sind? Fast alle. Dort standen diese Sprüche, und wir werden sie später noch unseren Kindern erzählen. Gezi wird später mal als der Wendepunkt angesehen werden, weil wir dort das erste Mal Demokratie, Respekt und Brüderlichkeit gelebt haben, ohne Führer, ohne Dogmen, ohne Druck. Das erste Mal in der Geschichte dieses Landes.



Dort hat unsere Liebe ihren Anfang genommen, sagt Esra.



In einer Tomakratie, sagt Yunus.



Ich habe die Proteste letztes Jahr im Internet mitbekommen. Hase hat mich darauf aufmerksam gemacht. Aus dem Widerstand gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gezi-Park, der einzigen Grünfläche, die es in der Nähe von Taksim noch gibt, wurde eine riesige Bewegung, alle demonstrierten gegen die Regierung. Sonst interessiere ich mich nicht für solche Sachen, doch ich mochte die Energie, die ich dort sah. Ich habe mir viele Clips auf YouTube angesehen und die Hashtags auf Twitter verfolgt.



Esra und Yunus leben die Schwingungen von damals weiter, sie reiten immer noch auf der Welle des letzten Jahres, sie haben die Liebe herausgezogen und für sich bewahrt. Deswegen bekomme ich Gänsehaut. Deswegen verknotet sich mein Magen.



Laura habe ich auf einer Party angesprochen, weil ich auf Partys immer alle Frauen anspreche, die ich noch nicht kenne.



Krishna Mustafa, das ist aber ein schöner Name, hat sie gesagt.



Danke, den habe ich zum Geburtstag bekommen, habe ich geantwortet.



Dann hat sie gelacht, obwohl das die Wahrheit war. Wir haben keinen Pudding Shop und keinen Gezi-Park, wir haben nur ein Lachen, aber das ist doch auch ein guter Anfang.



Alles fängt mit A an. Das ist eine Wahrheit.



Laura mit ihren blonden Haaren, die von den Wurzeln bis zu den Spitzen gehen, Laura mit ihren Beinen, die so lang sind, dass sie bis zum Boden reichen, Laura mit ihren Brüsten, die genau in ihren BH reinpassen. Laura, die mit mir Memory spielte und Lego, mit der ich im Herbst aus Kastanien Tiere bastelte. Laura, die auch gerne Nudeln mit Ketchup isst und dabei fernsieht, Laura, mit der man

Keiner darf den Boden berühren

 spielen konnte und Pippi Langstrumpf gucken (Tausende Male), anstatt in irgendeinen Arthouse-Film zu gehen, wo Kaffeetassen so lange gezeigt werden, bis ich einschlafe. Was lustig ist, Kaffeetassen zum Einschlafen, und wenn man aufwacht, hat man nichts verpasst. Aber Pippi Langstrumpf finde ich noch schöner.



Laura. Liebeskummer. Beides fängt mit L an. Warum? Hätte ich eine Elena finden sollen, Elena wie Ewigkeit? Oder eine Isabelle, die immer für mich da ist?



Alles fängt mit A an. Ich klappe meinen Rechner auf. Laura ist nicht online, das weiß ich, sie ist jetzt auf der Arbeit. Im Kindergarten. Ich klappe den Rechner wieder zu. Ich schreibe ihr auf WhatsApp, dass ich sie vermisse und dass ich gerne wieder mit ihr zusammen wäre. Dass ich in Istanbul bin und suche. Ich schreibe ihr, was ich ihr jetzt schon fünfmal so ähnlich geschrieben habe, ohne dass sie geantwortet hat.



Ich höre Yunus und Esra nebenan ins Yunus’ Zimmer lachen. Ich mache den Fernseher an. Auf dem Couchtisch liegt ein Buch mit Gedichten auf Türkisch und Deutsch, wahrscheinlich gehört es Emre. Ich lese die Seite, die ich aufs Geratewohl aufschlage.

 



Bist du denn fremd hierhergezogen –



Ach, warum weinst du, Nachtigall?



Und hast ermattet dich verflogen?



Ach, warum weinst du, Nachtigall?



Ach, wie so bitter klingt dein Flehen!



Neu lässt du meinen Schmerz erstehen!



Du möchtest deinen Freund wohl sehen?



Ach, warum weinst du, Nachtigall?



Ihr Augen, die im Schlafe ruhten,



Erwachend hebt ihr an zu bluten –



Mein Herz verbrennt in hellen Gluten –



Ach, warum weinst du, Nachtigall?



Ich schlage das Buch wieder zu und weine. Das letzte Mal habe ich geweint, als ich 15 war. Ich sollte kochen lernen, weil meine Mutter einen modernen Mann aus mir machen wollte. Ich wollte nicht. Sie redete wie immer viel, Worte wie Gleichberechtigung, tradierte Rollenverteilung, Machtgefälle, patriar