Schieben sie noch ... oder TUN® sie schon?

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II.2. Verwandte bestimmen Ihr Leben
Unser Gehirn und seine „Draufspieler“

Kommen wir ohne Umschweife zunächst zu den Tatsachen. Beim Fötus entwickelt sich im Gehirn zunächst eine Unmenge von Neuronen, von denen ein Großteil noch vor der Geburt wieder abgebaut wird. Ein Neugeborenes startet mit ca. 100 Milliarden Neuronen ins Leben und befindet sich damit aus quantitativer Sicht auf gleicher Ebene mit seinen Eltern. Allerdings sind seine Neuronen noch kleiner und wenig miteinander vernetzt. Interessanterweise ist übrigens die rechte Hemisphäre eines Säuglings etwas weiterentwickelt als die linke.

In den ersten drei Lebensjahren nimmt die Zahl der Synapsen rasant zu – eine Gehirnzelle kann bis zu 10 000 ausbilden. Mit zwei Jahren entspricht die Menge der Synapsen derjenigen von Erwachsenen, mit drei Jahren hat ein Kind bereits doppelt soviel. Die Anzahl (200 Billionen) bleibt dann bis zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts relativ konstant. Bis zum Jugendalter wird rund so Hälfte der Synapsen wieder abgebaut, bis die für Erwachsene typische Anzahl von 100 Billionen erreicht wird. Verbunden mit diesem rasanten Wachstum von Synapsen ist eine rasche Gewichtszunahme des Gehirns: von 250g bei der Geburt über 750g am Ende des ersten Lebensjahres bis 1300g im 5. Lebensjahr. In der Pubertät wird schließlich das Endgewicht erreicht. Die doppelt so hohe Anzahl von Synapsen erklärt auch, warum das Gehirn eines Dreijährigen mehr als doppelt so aktiv ist wie das eines Erwachsenen. Außerdem enthalten die Gehirne von (Klein-)Kindern größere Mengen bestimmter Neurotransmitter. Sie haben einen fast doppelt so hohen Traubenzuckerverbrauch wie die Gehirne von Erwachsenen, benötigen also mehr Energie. Jedoch sind sie weniger effizient: Die neurale Geschwindigkeit nimmt zwischen Geburt und Abschluss der Pubertät um das 16fache zu.

Die Ausbildung von doppelt so vielen Synapsen wie letztlich benötigt werden ist ein Zeichen für die große „Formbarkeit“ des Gehirns – und die enormen Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkinds. Das Neugeborene fängt geistig praktisch bei Null an: Abgesehen von ein paar Instinkten ist es weitgehend auf Wahrnehmung und Reaktion beschränkt. Die Regionen des Gehirns, die später für komplexe Funktionen wie Sprechen und Denken zuständig sind, liegen weitgehend brach. Aber das genau ist die große „Chance“ des Menschen: Der Neugeborene ist praktisch für ganz unterschiedliche Kulturen und Milieus offen – für einen Indianerstamm aus Jägern und Sammlern im brasilianischen Dschungel, für eine Hirtengemeinschaft in den Savannen Afrikas, wie auch für eine hoch technisierte Wissensgesellschaft in den USA, Japan oder Europa.

Die Überproduktion von Synapsen in den ersten Lebensjahren ermöglicht das schnelle Erlernen ganz unterschiedlicher Verhaltensweisen, Sprachen, Lebensstile usw. Ein großer Teil der weiteren Gehirnentwicklung bei Kindern besteht dann darin, die für ihre Lebenswelt nicht relevanten Synapsen abzubauen und die benötigten Bahnen zwischen Neuronen zu intensivieren. So bestimmt letztlich die Umwelt und das in ihr Erfahrene, Gelernte, Erlebte, Aufgenommene – zu einem großen Teil die Struktur des Gehirns.

Und: Babys und Kleinkinder müssen nicht zum Lernen motiviert werden, ihre Sinne sind voll auf Empfang geschaltet, ihr Gehirn reagiert auf jeden Input mit der Bildung neuer Synapsen. Babys und Kleinkinder sind auf selbsttätiges Lernen hin angelegt. Eltern wissen dies „instinktiv“ und reagieren entsprechend, spontan richtig führen sie ihre Gesichter im richtigen Winkel und im richtigen Abstand an das Neugeborene heran. Dabei bleibt es aber nicht. Es kommt noch dicker.

In meinen Seminaren stelle ich gern die ein wenig ironisch gemeinte Frage: Sagen Sie, wer sitzt denn nun eigentlich heute hier? Wer hört eigentlich meine Worte, wer sieht sich meine Zeichnungen am Flipchart an? Sie oder Ihre Verwandtschaft? Es muss an der Frage liegen, die meisten Teilnehmer beginnen ahnend zu schmunzeln und sich einig in der Antwort: Die Verwandtschaft. Verwandtschaft steht hier für Eltern, Großeltern, Geschwister, Onkel, Tanten und meint eigentlich Familie. Gelegentlich nenne ich Sie auch die „Draufspieler“.

Sie kennen diese Situation vielleicht aus der Presse, aus dem Fernsehen oder womöglich aus dem eigenen Leben. Ein Mediziner, nach den Ursachen seiner Erfolge befragt, könnte durchaus antworten: „Sehen Sie, mein Großvater war schon Arzt, mein Vater praktizierte in derselben Stadt …“. Eine Pfarrerin könnte die Frage nach den Hintergründen Ihres seelsorgerischen Engagements so beantworten: „Sehen Sie, ich entstamme einer sehr religiösen Familie …“. Und schließlich der junge Schulabgänger, befragt nach dem Warum seines Berufswunsches: „Wissen Sie, meine Mutter und deren Tante sind Krankenschwester, für mich kam nur der Beruf des Pflegers in Frage …“ Nehmen wir noch die junge Pianistin und eine ähnliche Frage, die Antwort könnte so ausfallen: „Bei uns zu Hause wurde schon immer musiziert …“ Aha, denke ich dann immer an solchen Stellen und beginne – ohne Wertungen oder gar Abwertungen treffen zu wollen – zu überlegen.

Ich sagte oben, dass die Umwelt zu einem großen Teil die Struktur des Gehirns bestimmt und das gilt besonders für die Phase seiner Entwicklung bis hin zur völligen Ausgestaltung. Zu dieser Umwelt gehören nun nicht nur sachliche Bezüge, sondern vor allen Dingen menschliche. Diese wiederum werden in ihrer Kindheit im Wesentlichen ausgestaltet von, natürlich, von Ihrer Familie.

Sie alle kennen den berühmt-berüchtigten Satz: Das hat er/sie von seiner/ihrer Mutter. Und damit will nicht das unscheinbare Leberfleckchen auf der Nase gemeint sein, dafür ist dieser Satz zu bedeutungsvoll in den Raum gestellt worden. Nein, man meint damit jene positiven, aber auch negativen (das ist von der jeweiligen Sichtweise her unterschiedlich) Fähigkeiten, Eigenschaften eines Menschen, deren Herkunft man sich so vermeintlich ganz rasch erklären kann. Sie kennen auch die Formulierung „Ganz der Papa“.

Ich denke schon, dass menschliche Anlagen und Veranlagungen, Talente, Charaktere, aber auch Wertvorstellungen, moralische Grundauffassungen, weltanschauliche Sichtweisen (religiöse wie nichtreligiöse) usw. tatsächlich von Generation zu Generation weitergegeben werden, sie werden „draufgespielt“ und das fällt offensichtlich nicht schwer. Das sich entwickelnde Gehirn ist ja permanent auf Empfang gestellt. Aber: Es empfängt unselektiert. Und hier beginnt die Angelegenheit interessant zu werden.

Es sind lediglich die Anlagen, die weitergegeben werden, es handelt sich um Möglichkeiten, von mir aus um Wesenheiten. Um bildlich zu sprechen: Es handelt sich um Baupläne, Entwürfe für ein Gerüst, nach denen sich die Entwicklung vollzieht. Was daraus wird, hängt von der Umwelt ab. Aber diese Baupläne beginnen allmählich so etwas wie ein Eigenleben in uns zu führen, um uns schließlich „zu führen“. Sie werden zu einem Gesamtarsenal von „inneren Ursachen“, von denen wir dann auch noch meinen, gegen sie nicht angehen zu können. Mir fällt an dieser Stelle immer die psychologisch gut ausgedachte Werbeformulierung eines großen schwedischen Möbelherstellers ein: Wohnen Sie noch oder leben Sie schon!? Der Hinweis auf die Umwelt ist hier dann nämlich auch nicht unbedingt hilfreich. Er verlagert quasi die Ohnmacht angesichts der eigenen „inneren Umstände“ auf äußere. Dabei würde es schon genügen, einmal über das Wort „Umwelt“ nachzudenken. Es meint doch die Welt „um mich herum“. Also meint es auch mich. Muss es ja auch. Die Welt um Sie herum ist immer Ihre Welt. Anders formuliert: Was aus meinen Bauplänen, diesen vorhandenen Entwürfen für ein Gerüst schließlich einmal wird, hängt von mir ab.

Ich will damit nicht jedem Arztsohn unterstellen, aus inneren Zwängen heraus auch wieder Mediziner geworden zu sein. Ich will auch nicht jeder Pianistin einreden nur deshalb Klavier zu spielen, weil eben zu Hause schon immer musiziert worden ist. Ich will schließlich uns allen nicht unterstellen, lediglich als Recorder für „Draufgespieltes“ zu agieren, um es anschließend wiederzugeben, Knopfdruck genügt. Ich will Sie aber regelrecht davor warnen, das „Draufgespielte“ womöglich zu unterschätzen oder gar vor ihm zu kapitulieren.

Immer dann, wenn Sie also „Draufgespieltes“ realisieren, verwirklichen Sie alles Mögliche, nur nicht sich selbst. Getragen von der Überzeugung, dass z.B. Ihre Eltern eine gute Ehe geführt haben oder führen meinen Sie womöglich, es ihnen ähnlich tun zu müssen. Ich will es Ihnen so hart als möglich sagen: Sie tun hier gar nichts, Sie lassen tun.

Um also im TUN® anzukommen, müssen Sie sich, wiederum überspitzt formuliert, eine grundlegende Frage beantworten: Wie werde ich meine Verwandtschaft los? Ich behaupte, dass das eine ungemein wichtige Frage ist. Werden Sie diese Frage nicht „tat-“sächlich beantworten, können Sie nie ein authentisches Leben führen.

Kürzlich las ich ein Interview des ZDF mit der Partnervermittlerin Elke Grasshoff. Dieses Interview hat mich sehr nachdenklich gemacht. Voranstellen will ich, dass Elke Grasshoff eine Partnervermittlung für Landwirte betreibt. Jetzt werden Sie sicherlich fragen, was heiratswillige Jungbauern mit Ihrem Leben zu tun haben. Die entsprechenden Antworten von Elke Grasshoff auf die entsprechenden Fragen des ZDF beschreiben sicherlich keine alltäglich und ständig anzutreffende Gegebenheit. Nur in Nichtalltäglichkeit verweist diese Gegebenheit doch sehr deutlich auch auf unseren Alltag. Und wenn Sie ganz genau und vielleicht auch zwischen den Zeilen lesen, erkennen Sie sich eventuell wieder. Das muss nicht die hier beschriebene Situation meinen, kann aber einen Ausschnitt aus Ihrem Leben betreffen.

 

ZDF: „Partneragenturen gibt es inzwischen wie Sand am Meer. Wie sind Sie darauf gekommen, eine Agentur speziell für Landwirte zu gründen?“

Grasshoff: „Mein starkes Interesse kommt wohl daher, dass immer der Gegenpol von dem, was man selbst lebt, faszinierend erscheint … Dazu kommt sicherlich eine gewisse Sehnsucht, denn das Land hat viel von dem, was die Stadt heute nicht mehr bieten kann …“

ZDF: „Sie haben mit „Moderne Prinzen fahren Traktor“ ein Buch über Landwirte geschrieben, die unfreiwillig zu Singles geworden sind. Ist das Buch eine Lebenshilfe für den modernen Bauern?“

Grasshoff: „Landwirte mögen mein Buch, denn es bringt neue Fragestellungen … Landwirte stellen im Allgemeinen zu wenige Fragen – insbesondere meiden sie Fragen an sich selbst … Ihre Realität sieht so aus, dass sie sich als Kind anpassen mussten und sehr abhängig von ihren Eltern groß wurden. Auch der Verzicht spielt eine große Rolle: Während andere Kinder ins Schwimmbad gingen, halfen Kinder von Landwirten auf dem Hof … Und als Erwachsene lösen sich junge Landwirte zu wenig von ihren Eltern – immerhin möchten sie ja den Hof erben …“.

ZDF: „Auf welche Probleme treffen Sie bei den hilfesuchenden Landwirten?“

Grasshoff: „Die Hauptprobleme, die mir in meiner Arbeit begegnen, sind viel zu enge Mutter-Sohn-Bindungen und/oder eine strenge und lieblose Vater-Sohn-Beziehung, die keine gelebten Gefühle erlaubt … Der Betrieb ist alles und vor allem er deckt alles ab. Was die wachsenden Gefühle des Sohnes zu einer bestimmten Frau angeht …, so werden sie als unwichtig und nebensächlich abgetan oder schlichtweg totgeschwiegen und ignoriert … Oft soll der Sohn in den Augen der Eltern die normalen Liebensbedürfnisse eines erwachsenen Mannes unterdrücken und die Eltern sehen ihn, auch wenn er längst ein Mann ist, immer noch gerne und lieber als pubertären Jungen, für den Sex und die Beziehung zu einer Frau an letzter Stelle zu stehen hat.

Diese Sichtweise ändert sich oft auch leider nicht mehr, selbst wenn die Männer schon weit über 40 Jahre sind … Sie haben nun die Wahl, sich durchzusetzen, Mut zu haben und dagegen anzugehen, oder sich kampflos dem Irrbild ihrer Eltern zu fügen und allein zu bleiben …“

Mir ging es jetzt beim Lesen diese Interviews nicht darum, dass sich womöglich die Denkweisen und Lebensansichten der Eltern dann doch noch irgendwann ändern. Werden sie nicht. Mir geht es um den Satz „kampflos dem Irrbild der Eltern zu fügen“. Das ist der interessante Part dieses Interviews. Mit 30, 40 Jahren kann es nicht mehr darum gehen, sich irgendeinem Irrbild zu fügen. Die Frage muss hier anders lauten: Welchen Bildern beuge ich mich eigentlich? Richtig, ich beuge mich meinen Bildern. Nur sind eben die Eigentumsverhältnisse nicht ganz eindeutig. Denn es sind ja gar nicht meine eigenen Bilder, es sind, um bei diesem Ausdruck zu bleiben, die „Irrbilder“ der Eltern.

Bewusst – Moral und Dogmen/Glaubenssätze

Bevor wir über eine Brücke ins Reich des Unbewussten gehen, möchte ich mit Ihnen gemeinsam eine Reise ins Land des Bewussten unternehmen.

Das Wort „bewusst“ erlebt, diesen Eindruck habe ich, im deutschsprachigen Raum eine ungeahnte Konjunktur. Sie können bewusst bauen und bewusst abnehmen, sie können preisbewusst, umweltbewusst, modebewusst und körperbewusst sein. Sie können überhaupt bewusst leben, Sie können sich bewusst bewegen und neuerdings sogar bewusst ins Internet gehen.

Bewusst hat etwas mit Bewusstsein zu tun und schon beginnen die Schwierigkeiten. Eigentlich sind diese Schwierigkeiten so alt wie das menschliche Denken selber. Der französische Philosoph Descartes formulierte einen berühmten Satz: „Ich denke, also bin ich.“ Damit machte er seine eigene Existenz zum absolut felsenfesten Ausgangpunkt seiner Überlegungen. Aber was war er? Er konnte sich vorstellen, keinen Körper zu haben, aber nicht, nicht zu denken, und daraus schloss er, dass es seine Natur war, zu denken und Bewusstsein zu haben. Die meisten Menschen – und nicht nur Philosophen – stimmen dem Descartes darin zu, dass es das „bewusste Denken“ ist, was uns Menschen zu etwas Besonderem macht.

Wir wissen, dass wir ein bewusstes geistiges Leben führen, heißt es in „Sofies Welt“ und: „Wir denken, wir empfinden Schmerz und Freude, wir hoffen, wir lieben usw. Dadurch entsteht ein schwieriges philosophisches Problem. Denn auf der einen Seite ist nichts uns bewusster als unser bewusstes geistiges Leben. Auf der anderen Seite verstehen wir es überhaupt nicht. Wir haben keine Theorie, die erklärt, was unser geistiges Leben ist und wie es funktioniert. Wir haben nicht einmal eine gute Definition des Bewusstseins …“.

Schon die Denker aus vergangenen Zeiten wussten, dass das Bewusstsein etwas mit dem Gehirn zu tun haben muss. Aber wie kann das Gehirn etwas so Wunderbares und gleichzeitig Geheimnisvolles wie das Bewusstsein erschaffen.

Für Gen- und Gehirnforscher ist der Mensch Materie, die aufgespaltet, zergliedert und zerlegt werden kann. Neurologen dringen immer tiefer in die Regionen unseres Bewusstseins vor. So wollen französische Forscher im Jahre 2001 Hinweise gefunden haben, wie das menschliche Gehirn Bewusstsein „erzeugt“. Demnach sorgen eine fortlaufende Verstärkung des Reizes und eine Aktivierung von Regionen im vorderen Teil des Gehirns dafür, dass man ein Ereignis bewusst wahrnimmt.

Bewusstsein ist also nichts anderes als ein biochemischer und elektrischer Prozess, der spezieller Hirnregionen zuzuordnen ist?

Sind wir also nur komplexe Systeme, die analysierbaren Bau- und Schaltplänen gehorchen? Ist in dieser Welt der Neuronen und Nukleotide noch Platz für eine Psyche, für jenes „Selbst“, auf dem die Gedankengebäude der Wissenschaften, der Glauben der Religionen, die Therapien der Psychologen und die Erziehungsbemühungen unserer Eltern basieren?

Tatsache ist, dass das menschliche Bewusstsein eine Funktion des Gehirns ist, bei dem sich die Natur- und Geisteswissenschaftler schwertun, es plausibel zu erklären. Und ich denke, die Schwierigkeit liegt in der Subjektivität des Bewusstseins. Die Weltbevölkerung zählte am 06. November 20016 exakte 7.473.222.847 Menschen und somit 7.4793.222.847 „Bewusstsein(e)“. Die deutsche Sprache kennt Bewusstsein nur im Singular.

Das verführt natürlich dazu, nach dem Bewusstsein zu suchen und auf dem Weg dahin wird es selbstverständlich objektiviert. Nur – so die britische Psychologin Susan Blackmore – wenn man jemand den Schädel öffnet, dann findet man kein Bewusstsein. Man findet Gehirnzellen. Selbstverständlich sind sie „beteiligt“, wenn Sie z.B. Eis essen. Nur ist der Geschmack von Erdbeereis doch etwas anderes als nur neuronale Aktivität. Und die innere Erschütterung beim Hören von Mozarts Requiem ist nicht identisch mit den neuronalen Mustern, die parallel zum Musikhören im Gehirn ablaufen. Man sagt, ‚rot zu sehen’, wenn das Gehirn und die Netzhaut mit elektromagnetischen Wellen von der und der Länge beschossen werden. Aber wie Sie das Rot empfinden, ist mit einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung nicht beobachtbar. Klar ist, dass Bewusstsein mit physiko-chemischen Prozessen verbunden ist und ohne diese nicht „funktioniert“. Was jedoch die neuronalen Aktivitätsmuster mit dem Inneren Erleben verbindet, was sozusagen das Bewusstsein zu Selbstbewusstsein macht, ist unklar. Bewusstsein, wenn Sie wollen, Geist ist nur introspektiv (auf dem Weg der Innenschau, der psychologischen Selbsterkenntnis) erfahrbar. Das bedeutet, dass der Mensch sich neurobiologisch nicht erklären kann, was es ist, bewusst zu sein. Wir können uns erklären, welche Funktionen Bewusstsein hat. Das Gefühl, bewusst zu sein, ist – zumindest derzeit – nicht erklärbar.

Sie werden und können von mir nicht verlangen, dass ich diese „Unklarheiten“ ausräume. Ich kann Ihnen nur sagen, was Bewusstsein nicht ist: Bewusstsein ist keinesfalls Gehirn. Die Vorstellung, dass das Gehirn identisch mit unserem Bewusstsein ist oder dass es diesen hervorbringt, entspricht der Annahme, dass die Hardware die Software ist oder sie erschafft.

Ich beschränke mich daher darauf, Bewusstsein als den Eingang zu meinen eigenen Gedanken und Gefühlen zu verstehen, als die Reflexion des eigenen Ichs und damit als Selbstbewusstsein. Ich meine nicht jenes Verständnis von Selbstbewusstsein, welches sich vielerorts als Selbstsicherheit oder Selbstvertrauen outet. Selbstbewusstsein meint hier eher das Gefühl der eigenen Persönlichkeit.

Mit dem Bewusstsein ist es wie der Musik. Sie ist ein fundamentales Medium des Mentalen, aber kann Musik sagen, was sie ist? Wir können Musik ansprechen, aber nicht aussprechen und Musik wiederum kann nur sich aussprechen, aber nicht sagen, was sie ist.

Bewusstsein in diesem Verständnis ist das leise Gespräch mit sich selbst. Wenn Sie über Ihr Bewusstsein nachdenken werden Sie merken, dass ein wesentlicher Teil Ihres Bewusstseins ein leises, unhörbares Gespräch mit sich selbst ist. Es wird Ihnen nicht sagen, was es ist, aber es zeigt sich Ihnen: als Gedanke, als Gefühl, als Ahnung, als Wissen, als Glauben, es offenbart sich Ihnen auch im Kontext von Einstellungen, Werten und Glaubenssätzen.

„Der Mensch ist das, woran er glaubt …“ meinte schon der russische Dichter Anton Tschechow. Weniger prosaisch meint dieser Satz, dass Dogmen/Glaubenssätze – von denen wir übrigens fest überzeugt sind – unser Denken, Fühlen und Handeln prägen. Entscheidend dabei ist – und das steckt schon im Wort „Glauben“ –, dass es sich hierbei nur um eine mögliche Sicht der Dinge handelt und nicht um deren Wahrheit. Aus dieser Perspektive stellen sich Dogmen/Glaubenssätze als Meinungen oder Überzeugungen dar. Sie werden so intensiv verinnerlicht, dass wir sie nicht mehr reflektieren, unsere Dogmen/Glaubenssätze passieren uns, werden uns „aufgespielt“. Das geschieht irgendwann in unserer Kindheit, während der ersten sechs bis sieben Lebensjahre. Sie haben diese „Draufspieler“ schon kennen gelernt: Es sind die Erwachsenen im Allgemeinen und die Verwandtschaft im Besonderen.

Dogmen/Glaubenssätze sind also keine naturgegebenen Bewusstseinsinhalte. Und dann, ganz wichtig, ist es doch so, dass wir uns nicht ein Leben lang auf der Ebene eines Sechs- oder Siebenjährigen bewegen. Jeder von uns gewinnt seine persönliche Sichtweise. Jeder macht seine Erfahrungen. Wobei laut Aldous Huxley Erfahrung nicht nur das ist, was einem Menschen geschieht. Erfahrung ist auch das, was ein Mensch aus dem macht, was ihm geschieht.

Das bedeutet nämlich, dass wir unsere Dogmen/Glaubenssätze ändern, aufgeben, verbessern und austauschen können. Es ist gut zu wissen, dass uns Dogmen/Glaubenssätze nicht bis an Ende unserer Tage bestimmen. Sie haben felsenfest daran geglaubt, dass der Klapperstorch Ihre kleine Schwester gebracht hat. Nur gut, dass Sie diesem Glauben inzwischen abgeschworen haben, Sie hätten heute noch keine Familie. Aber seien Sie ehrlich, es gibt sicherlich eine ganze Reihe von Dogmen/Glaubenssätzen, die Sie einfach behalten und „irgendwo her“ haben: Männer können nicht treu sein, Frauen können nicht sachlich bleiben und die Anderen können Sie sowie nicht verstehen. Aber selbst für solche recht schlichten Glaubenssätze gilt: Ein Großteil unseres alltäglichen Daseins wird von ihnen beeinflusst. Darüber hinaus ist die Welt so dimensioniert, dass wir einfach gar nicht alles wissen können. Um uns dennoch in der Welt zu Recht zu finden braucht es solcher Dogmen/ Glaubenssätze.

Sie kennen es, ich kenne es, wir kennen es alle und es wiederholt sich in jedem Jahr. Genauer, zu Silvester. Wir treffen gute Vorsätze für’s neue Jahr. Skeptikern begegnen wir dann in der Regel sehr salopp mit: „Alles, was ich dazu brauche, ist eine Frage der inneren Einstellung.“

Einstellung lässt sich auch mit Haltung oder Gesinnung übersetzen. Im Talmud fand ich eine sehr schöne Darstellung zu diesem Thema.

„Vier Gesinnungen gibt es bei den Menschen: Meines ist mein und deines ist dein; eine durchschnittliche Gesinnung; meines ist dein und deines ist mein; ein Mensch aus dem gemeinen Volke; meines ist dein und deines ist dein; ein Frommer; meines ist mein und deines ist mein; ein Bösewicht.“ Und um Ihnen den Zugang zu meinen weiteren Überlegungen zu erleichtern, ein weiterer Gedanke:

„Eine edle Gesinnung steht allen offen.“ (Lucius Annaeus Seneca; ca. 4 v. Chr. – 65 n. Chr., Politiker, Philosoph und Schriftsteller)

Wir sprechen heute von einer Einstellung zum Leben, zu Kindern, zur Politik, zur Sexualität, zum Hirntotkonzept.

 

Zunächst haben Dogmen/Glaubenssätze und Einstellungen eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Sie sind nicht naturgegeben, sie wurden uns von unseren Vorfahren und werden uns von der Gesellschaft „übertragen“. Und wir brauchen sie, um uns in dieser Gesellschaft zu Recht zu finden. Und schließlich haben wir die Möglichkeit, unsere Einstellungen zu ändern. Sicherlich hatte Seneca Recht, wenn er meinte, dass eine „edle Gesinnung“ allen offensteht. Aber es steht zu vermuten, dass er diese Option auch für eine „niedrige Gesinnung“ offengehalten hat.

Für diese Entscheidung machen wir zu Recht unsere Werte verantwortlich. Werte bestimmen also über Einstellungen unser Dasein. Es sind unsere Werte, die den bewussten Teil unseres Verhaltens und

Handelns bestimmen. Und es ist wichtig zu wissen, dass wir prinzipiell frei sind, unsere Werte zu definieren. Das geschieht im Kontext des Nachdenkens über Werte. Hier will einschränkend vermerkt sein, dass uns dieses Nachdenken erst dann möglich ist, wenn wir ein gewisses Alter erreicht haben. Aber dazu später.

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