Endstation Tod

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Kapitel 4

Leonard Edwards hatte einen seiner besten Tage, und er sparte nicht mit Lob. Es war ihm und seinen Mitarbeitern gelungen, den iranischen Interessen in den Besitz einer Atombombe zu kommen einen Strich durch die Rechnung zu machen und den Verrat hochempfindlicher Informationen zu verhindern. Ein Umstand, der ihn ein wenig übermütig werden ließ, wie es schien.

Clairé saß ihm in einem Büro gegenüber, in dem sie sich schon häufiger getroffen hatte und von dem aus man einen herrlichen Blick über London in Richtung der Themse hatte. Aber der wundervolle Ausblick interessierte sie nicht. Zum einen kannte sie das sich ihr bietende Panorama bereits seit langem, und zum anderen lag ihr der Vorfall am ›Heathrow Airport‹, mit all seinen Toten und Verletzten, von denen einige noch in akuter Lebensgefahr schwebten, schwer im Magen. Hinzu kam, dass sie mit hatte ansehen müssen, wie der Iraner von einem der Hauptfahrwerke mit seinen vier Rädern überrollt wurde. Er war für sie ein äußerst wichtiger Mann gewesen, der ihnen lebend deutlich mehr genützt hätte als tot. ›Fatso‹, wie sie Edwards wegen seiner Leibesfülle insgeheim nannte, hatte sie zwar für ihren Einsatz gelobt, sie selbst konnte sich dennoch nicht den Vorwurf ersparen, dass sie sich von dem Iraner nicht hätte überrumpeln lassen dürfen. Sie war sich sicher, dass alles unblutig über die Bühne gegangen wäre, wenn sie mehr auf der Hut gewesen wäre.

Edwards hingegen sah die Sache weniger schwarz. »Nicht auszumalen, was daraus erwachsen wäre, hätten die Iraner diese Informationen in die Hände bekommen«, seufzte er. »Das hätte sie schnellstens in den Besitz einer Bombe gebracht.« Er wies auf die Flash-Speicher, die ihr vom iranischen Agenten in der Zigarettenpackung zugespielt worden waren.

Clairé hatte inzwischen die Maske abgelegt und sah wieder so aus, wie ihre Freunde sie kannten: mit blauschwarzem, schulterlangem Haar, modisch gekleidet und mit tiefdunklen Kohleaugen, die im Moment von einer gewissen Niedergeschlagenheit umwölkt waren. Auch als sie noch nicht von Edwards eingespannt worden war, war ihr der Tod von Menschen gleichgültig gewesen – und dabei war es für sie unbedeutend, ob es jemand aus dem eigenen oder dem gegnerischen Lager war.

Die Flash-Speicher waren längst von ›Fatsos‹ IT-Spezialisten gesichtet worden.

»Einfach nicht auszumalen …«, setzte Edwards noch einmal an und schüttelte den Kopf. »Aber wir haben es verhindert, und … ja, darauf können wir mit Recht stolz sein, Miss Beauvais.«

Clairé nickte müde. »Wenn Sie das sagen, Sir.«

»Mir scheint, Sie sind nicht sehr glücklich darüber«, erwiderte Edwards. Er musterte sie eindringlich. »Sie machen auf mich den Eindruck, als würden Sie sich nicht wohl fühlen.«

»Vielleicht brauche ich einfach nur eine gewisse Auszeit«, stöhnte Clairé auf. »Es war in letzter Zeit ein bisschen viel, wissen Sie, Sir. Erst der Einsatz in Teheran und jetzt … dieser Vorfall … all die Toten! Das hätte nicht passieren dürfen …«

Edwards Lippen wurden schmal. »Ja«, nickte er bedächtig, »und das geht auch mir sehr nahe, glauben Sie mir. Aber wie hätten wir das vorhersehen können … Der Iran macht uns augenblicklich sehr zu schaffen, wie Sie wissen, und ja … die halten uns ganz schön auf Trab!«

Clairé schaute ihn offen an. »Ich denke, ich sollte für ein paar Tage in die Highlands fahren, um mich zu erholen …«

Edwards hob seine fleischigen Schultern und beugte sich ihr entgegen. »So sehr ich Ihnen das gönnen würde, Miss Beauvais … Aber ich kann Sie augenblicklich nicht entbehren.«

»Sie vergessen, dass ich meinen Unterhalt auf andere Weise bestreite«, entgegnete Clairé mit einem müden Lächeln. »Ich kann meine Kunden nicht laufend vertrösten und Termine aus an den Haaren herbeigezogenen Gründen absagen … Außerdem ...«, sie wies auf die Flash-Speicher, die vor Edwards auf dem Schreibtisch lagen, »... ist der Fall doch abgeschlossen.«

Leonard Edwards nickte. »Dieser Fall ja. Aber das ist leider nicht der Einzige, der uns Kummer macht. Glauben Sie mir, ich bin der Letzte, der Ihnen eine Auszeit missgönnt. Niemand weiß besser als ich über Ihre zahlreichen Einsätze in der jüngsten Vergangenheit Bescheid … und ich verstehe vollkommen, dass Sie Ihren Kundenstamm nicht verlieren möchten, Miss Beauvais, aber …«

»Ich bin kein Roboter, Sir«, seufzte Clairé. »und es ist schön, dass Sie das mit meinem Kundenstamm ebenso sehen … Ich habe ihn schon sträflich vernachlässigt. Was meinen Sie, wie schnell ich aus dem Geschäft bin, wenn das so weiter geht? … Der Geheimdienst wird meine entgangenen Einnahmen wohl kaum übernehmen wollen, nicht wahr?«

»Das werde ich kaum durchsetzen können«, lächelte Edwards. »Ja, Sie müssen mal rasten, und ja, ihre Kunden … Sie brauchen Zeit, um sich zu erholen, um zu neuen Kräften zu kommen und ihrem Gewerbe nachzugehen … Ich weiß das alles, aber … tun Sie mir das nicht an, Miss Beauvais. Ich bitte Sie händeringend darum. Bestehen Sie jetzt nicht darauf. Ich verspreche Ihnen, Sie so bald wie möglich zu entlasten. Aber aktuell ist das einfach nicht machbar.«

»Also gut, … es scheint mir wohl nichts anderes übrig zu bleiben, nicht wahr?«, reagierte Clairé gequält. »Aber es ist mir wohl erlaubt, Sie als einen ganz durchtriebenen Gauner zu bezeichnen, Sir.«

»Aber, Miss Beauvais!«

»Sie wissen genau, wann Sie mir mit der Mitleidstour kommen müssen ... Und wenn Sie mich dann auch noch händeringend um etwas bitten, steht für Sie doch schon von vornherein fest, dass ich Ihre Bitte nicht abschlagen werde.«

Fatso‹ schmunzelte. Für einen kurzen Moment blitzte es in seinen Augen schlau auf. »Sie sind ein wahrer Schatz. Manchmal wüsste ich nicht, was ich ohne Sie machen würde, Miss Beauvais.«

»Kommen Sie mir nicht so, Mr. Edwards«, lächelte Clairé süffisant. »Ich bin sicher, dass Sie dann ein anderes Mädchen an meiner Stelle hier sitzen hätten, dem Sie ihren Honig um den Mund schmieren, nicht wahr?«

»Bin ich denn tatsächlich so leicht zu durchschauen?«, amüsierte sich Edwards.

»Wenn Sie wüssten, welche Menschenkenntnis man in meiner Branche entwickelt«, lächelte Clairé ihn vielsagend an. »Es wäre schlecht um mich bestellt, wenn ich das nicht könnte … Und für mich sind sie schon lange ein offenes Buch.« Sie gab ihm eine Sekunde, ehe sie fortfuhr: »Da es ja unvermeidlich ist: Lassen Sie uns über das sprechen, was Sie auf dem Herzen haben.«

»Was würden Sie davon halten, wenn ich Sie zum Essen einlade, Miss Beauvais?«

»Übernehmen Sie sich bei ihrer schwindsüchtigen Geldbörse da nicht ein wenig, Sir?« In Clairés Mundwinkeln lag ein freches Grinsen. »Aber ich komme auf Ihr ehrendes Angebot gern ein andermal zurück … Im Augenblick bin ich mehr daran interessiert, zu erfahren, womit Sie mich als nächstes zu überfordern gedenken.« Damenhaft legte sie ihre aufregend schlanken Beine übereinander und schaute ihn auffordernd an. »Anschließend möchte ich dann nach Hause fahren, ausgiebig baden und mich ein wenig hinlegen.«

Edwards nickte und wurde dienstlich. Er entnahm einer der Schubladen des Schreibtischs eine Mappe und legte sie vor sich hin. Seine Finger knetend, schaute er sie an. »Im aktuellen Fall muss ich etwas ausholen«, begann er darauf. »In letzter Zeit sind uns aus allen Teilen der Welt Berichte zu Ohren gekommen, die uns fast ebenso ängstigen, wie die Bemühungen der Mullahs an die Atombombe zu kommen.«

Clairé blickte ihn fragend an.

»Nun, ich will es abkürzen, Miss Beauvais«, sagte er seufzend. »Agenten verschiedenster Geheimdienste haben sich zu einem international agierenden Ring zusammengeschlossen …«

»Wie bitte?«, entfuhr es Clairé erschrocken. Unwillkürlich dachte sie dabei an die Terrororganisation ›Spectre‹ aus den James-Bond-Filmen.

»Sie haben richtig gehört«, bestätigte Edwards ihren unausgesprochenen Gedankengang. »Nur nennt sich dieser Zusammenschluss nicht ›SPECTRE‹, sondern ›SMART‹.«

»Gewandt, gewitzt, geschäftstüchtig«, definierte Clairé wie aus der Pistole geschossen, »wie sinnig …«

»Nun, Miss Beauvais, in diesem Fall steht es für: Special Executive of Murder, Assault, Revenge and Terrorism«, korrigierte er sie, »wenngleich ich gestehen muss, dass die Doppeldeutigkeit gut gewählt wurde … Wie auch immer … Jedenfalls besteht dieser Ring aus lauter hochprofessionellen, sehr gut ausgebildeten Agenten, die einem cleveren Doppelspiel nachgehen. Etwas, dass keine Regierung gern sieht.«

Clairé nickte schweigend.

»Leider besteht durchaus die Möglichkeit, dass auch ein oder zwei unserer eigenen Leute auf ›SMARTs‹ Lohnliste stehen.«

»Meine Aufgabe wird es also sein, diese Doppelagenten zu entlarven, nicht wahr, Sir?«, griff Clairé voraus.

»Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe«, lächelte Edwards.

»Haben Sie mich deswegen in Ihr Boot geholt?«, frotzelte Clairé.

»Wenn Sie sich Fleißkärtchen verdienen wollen, dann sprengen Sie ›SMART‹«, erwiderte Edwards, nicht auf ihre spöttische Bemerkung eingehend.

»Aber sicher, Sir …« Sie schnippte mit zwei Fingern. »Das macht die süße Clairé ja auch einfach mal so im Vorbeigang, oder wie haben Sie sich das vorgestellt?!«

Auch jetzt ging Leonard Edwards nicht auf sie ein. »›SMART‹ bereitet irgendetwas Großes vor«, fuhr er fort. »Aus den Berichten geht eindeutig hervor, dass sich die Organisation zum Ziel gesetzt hat, auf schnelle Weise richtig reich zu werden, … und wenn ich mich nicht allzu sehr täusche, dann ist man dort gerade dabei, einen großen Schlag in diese Richtung vorzubereiten. Dagegen ist alles, was die Gruppe bislang inszeniert hat Kleinvieh!«

 

»Okay, verstehe«, nickte Clairé. »Es wird also meine Aufgabe sein, die heile ›SMART‹-Welt aus den Angeln zu heben, nicht wahr?« Sie erwartete darauf keine Antwort. »Und wo soll ich Ihrer Meinung nach damit beginnen?«

»Ich habe versucht, Ihnen die Sache so leicht wie möglich zu machen, Miss Beauvais«, antwortete ›Fatso‹.

»Oh, wie charmant Sie sein können«, spottete Clairé.

»Es sind wieder einmal ihre Fähigkeiten als Edel-Prostituierte gefragt …«

Augenblicklich verdrehte Clairé die Augen. »Ach du lieber Himmel … Ich soll also wieder einmal im Namen ihrer Majestät die Beine breit machen, für jemanden, den ich unter anderen Bedingungen niemals an mich heranlassen würde?«

Edwards schmunzelte. »Nun, … es wäre doch nicht das erste Mal, nicht wahr?«

»Dafür werden Sie aber ordentlich etwas auf den Tisch blättern müssen«, gab sie ihm zu verstehen.

»Auch wenn der Mann, um den es geht, genau in Ihr Beuteschema passt?«, grinste er.

»Woher wollen Sie mein Beuteschema kennen?«, konterte Clairé spitz. »Diesmal kostet es Sie das Vierfache! Und ehe Sie dem nicht zugestimmt haben, brauchen Sie gar nicht fortzufahren!«

»Es ist nicht fair, meine Notlage auszunutzen, Miss Beauvais«, erwiderte er lächelnd.

»Wollen wir aufrechnen, wer hier wen ausnutzt?«, fragte Clairé direkt. »Mir reicht ein klares Ja oder Nein!«

Edwards gab sich geschlagen und nickte. »Sie bekommen das Vierfache. Ich werde es direkt veranlassen. In einer Stunde wird es als Gutschrift auf ihren Auszügen sein.«

Clairé zeigte sich zufrieden.

»Kommen wir zum nächsten Punkt, Miss Beauvais … Wir waren hinter dem Betreffenden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln hinterher. Aber die Ausbeute sämtlicher Aktivitäten zeigte sich als recht dürftig. Was wir bis jetzt über den Mann wissen, ist so wenig, dass es schon beinahe peinlich ist.«

»Wie ist sein Name?«

»Kenneth O'Sullivan. Ein gebürtiger Ire.«

»Rothaarig mit Sommersprossen?«, witzelte Clairé.

»Sie irren, Miss Beauvais. Der Mann ist blond«, erwiderte ›Fatso‹ lächelnd. »Soweit wir in Erfahrung gebracht haben, weiß er eine ganze Menge über ›SMART‹. Nur ist es uns bis zur Stunde noch nicht gelungen, dieses Wissen aus ihm herauszukitzeln. Dazu ist der Bursche viel zu gerissen und mit allen Wassern gewaschen. Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er überhaupt mit Ihnen plaudern wird.«

»Das wird sich ja herausfinden lassen«, bemerkte Clairé zuversichtlich.

»Verstehen Sie es als ein Experiment, auf das ich nicht verzichten möchte.«

»Verstehe«, lächelte sie. »Und wann soll dieses Experiment steigen?«

Edwards schob ihr die Akte zu.

Clairé klappte den Deckel auf und schaute sich Kenneth O'Sullivans Hochglanzfoto an, das sich direkt obenauf befand. Es zeigte das Gesicht eines Mannes Mitte Dreißig. ›Fatso‹ hat recht, lächelte sie in sich hinein, er ist durchaus mein Typ. Nun, vielleicht wird es ja doch ein recht angenehmer Auftrag. Die Vorzeichen schienen ihr jedenfalls positiv zu sein.

»Ich ließ ihm bereits ihre Telefonnummer zuspielen«, sagte Edwards, während Clairé sich mit wachem Interesse die Aufzeichnungen ansah, die ›Fatsos‹ Männer über O'Sullivan zusammengetragen hatten. Die Ausbeute war wirklich dürftig. »Er wird sich bald bei Ihnen melden«, fügte er hinzu.

***


Kapitel 5

Egal wo auf der Welt: Überall kann man Menschen finden, die so verbohrt, so Besessen von einer Idee sind, dass sie in einem schon fast missionarisch zu nennenden Eifer bemüht sind Andere von ihrer Ansicht zu überzeugen. Dabei lassen sie keinerlei Zweifel an der Richtigkeit und dem besonderen Wert ihrer Überzeugungen – ja, vielmehr verteidigen sie diese sogar gegen jede Infragestellung und sind keiner vernünftigen Argumentation mehr zugänglich. Alles was deren Vorstellung betrifft ist ihrem kritischen Reflexionsvermögen entzogen und die damit verbundenen negativen Konsequenzen für sich selbst oder andere werden als solche nicht mehr er- oder anerkannt.

Larry Perkins war einer von ihnen – ein politischer Fanatiker – und zugleich war er nicht ganz richtig im Kopf. Bereits zweimal hatte er eine psychiatrische Einrichtung von innen gesehen. Seine erste Einlieferung erfolgte, weil er völlig verwirrte Weltverschwörungsparolen mit Farbspraydosen auf Plakate in der Strumpfabteilung im Kaufhaus ›Harrods‹ gespritzt hatte, wie: ›Nylons aus der Nebula-Galaxis greifen an! Tötet die Nylons!‹ »Die Nylons sind Körperfresser«, schrie er und deutete auf die Beine einer Kundin. »Seht nur, wie sie schon von ihrer Haut Besitz ergriffen haben!« Dann war er über eine brünette Französin mit Wuschelkopf hergefallen. »Ich werde Sie retten, Miss … Ich rette Sie«, hatte er geschrien und ihr die Strümpfe vom Leib gerissen. Gleich darauf hatte er sämtliche Ausstellungsbeine mit einem mitgeführten Ritterschwert zerschlagen und hunderte von Strumpfpackungen damit durchzustoßen, bis er seitens der herbeigerufenen Polizei mittels Elektroschocker außer Gefecht gesetzt wurde.

Die zweite war die Folge seines Angriffs auf einen norwegischen Handelsdelegierten, dessen Bauch er mit einem Jagdmesser aufzuschlitzen versuchte – was ihm zum Glück nicht gelungen war. Seither bastelte er nächtelang an irren Reden, die er irgendwann einmal im Fernsehen halten wollte. Dabei stellte er sich vor, einfach zur ›BBC‹-Sendeanstalt zu fahren, eine Handgranate zu ziehen, die er sich in Nordirland beschafft hatte, und zu verlangen, vor eine Kamera gesetzt zu werden, um dann seine heiße Brandrede zu halten, die erst Großbritannien und dann die ganze Welt wachrütteln sollte.

Perkins war ein Ausbund an Hässlichkeit. Möglicherweise hätte er sich ganz anders entwickelt, wäre da ein weibliches Wesen gewesen, eines, das ihm rechtzeitig mit einem emotionalen Reinigungsmittel seine Ganglien geputzt hätte. Aber alle Mädchen, die er kannte, machten einen größtmöglichen Bogen um ihn.

Schon seit einigen Tagen rotierte er besonders heftig. Prinzipiell hasste er alles und jeden – insbesondere aber alles aus Holland herüberschwappende. Die Freizügigkeit der Niederländer übte seiner Meinung nach einen Einfluss auf die Welt aus, der diese schon bald an den Abgrund führen würde, wenn es die ›Nylon-Aliens‹ nicht vor ihnen schafften. Er war zwar noch niemals dort gewesen, und dennoch war es eine Antipathie, von der ihn bislang kein Psychiater zu befreien vermocht hatte.

Als Perkins las, dass ein berühmter holländischer Wissenschaftler nach London gekommen war, um sich hier mit einigen seiner Kollegen zu treffen, glaubte er, dass nun seine große Stunde angebrochen war. Wie schon die Handgranate, hatte er sich in Nordirland auch ein Gewehr aus ehemaligen IRA-Beständen beschafft. Für ihn hieß es von jetzt an: Der Niederländer muss weg! Der Grund dafür war ihm egal. Es reichte völlig aus, dass der Mann Holländer war.

Wo der Wissenschaftler wohnte, war unschwer zu erfahren. Den Rest erachtete er als ein Kinderspiel. Und schon einen Tag später würde er mit Namen und Foto in allen Zeitungen erscheinen. Er würde berühmt sein, in Großbritannien und der ganzen Welt in aller Munde.

***


Kapitel 6

Der Tag neigte sich seinem Ende zu.

Jener holländische Wissenschaftler nutzte die letzten Stunden seines Aufenthalts in London, um eine ›Sight-Seeing‹-Tour zu machen. Da er kein unbedeutender Mann war, hatte ihm sein Land einen Mann an die Seite gestellt, der ein wenig auf den wertvollen Kopf achtgeben sollte.

Dieser Mann hieß Cornelis Boddendijk, ein Angehöriger des ›Algemene Inlichtingen- en Verleigheidsdienst‹, dem niederländische Inlands- sowie Auslandsgeheimdienst. Der Agent des ›AIVD‹ war ein schmaler, drahtiger Bursche mit klugen Augen, denen kaum etwas entging. Boddendijk hatte sandfarbenes Haar, eine kleine, wulstige Narbe über dem linken Auge und Ohren mit fleischigen Läppchen, mit denen er immer dann spielte, wenn er ein Problem wälzte.

In diesem Fall spielte er zum ersten Mal in seiner Laufbahn die eher langweilige Rolle eines Leibwächters, denn zumeist wurde er zu anderen Aufgaben herangezogen. Für den Generaldirektor Magnus van Leeuwen gehörte er zu den kaltschnäuzigsten Menschenjägern über die er verfügte.

Abtrünnige, Verräter, gefährliche feindliche Agenten waren bei ihm besonders gut aufgehoben. Dennoch widerstrebten ihm diese Jobs. Er empfand sich nicht als Killer im eigentlichen Sinn, da er wie im Krieg auf Befehl tötete – und für ihn gab es als Agent im Grunde genommen niemals wirklich Frieden. Irgendwo gärt es immer, prallten Gegensätze hart aufeinander, wurde um des Friedens willen betrogen, gekämpft und gemordet.

Um Aufzuzeigen, dass auch Großbritannien an der Sicherheit jenes holländischen Wissenschaftlers ebenfalls sehr gelegen war, hatte auch der ›MI5‹ einen Agenten zum Schutz dieses Mannes abkommandiert: Russell Çakir – ein wendiger Bursche mit türkischen Urgroßeltern im Stammbaum.

Seit vier Tagen wichen die beiden nicht von der Seite des Mannes, für dessen Sicherheit sie verantwortlich waren. All die Tage hatten sie eine ruhige Kugel geschoben, aber das sollte zu ihrem Leidwesen nicht so bleiben.

*

Vom ›Big Ben‹ und dem ›London Eye›, über den ›Buckingham Palace‹ und ›Tower of London‹, gefolgt von ›Westminster Abbey‹, bis hin zum berühmten ›Trafalgar Square‹ – nichts war auf der umfassenden ›Sight-Seeing‹-Tour ausgelassen worden, und so kehrte der Wissenschaftler mit einem Wust an Eindrücken mit seinen beiden Schutzengeln ins Hotel zurück.

Russell Çakir seufzte. Einen Tag noch, dachte er, dann ist das auch geschafft. Und was kommt danach auf mich zu? Ein Einsatz in Afghanistan? Davon war vor ein paar Tagen die rede, und wenn sich noch kein anderer für diesen Job gefunden hat, werde ich wohl in diesen sauren Apfel beißen müssen.

Sie betraten das Hotel.

Çakir zupfte seinen holländischen Kollegen am Ärmel. »Hör mal, kannst du auf den Burschen ein paar Minuten allein aufpassen?«

Boddendijk grinste. »Ich nehme nicht an, dass ihm der Portier ins Gesicht springen und ihm die Augen auskratzen wird«, meinte er, in seinem stark akzentgefärbten Englisch.

»Ich muß mal schnell …«

»Für kleine Königstiger?«

»Nein. Ich möchte nur kurz einmal in Ruhe telefonieren. Es gibt hier eine nette Kollegin namens Clairé Beauvais. Ich war vor kurzem in einer heiklen Mission mit ihr in Teheran. Diese Frau ist eine Wucht. Fast schon schade, dass ich eine feste Freundin habe.«

»Und weshalb rufst du sie an?«

»Hast du die Schlagzeilen nicht über das gelesen, was sich gestern auf dem ›Heathrow Airport‹ abgespielt hat?«

»Du meinst die Sache mit diesem iranischen Spion?«, fragte Boddendijk nach.

»Daran war Clairé sicher maßgeblich beteilig.« Çakir grinste. »Ich möchte sie einfach mal anrufen und beglückwünschen.«

Der holländische Wissenschaftler hatte an der Rezeption inzwischen seinen Schlüssel in Empfang genommen und war auf dem Weg zu den Fahrstühlen.

»Na, dann mach' mal«, rief Boddendijk seinem Kollegen noch zu, während er seinem Schützling nacheilte und gerade noch die Kabine erreichte, ehe sich die Lifttür schloss.

Çakir holte sein Smartphone aus der Jackentasche und suchte schnell nach der entsprechenden Rufnummer. Er hörte das Freizeichen und vernahm nur wenige Sekunden später auch schon Clairés angenehme, rauchige Stimme. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, verzog er sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Hallo, Süße. Hier spricht dein zweites Ich …«

***

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