Leichte Beute

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From the series: Trümmerprinzessin #2
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„Hör auf, hier rum zu schreien, Werner, du scheuchst die ganze Nachbarschaft auf. Wenn die Ramona wach wird, sorg ich dafür, dass es dir leid tut, kapiert? Die Heide ist gar nicht hier, die schläft heute bei der Liesel. So besoffen wie du bist, bringt das doch sowieso nichts. Los, geh jetzt nach Hause, sonst werde ich andere Seiten aufziehen, dann ist der gemütliche Teil vorbei. Verstanden? Wenn du morgen wieder nüchtern bist, kannst du mit der Heide reden. Also hau jetzt ab“, schimpfte ich mit fester Stimme.

„Nicht da? Bei der Liesel? Warum das denn?“, stammelte der Betrunken verwirrt.

„Na, weil du sie nicht in Ruhe lässt. Also verschwinde jetzt. Komm morgen Nachmittag wieder, hast du das verstanden? Bevor die Nachbarn noch rauskommen, und Ärger machen“, gab ich meinen Worten Nachdruck.

Tatsächlich zog er, vor sich hin grummelnd, davon.

„Gott sei Dank! Das ist dir ja schnell gelungen. Ist er auch wirklich weg?“, fragte Heidemarie ängstlich, als ich wieder in die Küche kam.

Ich nickte nur, und staunte im Stillen über die Hilflosigkeit meiner Schwester. Diese ganz neue Seite an ihr musste ich erst einmal verdauen.

Was ich nur nicht verstand sagte ich ihr klar und deutlich: „Wie konntest du dir denn von dem Werner noch ein Kind andrehen lassen, wenn du doch Schluss machen wolltest? Wie konntest du denn so unvorsichtig sein? Das verstehe ich nicht.“

Über derartigen Leichtsinn fühlte ich mich erhaben.

unbegreiflich

Als ich dann Heides neue Liebe zum ersten Mal sah, wurde mein Bild von meiner Schwester total auf den Kopf gestellt.

Dieses bodenständige, realistische Mädchen, mit dem einfachen, sonnigen Gemüt, das sich immer als normale Arbeiterin, aber auch als mutige Kämpferin dargestellt hatte, ausgerechnet die, brachte einen dieser kleinen, schwarz gelockten, italienischen Gastarbeiter mit nach Hause. Ein Mann, der nicht einmal unsere Sprache beherrschte, und ein unmöglich offenes, anbiederndes Benehmen hatte. Das passte ja wirklich gar nicht. Für mich unbegreiflich, dass ausgerechnet meine energische, rabiate Schwester den kleinen Italiener mit den Augen förmlich auffraß.

Er nannte meine Eltern gleich „Mama“ und „Vati“, und mich nannte er „Rutschen“, aber viel mehr deutsche Worte beherrschte er nicht. Dafür benahm er sich, als habe er schon ewig in unserem Haus gelebt. Ganz offensichtlich hielt er unsere Küche für einen Selbstbedienungsladen, denn er holte sich ganz selbstverständlich Geschirr oder Getränke aus den Schränken, ohne vorher zu fragen. Derartiges Benehmen kannte ich nicht, und es gefiel mir auch nicht.

Was mich aber am meisten nervte, war seine Art meinen Namen auszusprechen.

„Ich heiße Ruth! Nicht Rutschen! Du und ich, wir werden nie rutschen, verstehst du? Also sprich meinen Namen richtig aus, oder lass es ganz“, wies ich ihn genervt zurecht.

Zu meiner Schwester gewandt kritisierte ich: „Mensch Heide, wie kannst du das nur aushalten? Nee, dich versteh ich absolut nicht mehr.“

Heide blieb gelassen: „Ja und? Er wird es schon lernen, ja Rehchen? Du lernen deutsch, werden immer besser.“

Sein Name war Remus. Heide nannte ihn Rehchen. Wie furchtbar.

Ein Horror für mich, jetzt sprach meine Schwester auch noch so ein ätzendes, abgehacktes ausländisch-deutsch. Nein, das war nicht meine Welt. Das würde mir nie passieren, dass ich mich mit einem Ausländer, der nicht einmal unsere Sprache beherrschte, einlassen würde.

Dass ich nicht weniger leichtsinnig, als meine Schwester, war, wurde mir schon bald auf drastische Art bewusst. Als sich meine normale Periode in eine starke, nicht endende Blutung, mit schlimmen Unterleibsschmerzen, veränderte, schaffte ich es nicht mehr, einen Frauenarzt aufzusuchen, sondern ließ mich von Dieter gleich in die Klinik fahren. Das Ergebnis war eine Ausschabung, weil wir natürlich, leichtsinnig, auf Kondome verzichtet hatten, ohne uns Gedanken zu machen.

Da sich mein Körper aber noch nicht von der Geburt erholt hatte, die ja erst ein halbes Jahr zurück lag, war mein Unterleib zu schwach, um eine erneute Befruchtung zu halten. Zum Glück. Mit siebzehn Jahren bereits das zweite Kind zu bekommen, war nun wirklich weder mein Wunsch noch Wille.

Zwei Tage nach der Ausschabung, bekam ich heftige Schmerzen im Blinddarmbereich. Bei der Untersuchung meinten die Ärzte, dass es unmöglich von meinem Blinddarm kommen könne. Als der Schmerz immer stärker wurde, ich die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, entschloss man sich schließlich doch zu operieren.

Nach dem Aufwachen aus der Narkose wunderte ich mich, über das stark gespannte Gefühl am Bauch, und tastete meinen Körper ab. Mit Entsetzen fühlte ich etwas unangenehmes hartes, das sich direkt über meinen Schamhügel, quer über den Unterleib spannte. Das seltsame Gebilde war eine Reihe kleiner Metallklammern, die eine lange Operationsnarbe zusammenhielten. Auf meine erschreckte Frage, erklärte man mir, es sei tatsächlich der Blinddarm gewesen. Man hatte eine Bauchhöhlen-Schwangerschaft vermutet, deshalb dieser große Bauchschnitt. Na bravo, ich fühlte mich entstellt.

Außer meinem Freund Dieter, hatte ich nur einen Besucher, meine Mutter.

Von ihr musste ich mir zum ersten Mal nach langer Zeit wieder Vorwürfe anhören. „Du musst aber jetzt mal besser aufpassen, Kind. Schließlich kannst du nicht erwarten, dass die Oma tagelang auf Ramona aufpasst. Sie ist dazu nicht mehr in der Lage, das war schon zu merken, als du in Idar-Oberstein warst. Immerhin ist sie schon 72. Für ein paar Stunden geht das Mal, aber nicht mehrere Tage, und schon gar nicht auf Dauer. Also sieh bitte zu, dass du dich mehr selbst um dein Kind kümmerst.“

Ich hatte ihren untergründigen Hinweis schon verstanden, sagte aber nichts dazu. Was hätte ich erwidern sollen? Dass wir auf Gummis keinen Bock hatten, weil wir keine solchen Gefühlsbremsen mochten? Hätte ich sie fragen sollen, ob sie mir andere Verhütungsmethoden empfehlen konnte? Dass sie mich dann endlich mal darüber aufklären müsse? Nein! Solche Themen konnte niemand mit dieser Frau diskutieren. Dazu war sie zu prüde.

Nach ein paar Tagen holte Dieter mich ab, und brachte mich nach Hause. Am frühen Tag war nur meine Oma anwesend. Sofort nutzte ich die günstige Gelegenheit, sie zu fragen. Nachdem ich mit meiner Großmutter gesprochen hatte, und ihre Zusage erhalten hatte, erklärte ich meiner Mutter, dass ich mir eine Arbeit suchen wolle.

Sie widersprach erneut: „Nein liebes Kind, das geht so nicht. Dein Arbeitswille ist zwar sehr lobenswert, aber eine Vollzeit-Stelle kannst du nicht annehmen. Die Oma ist zu alt, dein Kindermädchen zu spielen. Wenn überhaupt, dann such dir eine Teilzeitarbeit, oder noch besser, eine Beschäftigung für abends. Wenn wir zu Hause sind kannst du gehen, ob arbeiten oder tanzen, egal, dann ist die Kleine versorgt. Aber auf eine alte Frau kannst du nicht bauen. Das musst du endlich einsehen“, schränkte meine Mutter meine Freiheit energisch und konsequent ein.

Auch wenn ich ihr Argument nicht einsah, begann ich trotzdem, die Suche nach einer Abendarbeit.

Ich wurde sehr schnell fündig. Eine Firma suchte eine „flinke Hilfe“, für die Reinigung der Büroräume nach 17 Uhr. Da die Firma im näheren Umkreis, in nur10 Minuten zu Fuß zu erreichen, war, bewarb ich mich, und wurde gleich eingestellt.

Offenbar sah ich flink aus.

Das Angebot hatte sich gut angehört. Für die große Büroetage, aus insgesamt 6 Räumen und einer Teeküche mit Pausenraum, war schon eine flinke Kraft vorhanden, mit der ich mir die Arbeit teilen sollte. Nur drei Stunden Arbeit, jeweils von Montags- bis Freitagabends, bei erstaunlich guter Bezahlung, für eine wirklich leichte Tätigkeit, war ein Glückstreffer. Das sah auch meine Mutter so, zumal die Hausarbeitregelung und Ramonas Betreuung in diese Zeiteinteilung passten. Ich war zufrieden.

Dieter hingegen war unzufrieden, maulte wegen der Arbeitszeit bis 20 Uhr. Damit wurden unsere Treffen, an den Werktagen, etwas eingeschränkt, weil er ja früh um 6 raus musste. Davon ließ ich mich jedoch nicht beeinflussen.

Nach ein paar Wochen fiel mir auf, dass die Besteckfabrik offenbar Kunden in Frankreich hatte, weil ich einen Brief mit französischer Sprache, auf dem Boden eines Büros, fand. Diese Erkenntnis ließ mich nicht mehr los, denn das erinnerte mich wieder an meine Suche nach meinem Erzeuger.

Nur ein paar Tage später, schrieb ich an ihn, diesmal nicht nur eine Postkarte, sondern einen langen Brief. Vielleicht waren meine Karten nicht angekommen, unterwegs verloren gegangen? Hatte ich deshalb nie eine Antwort erhalten? Ich hoffte, dass es nun anders wäre.

Tatsächlich erhielt ich nach zehn Tagen Post aus Frankreich. Hurra, endlich eine Antwort meines Vaters.

Aber seltsamerweise stand als Absender nicht Rene, der Vorname meines Erzeugers, sondern M. Broucq, auf der Rückseite des Briefes. Die Adresse des Absenders war alles was ich lesen konnte, die steilen ungelenken Buchstaben waren natürlich in französischer Sprache. Dieses Rätsel konnte nur meine Mutter lösen. Was blieb mir übrig?

Ich fragte sie aufgeregt: „Sag mal, wer kann denn M. Broucq sein?“

„Wieso? Wie kommst du darauf?“, kam die erstaunte Gegenfrage.

„Hab einen Brief aus Frankreich gekriegt, der Absender ist M. Broucq.“ Erklärte ich mutig.

Ruhig erwiderte meine Mutter: „Kann seine Schwester oder seine Mutter sein. Zeig mal.“

Entschlossen hielt ich ihr den Brief hin.

Mit einem Blick auf die Buchstaben machte sie eine ablehnende Geste, und ihr Gesicht wurde hart und verschlossen, als sie bestimmt sagte: „Das ist die Schrift seiner Mutter. Die kenne ich. Dass die dir schreibt wundert mich. Kann aber nichts Nettes sein, glaube mir. Aber du kannst das ja sowieso nicht lesen, also wirf den Brief besser direkt weg. Bringt nichts.“

 

„Nö, ich frag mal in der Firma, die können mir den Brief bestimmt übersetzen. Ich bin neugierig.“ Lehnte ich das Ansinnen ab, und ging schnell hinaus, denn weder nähere Erklärungen noch eine Diskussion wollte ich hören.

Dass es besser gewesen wäre, meiner Mutter Rat zu befolgen, musste ich bald einsehen.

Denn als mir die nette Französisch-Korrespondentin, mit pikierter Miene, den Inhalt mitteilte, lief ich Krebsrot an. Ob es Scham oder Wut war, konnte ich in diesem Moment nicht beurteilen, aber für Beides hatte ich Grund genug.

„Also das Schreiben wörtlich zu übersetzen habe ich nicht die Zeit, wobei ich denke, dass sich das auch nicht lohnt. Die Schreiberin fordert Sie unmissverständlich auf, ihren Sohn in Ruhe zu lassen, weil der verheiratet ist und zwei Kinder hat. Tja, offenbar eine alte Dame, die uns Deutsche hasst. Ich weiß ja nicht, in welchem Verhältnis Sie zu dieser Frau stehen, Fräulein Schütz, aber das ist auch nicht mein Problem. Allerdings, den Kontakt weiter beizubehalten, finde ich nicht ratsam.“

Bums, das war eine kalte Dusche, mit Eiswasser.

Ich hatte nur schwach ein Dankeschön gestammelt, und war schnell aus dem Blickfeld der Übersetzerin gerannt.

Bildete ich mir das nur ein, oder sah mich das Büropersonal danach anders an? Denn nach der Übersetzung, hatte ich das seltsame Gefühl belächelt oder gar bemitleidet zu werden. Anfangs gelang es mir ganz gut, das zu übersehen, weil die kaufmännischen Angestellten die Büros verließen, wenn unsere Arbeitzeit begann. Der Vorfall lehrte mich Ignoranz.

undurchsichtig

Während in unser Familienleben Regelmäßigkeit und Ruhe eingekehrt war, wurde meine Schwester immer nervöser.

Inzwischen hatte sie ihrem „Rehchen“ ihren Zustand gebeichtet, und da ihr Bäuchlein immer runder hervorstand, störte es ihren Freund vermutlich nicht. Allein diese Tatsache machte den kleinen Italiener sympathischer, sodass ich ihn akzeptabel fand, auch wenn mich sein gebrochenes Deutsch immer noch nervte.

Auch Dieter mochte Remus, obwohl die Beiden wenig gemeinsam hatten. Dieter mochte Fußball, und teilte zwangsläufig meine Vorliebe für Tanzclubs, obwohl er mir nur beim tanzen zusah, weil er es nicht konnte.

Remus hingegen tanzte leidenschaftlich gerne und gut, was sich mit Heides Vorliebe deckte, und was die beiden gemeinsam bei jeder Gelegenheit ausgiebig genossen. Allerdings liebten die beiden Standardtänze, und ich die flottere, neue Form des Rock, Hot und Twist. Deshalb besuchten wir verschiedene Lokalitäten.

Am einem Ende unserer Stadt, dem kleinen Ort Burg an der Wupper, wohnte Remus in einem der dort üblichen alten Fachwerkhäuser, im unteren Teil dieses Ortes, nahe der Wupper.

Gleich nebenan befand sich das große Tanzlokal „Haus Hens“, der Lieblingsschuppen von Heide und Re.

Das ganze Haus war alt, krumm und schief, aber riesengroß, einschließlich des Tanzsaals. Der hell beleuchtete Raum, mit der schäbigen Bestuhlung und den kalkweißen Wänden, hatte auf mich einen kalten, modrigen Eindruck gemacht. Es roch dort nach dem stinkenden, schlammigen Flüsschen, weil sich die Feuchtigkeit des Flusstales in den Wänden der alten Lehmhäuser festgesetzt hatte. Wir fühlten uns dort so unwohl, dass es bei unserem einmaligen Besuch bleiben würde, darin war Dieter mit mir einer Meinung.

Eines Tages wollte Remus sein „Ausländerzimmer“ verschönern, er hatte Tapeten gekauft, und meine Schwester wollte mithelfen. Also hatte Heide Bescheid gesagt, dass sie am Wochenende bei ihrem „Re“ übernachten werde.

Als meine Schwester dann am späten Sonntagabend nach Hause kam, klagte sie über starke Bauchschmerzen. Sie ging gleich zu Bett, und weckte mich dann in aller Früh, mit Einschalten der Deckenbeleuchtung, Gekrame und Geraschel.

„Mensch, Heide, mach das Scheiß-Licht aus, und sei nicht so laut. Es ist fiel zu früh für mich, ich will noch schlafen“, schimpfte ich verschlafen, und blinzelte mit halboffnen Augen.

„Entschuldige, aber es geht nicht anders. Ich muss mich anziehen, ich denke es ist besser, wenn ich ins Krankenhaus gehe. Die Blutungen werden immer stärker“, stöhnte meine Schwester, und krümmte sich vor Schmerzen.

Sofort war ich hellwach, sprang aus dem Bett, und alarmierte unsere Mutter. Dann ging alles sehr schnell. In Windeseile hatte Mutter sich angezogen, einen Krankenwagen gerufen, und kaum 15 Minuten später, war sie mit Heide eingestiegen.

Zum ersten Mal machte ich mir echte Sorgen um meine Schwester.

„Frühgeburt. Heide war schon im sechsten Monat“, erklärte meine Mutter, als sie zurück nach Hause kam.

Vorwurfsvoll sagte ich: „Das kam bestimmt vom Renovieren. Wie kann die denn auch mit dickem Bauch beim Tapezieren helfen? Und was ist es? Ist das Kind denn lebensfähig?“, wollte ich wissen.

„ Aber ich habe doch nicht gewartet, schließlich muss ich arbeiten. Und vor heute Abend können wir Heide sowieso nicht besuchen. Jetzt muss ich aber gehen“, wehrte meine Muter entschieden ab.

Heidemaries Frühgeburt verfolgte mich gedanklich den ganzen Tag. Wie sehr sich ihr Verhalten zum positiven geändert hatte, konnte ich immer noch nicht fassen.

Am Nachmittag entschloss ich mich, in der Firma anzurufen und mich krank zu melden, weil ich nach meiner Schwester sehen wollte. Also machte ich die Kleine ausgehfertig, um meine Mutter von der Arbeit abzuholen.

Als sie uns sah fragte sie erstaunt: „Wieso bist du nicht arbeiten? Ist die Oma nicht gekommen? Oder was ist los?“

„Nein, ich will doch mit dir zur Heide fahren. Ich hab mich krank gemeldet, sonst wird es doch zu spät.“

Unwirsch erklärte sie: „Unsinn! Wir können Ramönchen doch nicht mit ins Krankenhaus nehmen, deshalb können wir sowieso erst später fahren. Also hast du umsonst die Arbeit geschwänzt. Wenn du das da jetzt auch anfängst, hast du die Stelle auch nicht mehr lange.“

Kommentarlos steckte ich ihre Rüge weg, sinnlos ihr zu erklären, dass ich mich, seit der Übersetzung des Briefes, sehr unwohl in dieser Firma fühlte. Dafür hätte meine Mutter kein Verständnis gehabt. Sicher hätte sie mir nur den Vorwurf gemacht, dass das meine eigene Schuld sei. Was ich allerdings nicht so sah.

Am frühen Abend fuhren meine Mutter und ich nach Haan, ins Krankenhaus, zu meiner Schwester.

Heidemarie sah erschöpft aus. An ihrem Bett saß ihr Rehchen und hielt Heidemaries Hand. Als spräche sie von unserer vergifteten Katze, bemerkte sie am Rande: „Das Kind ist tot. Es war ein Mädchen. “

Das Neugeborene sei zu schwach gewesen. Weil es aber 20 Minuten gelebt hatte, müsse das Kind einen Namen erhalten, und im eigenen Sarg richtig beerdigt werden. Nur bei Todgeburten sei keine Eigenbestattung erforderlich, die kämen zu einer anderen verstorbenen Person, in den Sarg. So verlange es das Gesetz. Das hatte meine Schwester uns fast teilnahmslos erläutert.

„Und welchen Namen hat sie?“, fragte ich traurig.

„Bettina, warum?“, war Heides knappe, genervte Auskunft.

„Wie warum? Ist doch schließlich meine erste Nichte. Wo ist sie denn jetzt? Kann ich sie sehen?“, ließ ich nicht locker.

„Warum?“, mischte sich nun unsere Mutter ein.

„Ganz einfach, weil ich meine Nichte sehen möchte. Du denn nicht? Willst du denn dein Enkelkind nicht sehen? Ist das nicht normal, dass man wissen möchte wie das kleine Mädchen aussieht?“, verstand ich die Gleichgültigkeit meiner Familie nicht.

Remus schwieg. Das fand ich sehr rücksichtsvoll. Er stieg wieder ein wenig in meiner Achtung.

„Nein, muss ich nicht. Wozu soll das gut sein? Außerdem weiß ich nicht, ob das überhaupt möglich ist, denn die ist bestimmt in der Leichenhalle. Vielleicht darf man da gar nicht rein“, versuchte unsere Mutter das Thema abzuschließen.

„Ich fragen Schwester“, bekam ich plötzlich durch Remus Einmischung Unterstützung.

“Du Re?“, staunte meine Schwester. „Willst du denn auch gucken?“

Er nickte nur und ging schnell hinaus.

„Dann gehen wir aber auch mit, Mutti. Oder hast du Angst?“, ergriff ich die Gelegenheit.

„Warte mal erst ab, ob wir da rein dürfen“, hielt sie sich die Entscheidung offen.

Wir durften. Remus kam mit einem riesigen Schlüssel zurück. „Ist in Garten, kleines Haus!“, erklärte er.

Nach der Besuchszeit gingen wir entschlossen, zu dritt durch den Park, des Klinkgeländes, auf ein kleines Gartenhaus zu. Der ehemalige massive Geräteschuppen am Ende des Weges, wurde zur Aufbahrung der Toten genutzt.

Vor der alten schweren Tür, stockte mein so resoluter Schritt plötzlich, aus unerklärlichen Gründen, sodass ich abwartend still stand. Aber auch meine Begleiter blieben erst einmal stehen, und holten tief Luft.

Der Gedanke, dass in dem Raum vielleicht noch andere Tote liegen könnten, schien sich lähmend auf uns niederzulegen.

Unentschlossen sahen wir uns gegenseitig an, warteten alle Drei darauf, dass einer der Anderen die Tür öffnen, und zuerst die Schwelle überschreiten würde.

Schließlich fasste sich meine Mutter ein Herz, nahm Remus den Schlüssel aus der Hand und schloss auf.

Mit knarrendem Geräusch, ließ sich die schwere Tür öffnen, und meine Mutter schritt als Erste, von Remus gefolgt, ins Innere.

Mutig ging ich ebenfalls auf den Eingang zu, stockte aber nach einem halben Schritt ins Innere. Ich verharrte kurz, bis sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Dann sah ich direkt vor mir das gelbe Gesicht eines toten, alten Mannes.

„Nein, das kann ich nicht! Hilfe Mutti. Ich habe Angst! Wie schrecklich!“, schrie ich entsetzt, und rannte vor Schreck, wie von Geistern verfolgt, wieder hinaus.

Zitternd blieb ich in sicherer Entfernung stehen, wartete auf die beiden, und konnte mich nicht beruhigen, während mir die Tränen übers Gesicht liefen. Dass das kleine Mädchen im hinteren Teil des Raumes aufgebahrt war, bekam ich nur unbewusst mit.

„Wo ist denn dein Mut geblieben? Großer Mund und nichts dahinter? Du wolltest doch unbedingt die Kleine sehen. Warum rennst du weg? Der Tote kann dir nichts mehr tun, vor dem brauchst du nicht weglaufen“, meinte meine Mutter verständnislos, als sie die Tür des Leichenhauses wieder verschlossen hatte.

„Ich habe doch noch nie einen Toten gesehen, und mich furchtbar erschreckt, weil ich damit nicht gerechnet hatte“, stöhnte ich, noch immer zitternd.

„Das ist in ner Leichenhalle normal. Da liegen nun mal Tote, keine Lebenden“, erklärte sie sarkastisch.

„Aber warum werden die Toten denn nicht zugedeckt? Und wieso war der Mann denn so gelb? Der sah ja schrecklich aus!“, jammerte ich entsetzt.

„Na, der ist wahrscheinlich an Gelbsucht gestorben. Gelbsucht hatte ich auch mal, ich habe aber Glück gehabt dass ich die Krankheit überlebt habe“, erinnerte sich meine Mutter.

An diesem Abend lief ich hinter meiner Mutter her, wie ein Hund seinem Herrn. Ich folgte ihr, auf Schritt und Tritt, weigerte mich sogar, alleine in unserem Zimmer zu schlafen, weil ich alleine Angst hatte. Schließlich schlief meine Mutter in Heides Bett, um mich zu beruhigen.

Trotzdem hatte ich einen unruhigen Schlaf, denn das gelbe Gesicht des toten Mannes verfolgte mich im Traum.

Wenn ich geglaubt hatte, das Zusammenleben mit meiner Schwester, hätte sich in eine geschwisterliche Gemeinschaft verwandelt, sah ich mich getäuscht.

Kaum aus der Klink zurück, hatte Heide offenbar alle freundlichen Eigenschaften und liebevollen Gefühle abgeschüttelt, als wären sie nie vorhanden gewesen.

Sie war grantig und unfreundlich, meckerte an allem rum, nichts war ihr recht.

Eines Abends war unsere Mutter wohl am Ende ihrer Geduld angekommen, ihr platzte der Kragen. „Jetzt reicht es aber Heidemarie! Gewöhne dir mal deinen aggressiven Ton ab! Das ist ja nicht mehr auszuhalten. Was ist denn bloß mit dir los?“, ging sie hoch wie eine Rakete.

„Nix! Gar nichts ist mit mir los. Musst ja nicht hinhören. Ich rede wie ich will. Lass mir doch von dir nicht den Mund verbieten“, erwiderte meine Schwester frech.

„So lange du die Füße unter meinen Tisch stellst, hast du dich nach meinen Anweisungen zu richten, mein Fräulein. So alt kannst du gar nicht werden, dass ich mir dein respektloses Mundwerk anhören muss. Ist das klar? Wenn dir hier alles nicht mehr gefällt, hält dich niemand auf, dir ne andere Bleibe zu suchen. Verstanden?“, wurde unsere Mutter gefährlich leise, aber deutlich.

 

Höhnisch erwiderte Heide: „Ach spar dir doch deine dummen Sprüche! Füße unter Deinen Tisch, ha ha! Ich kann sie nicht mehr hören, diese blöden Sprüche! Das heißt also, du schmeißt mich raus? Brauchst du nicht. Ich bin bald weg, keine Sorge. Das hatte ich schon lange vor, aus diesem Mief hier rauszukommen. Wir haben schon ne Wohnung. In vier Wochen bist du mich los. Und ich brauch euch auch nicht mehr zu sehen, Gott sei Dank!“

Wie zwei Kampfhähne, mit zornigem Gesichtsausdruck und gestrafftem, sprungbereitem Körper, standen sich Mutter und Tochter gegenüber. Jede gewillt ihre Position zu verteidigen, keine bereit nachzugeben. Hätte nicht der Küchentisch zwischen den beiden eine Barriere des Abstandes geschaffen, wäre es vermutlich zu einer Eskalation gekommen.

Das konnte ich nicht mehr ertragen, deshalb versuchte ich der Sache die Schärfe zu nehmen: „Nun lasst es mal gut sein, und setzt euch mal hin. Ihr solltet besser in Ruhe über alles reden. Mutti, der Heide geht es sicher noch nicht so gut, hab doch ein bisschen Verständnis. Ist ja bestimmt nicht so einfach, ein Kind zu verlieren“, war ich besorgt um meine Schwester, nicht um unsere Mutter, denn deren Härte war mir ausreichend bekannt.

Ärgerlich sagte meine Mutter: „Ach so ein Quatsch! Das hat doch nichts mit uns zu tun. Deshalb muss Heidemarie ihre schlechte Laune nicht an uns auslassen. Außerdem glaub ich sowieso nicht, dass ihr Verhalten daran liegt, das Kind wollte sie doch eh nicht. Ist schon ziemlich undurchsichtig, der Zeitpunkt der Frühgeburt. Sieht eher nach gewollt aus. Gib es ruhig zu, mein Fräulein.“ Forderte Mutti meine Schwester auf.

Heide Stimme war voller Zorn, als sie zynisch erwiderte: „Klar hab ich nachgeholfen. Glaubst du, mir soll es so gehen wie dir? Drei uneheliche Kinder von drei verschiedenen Kerlen zu kriegen? Nee Mutti, so doof bin ich nicht!“

Wie ein eisiger Hauch stand Heides Aussage im Raum, die unsere Mutter zur Salzsäule erstarren ließ. Sie schwieg. Nur ihre plötzliche Blutleere im Gesicht zeigte eine tiefe, schmerzliche Reaktion.

„Was? Wie drei Kinder? Wir haben noch eine Schwester?“, fragte ich perplex.

Heide lachte ironisch auf, als sie korrigierte: „Nein, einen Bruder!“

„Wie bitte? Wo ist der denn?“, war ich total verwirrt.

„Verschenkt!“, zischte meine Schwester verächtlich.

„Mutti, sag was! Das kann doch nicht wahr sein. Du hast unseren Bruder weggegeben? Warum? Wann? Wohin denn?“, verlangte ich, voller Entsetzen, eine Erklärung.

„Nein! Ich will nicht darüber sprechen. Das geht euch nichts an“, lehnte sie energisch ab, und ihr Gesicht verschloss sich zu unerbittlicher Härte.

Aber sie konnte mir nichts vormachen, denn ich sah die zurückgehaltenen Tränen in ihren Augen, und hörte auch das Zittern in ihrer Stimme, und wie sehr sie sich bemühte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. In dem Moment empfand ich innige Liebe, und tiefes Mitleid für die leidgeprüfte, harte Frau, sodass ich nicht weiter fragen wollte. Mir war klar, dass die Vertiefung dieses Themas, ihren Schmerz nur vergrößert hätte. Das brachte ich nicht übers Herz. Ich schwieg.

Nicht so meine rabiate Schwester. „Ach nee, über deine Fehler willst du nicht sprechen? Aber uns willst du Moral predigen? Erst mal vor deiner Haustür kehren, liebe Mutter! Was für eine Mutter bist du denn? Du hast herzlos ein Kind verschenkt! Und du willst mir vorwerfen, dass ich nicht so werden will wie du? Dass ich lieber dafür sorge, dass ein ungewolltes Kind gar nicht erst lebt? Dann bin ich doch wohl die bessere Mutter, von uns beiden!“

Das war zuviel für mich, zornig forderte ich meine Schwester auf: „Halt jetzt endlich den Mund, Heide. Du vergisst wohl, mit wem du sprichst? So redet man nicht mit seiner Mutter, das ist respektlos und unverschämt!“

Zynisch lachte Heidemarie und erwiderte verächtlich: „Respekt soll ich haben? Vor wem? Und warum?“

Ich kochte innerlich, als ich schimpfte: „Vor der Frau, die uns alleine groß gezogen, und dafür schwer gearbeitet hat, damit es uns gut geht. Schämst du dich nicht, so undankbar zu sein? Wie kannst du dir über Muttis Vergangenheit ein Urteil erlauben? Wir wissen nicht welche Gründe sie hatte. Was geht es uns an, was damals gewesen ist? Nichts! Also nimm endlich Vernunft an, und entschuldige dich bei der Mutti. Du hast ihr jetzt weh genug getan“, dabei hatte ich unbewusst eine drohende Haltung eingenommen, und hatte einen Schritt auf meine Schwester zu gemacht.

Heidemarie lachte erneut auf, wich aber in Richtung Mädchenzimmer zurück. In der geöffneten Tür drehte sie sich zu uns, und zischte bösartig: „Ich? Mich entschuldigen? Wofür? Dafür, dass ich die Wahrheit gesagt habe? Dass mir nur ein Malheur passiert ist, dass ich aber keine Hure bin? Was bei drei Kindern, von drei verschiedenen Männern, doch eher anzunehmen ist.“

„Verschwinde du Miststück, sonst vergesse ich mich!“, schrie ich empört.

Als sie laut und schrill lachte, sah ich rot. Ich griff eine Schere vom Küchentisch, und schleuderte sie in Heides Richtung. Gerade rechtzeitig verschwand meine Schwester in unserem Zimmer, und schloss die Tür hinter sich. Die Schere blieb im Türrahmen stecken.

Ächzend ließ unsere Mutter sich auf einen Stuhl fallen. In ihrem blutleeren Gesicht, leuchtete das Entsetzen aus ihren Augen, als sie: „Ruth, um Gottes willen, was machst du?“, stöhnte, wurde mir erst meine Handlung bewusst.

„Ist ja noch mal gut gegangen“, stammelte ich geschockt.

Zorn konnte mich also zur Unbeherrschtheit verleiten.

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