Berge im Kopf

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Oder auch Galileo Galilei, der 1609 durch sein Teleskop zum Mond hinaufschaut und als erster Mensch feststellt, dass es dort oben hohe Berge und tiefe Täler gibt. Und schließlich Blaise Pascals Mischung aus Erstaunen und Entsetzen als ihm klar wird, dass der Mensch unsicher schwankend zwischen zwei Abgründen steht: zwischen der unsichtbar winzigen Welt der Atome mit der Unendlichkeit ihrer Universen, von denen jedes einzelne aus Firmament, Planeten und »Erde« besteht, sowie dem unsichtbaren Kosmos, der zu groß ist, ihn zu überblicken, und der sich mit der Unendlichkeit seiner Universen unermesslich weit über dem nächtlichen Himmel ausbreitet.

Das 19. Jahrhundert war dann das Zeitalter, in dem die Zeit ausgedehnt wurde. Die beiden vorausgehenden Jahrhunderte hatten die sogenannte Pluralität der Welten zum Vorschein gebracht, die in den Traktaten über den Raum und über den Mikrokosmos der Atome existierten. Die Geologie des 19. Jahrhunderts zeigte dagegen die Vielzahl der Welten, die früher auf der Erde existiert hatten, jetzt aber verschwunden waren. Einige der Bewohner dieser früheren Welten sorgten dabei für mehr Aufregung als alle anderen Entdeckungen aus diesen uralten Zeiten. Das waren eine ganze Reihe monströser Kreaturen, die einst auf der Erde gelebt hatten: Mammuts, andere Säugetiere, Meeresdrachen und die Dinosaurier (wortwörtlich: »beängstigend große Echsen«), wie sie 1842 vom Paläontologen Richard Owen getauft wurden. Jahrhundertelang hatte man versteinerte Knochen und Zähne aus dem Boden geholt, aber erst im frühen 19. Jahrhundert wurde erkannt, dass einige dieser Relikte von verschiedenen ausgestorbenen Arten stammten.

»The Rocks and Antediluvian Animals«, Frontispiz aus Ebenezer Brewers Theology in Science (1860)

Der französische Naturhistoriker Georges Cuvier (1769–1832) trug mehr als jeder andere zu dieser Erkenntnis bei. Es war Cuvier, der in der Kontroverse über das Artensterben nicht nur den Beweis lieferte, sondern auch den erforderlichen konzeptionellen Rahmen dafür schuf, Dinosaurier als versteinerte Tiere betrachten zu können. Cuviers Fallbeispiel war das behaarte Mammut. Indem er den Aufbau versteinerter Knochen des Mammuts mit dem von zeitgenössischen afrikanischen und indischen Elefanten verglich, bewies er, dass die fossilen Knochen zu einer anderen Spezies gehörten. Im Jahre 1804 überraschte er seine Hörer am Institut National de Paris mit der Behauptung, dass riesige, stark behaarte Elefanten, die nicht mehr auf der Erde leben, einst Frankreich bewohnten und mit großer Wahrscheinlichkeit in Herden auch dort hindurchgestampft sind, wo sich nun die makellosen Gärten von Versailles befanden. Da Cuvier hinsichtlich seines Körperumfangs als ein durchaus gewichtiger Mann bezeichnet werden konnte, bekam er zwangsläufig bald den Spitznamen »das Mammut«.

Cuvier wurde zu Lebzeiten zu einer Berühmtheit, zum Teil wegen seines phänomenalen Gedächtnisses – er war bekannt dafür, sich an alle 19 000 Bücher in seiner Bibliothek erinnern zu können –, vor allem aber als Anatom. Während Hutton die bemerkenswerte Fähigkeit hatte, Felsen in ihre Einzelbestandteile zu zerlegen, war Cuvier derjenige, der die Großtiere Europas aus ihren versteinerten Knochen rekonstruieren konnte und in der Lage war sich vorzustellen, wie diese Biester, die einst über die Erde zogen, wohl ausgesehen hatten. Er verband überdimensionale Skelettteile durch Draht miteinander, bettete Knochenbestandteile in Zement ein und entwickelte mithilfe von Illustratoren die ersten Darstellungen von Dinosauriern. Auf viele wirkte Cuviers Arbeit mehr wie die eines Thaumaturgen, eines Wundertäters, denn als Arbeit eines Taxidermisten, eines Tierpräparators. Er hauchte nicht nur diesen Kreaturen Leben ein, sondern ganzen Epochen. – »Ist Cuvier nicht der größte Poet unseres Jahrhunderts?«, schrieb Balzac später verzückt über ihn.

Unser unsterblicher Naturalist hat ganze Welten aus gebleichten Knochen geschaffen. Er nimmt ein Stück Gips und sagt zu uns: »Seht!« Und plötzlich verwandelt sich der Stein in ein Tier; Totes wird lebendig und eine andere Welt breitet sich vor unseren Augen aus.

Angeregt durch die neue, weit verbreitete Leidenschaft für die Erde des Altertums, entwickelten sich das Sammeln von Fossilien und die Paläontologie rasch zu einer europäischen Modeerscheinung des frühen 19. Jahrhunderts. Es schien, als ob nun täglich eine neue tote Spezies entdeckt würde. Es gab Fossiliensucher, eine aktive Untergruppe von Geologen, die mit Rucksack, Hammer und weichen Bürsten überall dorthin gingen, wo Fels frei lag: an die Küste – wie etwa zu den reichhaltigen Lagerstätten des Juras am Lyme Regis, aus denen die renommierte Fossiliensucherin Mary Anning einen Ichthyosaurus und Plesiosaurus freilegte – und in Bäche, Steinbrüche und Flussbetten sowie in die Berge. Sportlich ambitionierte Fossiliensucher kletterten an Klippen über die verschiedenen Schichten und Fältchen des Gesteins hinweg und beschrieben, wie sie sich dabei fühlten, wenn sie sich so schnell durch die Zeiten bewegten und mit einer einzigen Bewegung eine neue Epoche erreichten.

Viele fossile Lagerstätten wurden von den Sammlern geplündert – die viktorianische Vorliebe, Spezies auszurotten, wurde so fast auf bereits ausgestorbene Arten übertragen. Reiche Amateure füllten ganze Räume mit ihren Fundstücken und investierten für die kleineren Exponate in spezielle Fossilienschränke: hüfthohe Schränkchen mit Reihen von ausziehbaren, verglasten Schubladen, die unter der Glasscheibe in Dutzende von streichholzschachtelgroßen Fächern unterteilt waren. In jedem dieser kleinen und sorgfältig beschriebenen Fächer lag ein Fossil: der Zahn eines Haies etwa oder der zarte Abdruck eines Farns auf einem Schieferplättchen. Kleine Friedhöfe dieser Art waren damals in Mode und standen in vielen wohlhabenden Häusern. Und die Leute kamen, um durch die Scheiben auf diese Relikte vergangener Welten zu schauen, dabei über ihre Sterblichkeit nachzudenken und über das unsägliche Alter der Erde nachzusinnen.

Diese aufflammende Begeisterung für Fossilien ist für unsere Untersuchung in doppelter Hinsicht von Bedeutung. Zum einen, weil sie die Faszination der Menschen des 19. Jahrhunderts für die vergangenen Erdzeitalter nur noch verstärkte. Fossilien seien »uralte Denkmäler der Natur, […] geschrieben in einer lebendigen Sprache«, hatte Charles Lyell völlig zu Recht in seinen Principles festgestellt, und die Paläontologie lehrte die Menschen genau wie die Geologie, wie man eine Landschaft als Geschichtsbuch liest und was sie über die Vergangenheit erzählt. Die Geologie war in der Tat während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Populärwissenschaft schlechthin. 1861 stellte die Königin von England sogar einen königlichen Mineralogen am Hof an. Geologischer Tourismus wurde zu einer wachsenden Einkommensquelle. Jene, die um 1860 vorhatten, sich auf eine geologische Reise zu begeben, konnten aus einer ganzen Reihe von Seminaren auswählen, die sie in Gesteinskunde unterrichten würde. Denjenigen, die eine persönliche Anleitung bevorzugten, bot Professor William Turl in der Green Street in London gemäß seiner Zeitungsannonce eine »individuelle Schulung für Touristen, sodass sie genügend Wissen erwerben können, um alle normalen Bestandteile der kristallinen und vulkanischen Gesteine identifizieren zu können, auf die man in den europäischen Bergen stößt«.

Die zweite wichtige Bedeutung dieser Begeisterung für Fossilien war, dass er Tausende dazu ermutigte, hinaus in die Natur zu gehen und somit eine aktive Annäherung an Felsen und Gestein förderte. In der Tat lag der Ursprung der westlichen Geologie in den Bergen und das Bergsteigen hing stets mit der Geologie zusammen. Viele der ersten Pioniere unter den Geologen wie Horace Bénédicte de Saussure oder der Schotte James David Forbes waren zugleich Pioniere unter den Bergsteigern.** Saussures vierbändiges Werk Voyages dans les Alpes (1779–1796) war sowohl ein grundlegendes Geologiebuch als auch eine der ersten Reisebeschreibungen der Wildnis. Als 1807 die Geological Society of London gegründet wurde, waren sich deren Mitglieder durchaus darüber im Klaren, dass die Auswirkungen ihrer Wissenschaft gegen die religiösen Überzeugungen der damaligen Zeit antraten. Sie wollten weder für komische Käuze noch für Bilderstürmer gehalten werden und stilisierten sich schließlich zu »Rittern des Hammers«, zu ritterlichen Männern der Wissenschaft, die auf der Suche nach Wissen in die Wildnis aufbrechen. Robert Bakewell bemerkte in seiner Introduction to Geology (1813), es sei eine »zusätzliche Empfehlung für das Studium der Geologie, dass deren Jünger dabei alpine Regionen erforschen«. Wie als Beweis dafür zeigt die erste Ausgabe der Introduction auf der zweiten Buchseite ein Bild von Bakewell, wie er glücklich zwischen den Basaltsäulen auf dem Gipfel des Cadair Idris in Wales sitzt. Die Geologie brachte den Menschen des frühen 19. Jahrhunderts nicht nur die Beschäftigung mit alten Knochen und Steinen, sondern auch eine gesundheitsfördernde Betätigung im Freien und eine romantische Sensibilität. Doch damit nicht genug, wurde die Geologie von vielen als eine Form von Geisterbeschwörung verstanden, die eine magische Reise in die Vergangenheit ermöglichte, wo man, wie es ein »Ritter des Hammers« einmal ausdrückte, auf Wunder stieß, die phänomenaler waren, als Erfundenes es je sein kann. Nach den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts, als sich die Grundzüge der klassischen Geologie in Europa und Amerika verbreiteten, wurde immer mehr Menschen bewusst, dass die Berge einen Ort darstellten, an dem man sich in den Archiven der Erde umsehen konnte – im ›Großen Buch der Steine‹, wie man es damals nannte.

 

Ich hatte als Junge zwei Bücher über Steine. Das eine war ein schmales Taschenbuch, ein Führer über Gesteinsarten und Kristalle, mit Beschreibungen und Fotos von Hunderten verschiedener Steine, deren klingende Namen ich vor mich hinmurmelte, bis ich sie gelernt hatte: roter und grüner Serpentin, Malachit, Basalt, Flurspat, Obsidian, Rauchquarz, Amethyst. Stundenlang suchte ich die schottische Küste ab. Nicht etwa, um dort Überbleibsel der Flut aufzuspüren – etwa eine einzelne Flip-Flop-Sandale von einem vorbeifahrenden Passagierschiff, den neonfarbenen Schwimmkörper eines Treibnetzes oder die vulkanisierte Leiche einer Qualle, obwohl das zweifellos wunderbare Fundstücke waren. Ich war dort wegen der Steine, mit denen die Strände übersät waren. Während ich mit dem Führer in der Hand knirschenden Schrittes über dieses geologische Potpourri ging, stürzte ich mich auf einen Stein nach dem anderen, sammelte sie und stopfte sie in meine Schultertragetasche aus Leinen, wo sie mit einem dumpfen oder quietschenden Geräusch aneinanderstießen. Das war wie freie Auswahl im feinsten Süßigkeitengeschäft der Welt: Ich konnte nie ganz glauben, dass ich die Steine mitnehmen durfte. Ich schleppte sie heim, legte sie in Behälter auf dem Fenstersims und sorgte mit Wasser dafür, dass sie glänzten und angenehm glatt waren.

Ich liebte die Farben der Steine und wie sie sich anfühlten – die großen flachen, die so schön warm waren, in die Hand passten wie ein Diskus und blaue oder rote Ringe hatten, die sich vom rauchgrauen Hintergrund abhoben. Oder die schweren Graniteier, die über Epochen hinweg von der Massage des Ozeans glatt geschmirgelt worden waren. Oder die Feuersteine, die aussahen wie Edelsteine, so transparent waren wie dunkles Bienenwachs und in die man so tief hineinschauen konnte wie in ein Hologramm. Aber was mich wirklich faszinierte, während ich mehr über Geologie las, war die Erkenntnis, dass jeder Stein seine eigene Geschichte hat, eine Biografie, die über mehrere Zeitalter zurückreicht. Ich war auf seltsame Weise stolz darauf, dass sich mein Leben mit jedem dieser unfassbar alten Objekte gekreuzt hatte, und dass sie wegen mir nun auf dem Fenstersims lagen und nicht mehr am Strand. Gelegentlich nahm ich zwei Steine und schlug, den einen als Hammer nutzend, auf den anderen damit ein. Ein Aufschlag war zu hören, dann entstand ein Riss, ein orangefarbener Funken sprühte, und es roch nach zerborstenem Fels. Einen kurzen Moment lang war ich erfreut darüber, dass ich das geschafft hatte, was den geologischen Kräften in Billionen von Jahren nicht gelungen war.

Dann wanderte ich über die schottischen Hügel und durch die langen Glens der Cairngorms und suchte nach Mineralien. Meine Lieblingsschätze aus den Hügeln waren die von Flüssen rund geschliffenen Brocken von Rosenquarz mit ihrer kalkhaltigen rosa-weißen Tönung und ihrer weich schimmernden Brillanz. Ich schätzte auch den schottischen Granit, der mit seinem pinkfarbenen Feldspat und den dicken Quarz-Flecken aussah wie eine geologische Leberpastete. Ich las mehr über die Geologie und begann die Grammatik der schottischen Landschaft zu verstehen, die Art, wie ihre Hauptbestandteile miteinander zusammenhingen – und auch ihre Etymologie, wie sie entstanden ist. Und ich schätzte ihre Kalligrafie, die Versalien der Täler und Berge, die komplizierten Gravuren der Ströme und Bäche und die herrlichen Serifen der Gratlinien und Talböden.

Von allen Gipfeln oder Hängen der Berge, die ich mit meiner Familie bestiegen habe, nahm mein Vater einen Stein mit und trug ihn in seinem orangen Segeltuchrucksack hinab. Er gruppierte sie zu Dutzenden und legte einen Steingarten davon an. Ich erinnere mich an einen Haufen aus Gneisklumpen, an ein schwarzes Basaltkissen, und an eine etwa ein Meter lange Platte aus Silberglimmer, so glänzend wie die Haut eines Lachses, sowie an ein Stück schwarzes Vulkangestein, in das Dutzende Quarzkörnchen eingebettet waren. Der Schönste von allen war für mich ein abgerundeter Block aus gelb-weißem Quarz, der sich so weich und zart anfühlte wie dickflüssiger Rahm.

Trilobiten

Das andere Geologiebuch, das ich als Kind besaß, war der chauvinistische Boy’s Guide to Fossils, ein Fossilienführer für Jungen. Während eines Sommers, den ich in einem Häuschen nahe der schottischen Küste verbrachte, war er mein ständiger Begleiter. Oben zwischen den Felsnasen der Klippen, wo die Sedimente mit ihren abgerundeten Kanten lagen, sammelten mein siebenjähriger Bruder und ich, der ich zwei Jahre älter bin, Belemniten, versteinerte Schalen eines tintenfischähnlichen Kopffüßlers. Sie waren spitz und hart wie Patronenhülsen. Wir suchten die Strandschicht nach Trilobiten, den Urkrebsen, ab. Ein hoffnungsloses Unterfangen wie ich heute weiß. Wir holten mit dem Messer Steinklumpen aus den Klippen und schlugen sie mit dem Hammer auf. Wir wanderten hinauf zu den Seen in den Hügeln des Hinterlands und zogen mit unseren kleinen Angeln und winzigen Fliegen Forellen aus dem Wasser: kleine, dunkle Fische, gerade mal so lang wie eine Hand, die in meiner neuerdings stark gewachsenen Fantasie aber mindestens eine Milliarde Jahre alt waren – also eher Quastenflosser denn Forellen. Abgesehen von den Belemniten fanden wir aber keine richtigen Fossilien mehr in diesem Jahr. Weder Ammoniten noch einen Ichthyosaurier. Und ganz bestimmt keinen Archaeopteryx oder gar gigantische prähistorische Haie. Unsere Erfolglosigkeit hielt mich jedoch nicht davon ab zu träumen, den Schädel eines Plesiosaurus aus einer weichen Kalkschicht zu ziehen oder in Sibirien über den Permafrost zu wandern, mit dem Zeh gegen die Spitze eines Stoßzahns zu stoßen und im Eis ein Mammut zu entdecken, das mich ängstlich von unten anstarrt.

Zwei Sommer nach diesen Ferien in Schottland reiste unsere Familie durch die Nationalparks der amerikanischen Wüstenstaaten. In Utah sahen wir die Felswände des Zion- und die Bögen des Arches-Nationalparks sowie die rosafarbenen Obelisken des Bryce Canyons, die links und rechts des Tals aufgereiht dastanden wie barocke Raketen. Ich glaube, dass es in der Nähe des Zion-Nationalparks war, wo wir an einer Tankstelle am Straßenrand hielten, um unseren großen amerikanischen Wagen mit Benzin zu füllen. Auf einer Seite des geschotterten Vorplatzes sah ich einen Mann mit einer Schirmmütze. Er saß auf einem Stuhl hinter einer Kreissäge, die auf einem Gestell befestigt war. Zu seiner Linken war eine Pyramide von rohen Steinbrocken aufeinander gehäuft wie ein Berg von Orangen. Wir gingen hinüber zu diesem Mann und ein Gespräch entwickelte sich zwischen ihm und meinem Vater. »Nimm dir einen Stein«, sagte mein Vater, als er sich zu mir umdrehte. Der Mann stand auf und schaute mir zu, während ich den Steinhaufen untersuchte. Ich fragte mich, ob das vielleicht Dracheneier waren. Ich wog einen der Steine in meiner Hand. Er fühlte sich weniger schwer an, als ich erwartet hatte, und flüsterte meiner Mutter zu, dass er leicht sei.

»Das ist ein gutes Zeichen«, sagte der Mann, nahm meinen Stein, setzte sich wieder auf den Stuhl und stellte ein Bein rechts und das andere links des Sägeblatts. »Leicht bedeutet, dass er innen Platz hat. Nimm ihn.«

Er machte die Säge an, ihre silbergrauen Zähne schienen sich zunächst in die eine, dann in die andere Richtung zu drehen und verschwammen dann zu einer einzigen unbeweglichen Schneide. Der Motor der Säge blies in rhythmischen Stößen blauen Rauch in die Luft. »Pass auf«, rief mir mein Vater über den Lärm der Säge hinweg zu. Ich fragte mich, was geschehen würde, wenn die Säge in den Schoß des Mannes fiele. Mit einem Griff senkte der Mann das Sägeblatt langsam zu meinem Felsei, das er in einer Halterung fixiert hatte. Es dauerte etwa eine Minute, bis sich die Säge kreischend durch den Stein gearbeitet hatte. Als sie durch war, machte der Mann die Säge aus und hob das Sägeblatt hoch. Der Stein fiel von der Halterung hinab in eine Decke, die unter der Säge lag und brach auseinander wie ein halbierter Apfel. Er trocknete die beiden Teile mit einem gelben Handtuch und streckte sie mir entgegen. »Du hattest Glück«, sagte er langsam. »Du hast eine gute Wahl getroffen, eine Geode. Die meisten Leute haben nicht so viel Glück wie du.« Ich hielt in jeder Hand eine Hälfte und betrachtete sie. Jede war innen hohl wie eine Höhle und an den Wänden der beiden Höhlen befanden sich unzählige blaue Kristallzähnchen. Als wir wegfuhren und die Kieselsplitter gegen das Chassis des Wagens spritzten, setzte ich die beiden Hälften wieder zu einem rauen Felsbrocken zusammen, zog sie dann erneut auseinander und war immer wieder überrascht von dem, was ich da sah.


Zwischen 1810 und 1870 wurde die Skala der »tiefen Zeit« konstruiert und beschriftet. Sie wird jedem geläufig sein, der je ein Geologiebuch aufgeschlagen hat, und die Litanei ist so wohlklingend wie der Wetterbericht für die Schifffahrt: Präkambrium. Kambrium, Ordovizium, Silur, Devon, Karbon, Perm, Trias, Jura, Kreide, Tertiär, Quartär … Die geballte Macht der Sprache, die sogar mächtiger ist als die geophysikalischen Kräfte, die sie beschreibt, wurde für die geologische Vergangenheit verwendet und somit hunderte Millionen von Jahren ohne jegliche Anstrengung in einige Buchstaben zusammengepackt. Zunächst war die Geologie zwar ein Spätentwickler unter den Wissenschaften, während des 19. Jahrhunderts ging es aber erstaunlich rasch voran, indem die Zeit immer weiter rückwärts aufgerollt, benannt und etikettiert wurde. Die Zahl der populärwissenschaftlichen Geologiebücher nahm stark zu und das lesende Publikum verstand immer mehr, was die Lyriker unter den Geologen als »die Symphonie der Erde« bezeichneten – das sich wiederholende Muster von Hebung und Erosion, das Berge und Meere sowie Senken und Massive entstehen ließ. Unzählige Artikel über die Geologie und deren Erkenntnisse wurden in ganz Europa und in Amerika in Zeitschriften veröffentlicht. Jeder wurde in die Geheimnisse der Erdgeschichte eingeweiht.

»Der Wind und der Regen haben Bilderbücher geschrieben für diese Generation«, schrieb Charles Dickens 1851 für seine Zeitschrift Household Words,

Bilderbücher, aus denen sie lernen kann wie Regen entsteht, wie es zu Flut und Ebbe kommt und wie große Tiere, die längst ausgestorben sind, in uralten Zeiten auf die zerklüfteten Flanken der Felsen kamen. Je mehr wir über die Natur in all ihren Bereichen wissen, desto größer ist der Nutzen, den sie uns bietet.

So wie die Vorstellungskraft im 19. Jahrhundert durch die weite Spanne der Zeit, welche die Geologie zum Vorschein brachte, angeregt wurde, so wurde sie auch vom Konzept der geophysikalischen Kraft entfacht – jener unfassbaren Kraft, die erforderlich ist, um Sandstein zu kneten wie Teig, um Bäume in schimmernde Kohleflöze zu verwandeln und um Meerestiere in Marmorblöcke zu quetschen. Die Romantik hatte das kollektive Nervensystem des 19. Jahrhunderts darauf eingestimmt, den Exzess zu schätzen, und die vererbte Lust am Grandiosen und Gigantischen erklärt zum Teil den Enthusiasmus, mit dem die Geologie aufgenommen wurde.

In der Mitte des Jahrhunderts hatte John Ruskin viel über Geologie gelesen und begann nun seinerseits auf brillante Art über das in Zeitlupe verlaufende Drama der Gebirgsbildung zu schreiben. Die Veröffentlichung von Ruskins Old Mountain Beauty von 1856 war wie das Erscheinen von Lyells Principles im Jahre 1830 ein bedeutender Moment in der europäischen Landschaftsgeschichte. »Berge sind der Anfang und das Ende aller Naturlandschaften«, erklärte Ruskin am Anfang, und er duldete im gesamten Buch keine Kritik an dieser Feststellung. Lyell war ein Lehrer, Ruskin ein Dramaturg. Die Landschaft selbst lieferte, seinem Verständnis nach, die Geschichten ihrer Entstehung. Während er über die Natur des Granits mit seinem Gemisch aus Mineralien und Farben nachsann, träumte Ruskin von der Gewalt, die seiner Entstehung zugrunde lag: »Die verschiedenen Atome haben alle verschiedene Formen, Charaktere und Pflichten, wurden aber untrennbar miteinander verbunden durch einen feurigen oder taufenden Prozess, der sie alle gereinigt hat.« Beim Basalt erkannte er, dass dieser während eines Stadiums seiner Entstehung »die verflüssigende und ausdehnende Kraft des unterirdischen Feuers« besaß. Durch die Optik von Ruskins Prosa betrachtet, wurde die Geologie zum Krieg oder zur Apokalypse. Der Blick vom Gipfel eines Berges wurde zum Panoramablick über ein Schlachtfeld, auf dem sich feindliche Armeen von Fels, Stein und Eis epochenlang mit unglaublicher Langsamkeit und unvorstellbaren Kräften bekämpft hatten. Wenn man das liest, was Ruskin über Felsen geschrieben hat, dann wird man an die Mittel erinnert, die an ihrer Erschaffung beteiligt waren.

 

Zwischen 1820 und 1880 entstand auch in Amerika eine Dynastie von Landschaftskünstlern, die von den dramatischen Naturlandschaften der Vereinigten Staaten inspiriert wurden, darunter vor allem Frederick Edwin Church. Obwohl diese Künstler eindeutig vom britischen Triumvirat aus John Ruskin, William Turner und John Martin beeinflusst waren, so waren sie doch auch erfüllt vom typisch amerikanischen Wunsch, in der Darstellung der Landschaft ihrer Nation sowohl Ehrfurcht als auch Stolz auszudrücken, um das von Gott auserwählte Land zu ehren. Zu diesem Zweck erstellten sie riesige Gemälde von der amerikanischen Wildnis, oft in grellen Farben – die roten Fels-Zitadellen der Wüstenstaaten, die gebirgigen Thronsäle der Anden, die lodernden Himmel und spiegelnden Seen der Rockies oder die sprühende Großartigkeit der Niagara-Fälle. Ihre gigantischen Bilder betonten die Schwächlichkeit und Vergänglichkeit des Menschen. Oft kann man in einer Ecke der Gemälde ein oder zwei winzige Menschen erkennen, die von den wuchtigen Landschaftsporträts überragt werden. Diese Künstler waren außerdem auch in Botanik und Geologie versiert. Einige ihrer Bilder enthielten so viele landschaftliche Details, dass die Betrachter bei der ersten Ausstellung mit Operngläsern ausgerüstet wurden, damit sie die außergewöhnliche geologische Korrektheit des Gemäldes erkennen konnten – eine Erinnerung daran, wie eng verbunden die Geologie und die Darstellung der Berge waren.


Ein Ölgemälde ist ein geeignetes Medium, um die Entwicklung der Geologie wiederzugeben, da die Ölfarben quasi Landschaften in sich tragen aufgrund der Mineralien, aus denen sie bestehen. Ölfarben entstanden im 15. Jahrhundert als flämische Maler, darunter vor allem die Gebrüder van Eyck, versuchten, Leinsamenöl mit verschiedenen natürlichen Pigmenten zu vermischen. Dabei stellten sie fest, dass sie eine Substanz geschaffen hatten, die nicht nur kräftigere Farben erzeugte, sondern auch bezüglich der Trocknungsdauer besser war als die traditionelle Temperafarbe aus Ei. Viele der Pigmente, die sie mit Ölen vermischten, waren mineralischen Ursprungs. Ungebrannte Steinkohle wurde vor allem von den flämischen und holländischen Malern des 17. Jahrhunderts benutzt, um Schatten auf der Haut wiederzugeben. Schwarze Kreide und Kohle wurden für die Herstellung brauner Tinte verwendet. Die hellen Blautöne, die beispielsweise Claude Lorrain oder Nicolas Poussin verwendeten, um die Berge tief im Hintergrund darzustellen, entstanden aus Kupferkarbonaten oder Silberverbindungen. Der spezielle »schäumende« Effekt, auf den die holländischen Meister so stolz waren in ihren Darstellungen des Himmels, weil sie so auf hervorragende Weise die Konsistenz von Zirruswolken nachahmen konnten, wurde durch die Verwendung von pulverisiertem Glas und Asche hervorgerufen. Sinopia, rotes Eisenoxid, wurde benutzt, um Gesichtern und Bekleidung rötliche Töne zu verleihen oder für die ersten Skizzen eines Freskos auf Gips. Die Geologie ist also eng verbunden mit der Geschichte der Malerei. In den Ölgemälden der Landschaftsmalerei wurde die Erde dazu gezwungen, sich selbst wiederzugeben.

Eine noch engere Übereinstimmung zwischen Medium und Botschaft findet man in den »Suiseki-Steinen«, die in der T’ang und Sung-Dynastie von China populär waren. 700 Jahre bevor die Romantik die westliche Wahrnehmung von Bergen und Wildnis revolutionierte, huldigten chinesische und japanische Künstler bereits den spirituellen Qualitäten wilder Landschaften. Kuo Hsi, ein gefeierter chinesischer Maler und Verfasser von Essays aus dem 11. Jahrhundert, vertrat in seinem Essay über Landschaftsmalerei die Auffassung, dass eine wilde Landschaft »die Natur eines Menschen nährt«. Er schrieb, dass

die menschliche Natur das Getöse der staubigen Welt und die Abgeschlossenheit der menschlichen Behausungen für gewöhnlich verabscheut, während die menschliche Natur im Gegensatz dazu Dunstschleier, Nebel und die eindringlichen Stimmungen der Berge sucht.

Diese ehrwürdige östliche Wertschätzung der Wildnis erklärt die Beliebtheit der Suisekis, einzelner Steine, die durch die Kraft von Wind, Wasser und Frost in komplizierte, dynamische Formen umgewandelt wurden. Man fand sie in Höhlen, Flussläufen und Bergflanken, und sie wurden auf kleine Holzpodeste gestellt. Die Steine, die von Schülern auf dem Schreibtisch oder im Arbeitszimmer aufbewahrt wurden, so wie wir das von Briefbeschwerern kennen, wurden geschätzt, weil sie die Geschichte und die an ihrer Entstehung beteiligten Kräfte darstellten. Jedes Detail an der Oberfläche eines solchen Steines, jede Furche, Nase, Luftblase, Kante oder Perforation war ein Bericht über Äonen von Jahren. Jeder Stein war ein kleiner Kosmos im Taschenformat. Suisekis waren keine Metaphern für eine Landschaft, sie waren Landschaften. Viele dieser Steine sind noch erhalten und können in Museen besichtigt werden. Wenn man einen davon ganz aus der Nähe und lang genug betrachtet, dann verliert man jeden Maßstab, und dann können die Kringel, die Vertiefungen, die Hügel und die Täler, die die Natur in ihnen verewigt hat, groß genug wirken, um sie zu durchwandern.


Man muss hinzufügen, dass nicht jeder von den Fortschritten der Geologie im 19. Jahrhundert begeistert war. Das Gefühl, dass die Geologie genauso wie die anderen Wissenschaften auf bestimmteWeise die Menschheit verdrängt hatte, war weit verbreitet. Die wissenschaftlichen Untersuchungen und Methoden hatten auf gnadenlose und unwiderlegbare Art bewiesen, dass der Mensch nicht mehr und nicht weniger von Bedeutung ist als jede andere Anhäufung von Materie. Die Geologie hatte die Weltanschauung der Renaissance, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei, untergraben. Die trostlose Ausdehnung der Zeit, die von der Geologie ans Licht gebracht wurde, war der überzeugendste Beweis dafür, dass die Menschheit bedeutungslos ist. Wer nachvollziehen konnte, dass Berge abgetragen werden und zu Staub zerfallen, musste zwangsläufig auch die Ungewissheit und Vergeblichkeit des menschlichen Strebens spüren. »Die Hügel sind Schatten«, schrieb der englische Lyriker Alfred Tennyson (1809–1892) in seinem Klagelied In Memoriam: »und sie fließen / von Form zu Form, und nichts bleibt. / Der feste Boden löst sich auf wie Dunst / Wie Wolken formt er sich selbst und geht dahin«. Und was das »Fließen von Form zu Form« betrifft: Die Philologie zeigte, dass die Sprache ebenso unaufhörlich Veränderungen unterworfen ist wie alles andere. Nicht einmal Worte bedeuteten noch das, was sie früher bedeuteten. Nichts war beständiger als der Wechsel.

Im Großen und Ganzen wurden die Enthüllungen der Geologie jedoch eher für inspirierend als für bedrohlich gehalten. Genauso gut wie Ruskin die Kräfte der Erde beschreiben konnte, brachte er sein Publikum dazu, eine Landschaft sowohl dahingehend zu interpretieren, was ihr fehlte als auch dahingehend, was vorhanden war – beispielsweise, an was es den Hügeln fehlte durch katastrophale Umwälzungen oder durch die unaufhörliche Arbeit der Erosion. In Ruskins Schriften erhob sich ein Berg nach dem anderen vor dem inneren Auge einer Fantasie, die alle Eventualitäten von »könnte gewesen sein« und »war einmal« in Betracht zog. Wie Shakespeares wunderbarer Prospero rief Ruskin die Geister der Vergangenheit und ließ sie über die Linien des Horizontes und über die Grate des Tages hinweg aufsteigen. Er lehrte, dass die wilde Natur lediglich eine Ruine von etwas viel Erstaunlicherem war – der Verfallszustand dessen, was er »die ersten großartigen Formen, die einst geschaffen wurden« nannte. Sogar das Matterhorn, dessen nach oben strebende Pracht Bewunderer zu Tausenden ins Tal von Zermatt zog, bezeichnete Ruskin als Skulptur, die von den wütenden Kräften der Erde aus einem einzigen Block gemeißelt und zurechtgeschnitten war. So wie John Muir später in den Vereinigten Staaten hat Ruskin seine zahlreichen Leser gelehrt, dass die geologische Vergangenheit überall erkennbar ist, wenn man nur weiß, wie man schauen muss.