Das Weltkapital

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Die Zersetzung der Nationalökonomien und das Ende des »ideellen Gesamtkapitalisten«

Es ist unschwer zu erkennen, dass die in transnationale Strukturen molekular aufgelöste Betriebswirtschaft nicht bloß mit dem Begriff, sondern auch mit der realen Existenz eines »nationalökonomischen« Zusammenhangs unvereinbar ist. Denn diese Kohärenz setzt ja einen einheitlichen Funktions-raum von darin eingebundenen Betriebswirtschaften voraus, der mit anderen, gleichartigen Funktionsräumen in eine eindeutig definierte und auch quantitativ erfassbare Außenbeziehung tritt. Wurde dieses Verhältnis im Keim schon durch die »Multis« der 70er Jahre in Frage gestellt, so ist es jetzt endgültig auseinandergefallen, wie sich am Beispiel der Entwicklung von US-Firmen in der Volksrepublik China zeigt:

»(Die) US-Konzerne haben ihr Engagement im bevölkerungsreichsten Land der Erde in den 90er Jahren so erheblich ausgedehnt, dass China inzwischen als eine Drehscheibe in ihren globalen Produktionsnetzen fungiert und zu einem führenden Verteilzentrum für den Vertrieb in Asien aufgestiegen ist. Deutlich wurde diese Entwicklung in den vergangenen Wochen, als Intel in Schanghai beantragte, die Kapazität seiner Chipfabrik in der Stadt zu verdoppeln, aber auch bei der Erweiterung des Forschungslabors von Microsoft in Peking, wo der Softwareriese die nächste Generation von Computerprodukten für ganz Asien entwickeln will. Folge dieser Anstrengungen von US-Konzernen: Der Umsatz von Firmen mit US-Mehrheitsbeteiligung in der Volksrepublik ist bereits so groß wie die gesamten US-Exporte nach China. Investitionen von amerikanischen Firmen in China ersetzen mit wachsendem Tempo den herkömmlichen Außenhandel ... Wurden 1989 noch 95% der Produktion US-geführter Firmen in China lokal verkauft, so sank deren Inlandsabsatz bis 1998 auf rund zwei Drittel. Immer mehr wird stattdessen von China aus in andere Länder Asiens und in die USA exportiert. Offenbar fürchtet die US-Industrie vor dem Hintergrund dieser wachsenden Verzahnung eine harte Linie der neuen Administration gegenüber China. Die US-Investmentbank Morgan Stanley hat in einer Analyse zu dem Engagement der US-Industrie in der Volksrepublik China jetzt vorsorglich gewarnt: ›Aus dem Umfang, wie US-Multis zunehmend China in ihre regionalen und globalen Netzwerke einbeziehen, wird deutlich, dass die Wirtschaftsbeziehungen der USA bei weitem nicht nur vom Güteraustausch geprägt werden ... Wir hoffen, dass die Bush-Administration dies nicht übersieht‹...« (Handelsblatt, 7.2.2001).

Hier wird ein aus der Transnationalisierung des Kapitals entstehender neuer Widerspruch zwischen dem betriebswirtschaftlichen Kalkül und der nationalökonomischen Logik der politischen Administration deutlich: Während letztere auf die nationale Handels- und Kapitalbilanz fixiert bleiben muss, bezieht sich ersteres bereits auf eine ganz andere Ebene, auf der jene Waren- und Kapitalströme, die vom staatlichen Standpunkt aus als Import oder Export erscheinen, sich als betriebswirtschaftliche Binnenbewegung darstellen. Deshalb können handelspolitische Maßnahmen der staatlichen Administration, die etwa darauf abzielen, das Defizit der USA im Warenaustausch mit China zu vermindern, aus der betriebswirtschaftlichen Sicht von transnationalen US-Unternehmen als völlig kontraproduktiv erscheinen, die aus China in die USA Waren oder Produktkomponenten im Rahmen ihrer Unternehmenstätigkeit liefern.

Ähnlich wie US-amerikanische nutzen auch japanische Konzerne Direktinvestitionen in China für das Outsourcing von Teilbereichen ihrer Produktion zwecks Kostensenkung, um die Produkte der »Lohnveredelung« dann zu reimportieren oder in die USA zu exportieren – natürlich auf Kosten der inländischen Beschäftigung. China gilt in dieser Hinsicht als die kommende »verlängerte Werkbank der Welt«; es wird »um einige Veredlungsstufen im Wertschöpfungsprozess aufsteigen, ohne dabei – wie die meisten anderen asiatischen Länder – das untere Ende aufzugeben« (Wuttke 2001). Für eine industrielle Entwicklung Chinas in Bezug auf die gesamte Bevölkerungsmasse fällt dies nicht ins Gewicht, weil die Lohnveredelung durch Billigjobs vom Volumen her unter den Bedingungen der dritten industriellen Revolution kein Träger einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mehr sein kann. Aber für die Transnationalisierung der Betriebswirtschaft ist dieser Faktor sehr wohl bedeutsam.

Ähnliche Prozesse finden auch in anderen Weltgegenden und innerhalb Europas statt: Die Netzwerke der Konzerne entfernen sich immer weiter von einer nationalökonomischen Darstellbarkeit. Was nämlich vom nationalökonomischen Standpunkt aus wie der Export einer chinesischen Firma in die USA oder nach Japan aussieht, ist in Wirklichkeit der Verkauf von Waren einer US-Firma an US-Konsumenten über den Umweg China. Oder »eigentlich« ein japanischer Export in die USA über denselben Umweg. Noch verwirrender wird die Sache bei wechselnden transnationalen Besitzverhältnissen und Beteiligungen, in denen sich auch die juristische Zuordnung zu einem nationalökonomischen Raum verflüchtigt. Der »Chinese«, der in Wirklichkeit ein »Amerikaner« zu sein scheint, kann sich dann noch einmal als »Kanadier« oder »Deutscher« entpuppen und der wiederum als »Kuweiti«, der dann doch letzten Endes wieder ein »Amerikaner« ist usw.

Auf diese Weise kann sich natürlich eine Kampagne der Art »Kauft amerikanisch!« oder »Kauft deutsch!« etc. nur noch selber ad absurdum führen. So wird auch jeder Versuch ausgehebelt, einen bestimmten Anteil der Produktion gesetzlich oder administrativ an ein bestimmtes Land oder eine bestimmte Region binden zu wollen (»local content«), denn die Zuordnung der Firmen stimmt immer weniger mit ihren tatsächlichen Produktionsstandorten überein. Die Konsum- und Investitionsgüter haben keine bestimmte »Nationalität« mehr, ihr Pass ist gewissermaßen immer ein falscher.

Diese Erfahrung musste schon Anfang der 90er Jahre etwa die Stadtverwaltung von Greece (US-Bundesstaat New York) machen, als sie national pflichtbewusst einen Bagger der US-Firma John Deere bestellte, der um nicht weniger als 15.000 Dollar teurer war als das entsprechende Gerät der japanischen Firma Komatsu. Peinlicherweise mussten die patriotischen Stadtväter jedoch später feststellen, dass die Bagger von John Deere inzwischen in Japan montiert werden, während umgekehrt Komatsu sein Konkurrenzprodukt in den USA herstellen lässt (Wirtschaftswoche 6/1992); aus welchen unerforschlichen betriebswirtschaftlichen Ratschlüssen auch immer diese aus nationalökonomischer Sicht »verkehrte Welt« im Baggerbau entstanden sein mag. Ganz nebenbei wird an solchen Beispielen die Irrationalität der Globalisierung in ihrer kapitalistischen Form auf der materiellen Ebene deutlich, denn es entbehrt nicht der Komik, wie man sich hier unter ungeheurer Vergeudung von Energie, Transportkapazität etc. über den Pazifik hinweg gegenseitig mit Baggern beglückt, wobei die Japaner als Amerikaner und die Amerikaner als Japaner agieren. Seither haben sich derartig bizarre ökonomische Verflechtungen, die nur innerhalb bornierter betriebswirtschaftlicher Kalküle (unter Einschluss der Wechselkursverhältnisse) einen »Sinn« machen, noch viel weiter ausgedehnt.

Es lässt sich nicht leugnen: Zusammen mit der Betriebswirtschaft löst sich auch die Nationalökonomie auf. Im Unterschied zu ersterer kann sich jedoch die Nationalökonomie ihrer Natur nach nicht auf einer transnationalen Ebene reaggregieren und auf viele Räume verteilt weiterexistieren. Eine global molekular zerstreute Nationalökonomie wäre ein Widerspruch in sich. So löst sich die Nationalökonomie nicht in einen anderen Aggregatzustand auf, sondern sie verschwindet in ihrer Bedeutung als gemeinsamer Funktionsraum einer Summe von Betriebswirtschaften vollständig. Mit anderen Worten: Eine wesentliche Ebene der Kohärenz kapitalistischer Reproduktion wird zerstört.

Damit ergibt sich eine völlig neue Konstellation: Der Staat, der seinem Wesen nach immer nur (in welcher Größenordnung und Zusammensetzung auch immer) ein Nationalstaat sein kann, sitzt nicht mehr auf einer kohärenten Nationalökonomie als deren zusammenfassende Instanz auf, sondern er sieht sich unvermittelt einer transnational zerstreuten Betriebswirtschaft gegenüber. Die frühere Ebene des inter-nationalen Weltmarkts hat sich in einen direkten betriebswirtschaftlichen Funktions-Raum verwandelt. Der Staat erscheint im Vergleich mit seiner einstigen Funktion gewissermaßen als ökonomisch entleert; er ist zu einer schlaffen und sozialökonomisch in sich zusammenfallenden politischen Hülle geworden. Insofern büßt er jene spezifische Qualität aller modernen Staatlichkeit auf Basis des warenproduzierenden Systems ein, die Marx als Funktion eines »ideellen Gesamtkapitalisten« bezeichnet hat.

Der von Marx lange vorausgesagte, zerreißende Widerspruch im kapitalistischen Gefüge ist also endlich praktisch reif geworden: Beide Seiten der kapitalistischen Reproduktion, Betriebswirtschaft (Ökonomie) einerseits und Staat (Politik) andererseits sind ihrer vermittelnden Instanz, der nationalökonomischen Kohärenz, verlustig gegangen und stehen sich nun gespenstisch entleert und äußerlich gegenüber. Diese neue Qualität des kapitalistischen Selbstwiderspruchs schlägt sich auch auf der Ebene der Loyalitätsbeziehungen von Management und politischer Klasse nieder. In demselben Maße, wie das betriebswirtschaftliche Kapital aufhört, integraler Bestandteil eines nationalen Kapitalstocks zu sein, verändert sich auch die strategische Orientierung; betriebswirtschaftliche und nationale Loyalität fallen irreversibel und zunehmend gegensätzlich auseinander.

Das mag auch manchem Unternehmer und Manager Bauchschmerzen bereiten; vor allem den mittelständischen, die unter dem Druck des Weltmarkts zu einer transnationalen Diversifizierung gezwungen werden, die sogar ihren eigenen kulturellen Horizont weit übersteigt. Das betrifft etwa den Seniorchef des berüchtigten Kettensägenproduzenten Stihl:

 

»Die Verlagerung von Produktion ins Ausland wird für immer mehr Unternehmen zum Rettungsanker, wenn sie zumindest teilweise noch in Deutschland bleiben wollen. Selbst für Weltmarktführer wie den Motorsägen-Hersteller Stihl, dessen 3500 Beschäftigte in den deutschen Stammwerken inzwischen weniger als die Hälfte der weltweit 7700 Mitarbeiter ausmachen. Hans Peter Stihl kein deutscher Patriot? Der Unternehmenssenior würde dies als Diffamierung ansehen. Er fühlt sich seiner schwäbischen Heimat eng verbunden, kurvt immer noch trotz seiner 72 Jahre liebend gern auf seiner BMW durchs Ländle und finanziert den 39-köpfigen Stihl-Chor, der bei den regelmäßigen Jubilarfeiern in der nüchternen Kantine des Werkes II Waiblingen deutsches Volkslied von ›Ninoschka, lass dich küssen‹ bis zu ›Abendlüfte, Abenddüfte‹ zum Besten gibt« (Ramthun/Leendertse 2005).

Da müssen einem doch die Tränen kommen. Die Abenddüfte des unternehmerischen Patriotismus verlieren sich jedoch in der Weite der ökonomischen Globalisierung wie der Furz im Wald. Wenn gelegentlich solche Schmalz- und Rührstücke á la Stihl aufgeführt werden, signalisieren sie nicht nur eine Überforderung bestimmter Akteure, sondern auch eine Defensivpropaganda gegenüber der politischen Klasse und der so genannten öffentlichen Meinung, wo jeweils die nationalistische Reaktion gegen die Konsequenzen der Globalisierung blüht. Das Zerreißen der Kohärenz von Betriebswirtschaft und Nationalökonomie setzt sich ungeachtet dessen fort; und die betriebswirtschaftliche Rationalität ist dabei sogar juristisch fundiert, auch wenn das stets nationalstaatlich kodifizierte Recht auf den casus der Globalisierung nicht vorbereitet sein kann:

»Am Ende gelten auch für Familienunternehmen im globalen Wettbewerb die gleichen betriebswirtschaftlichen Zwänge wie für Aktiengesellschaften. Für sie ist Patriotismus ohnehin nicht vorgesehen. Das deutsche Aktienrecht verbietet den Kapitalunternehmen, wichtige Entscheidungen aus anderen als betriebswirtschaftlichen Erwägungen zu treffen, erklärt Klaus Zumwinkel, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post AG. Aktienrecht und Corporate Governance Kodex besagen eindeutig: Der Vorstand ist an das Unternehmensinteresse gebunden und der Steigerung des nachhaltigen Unternehmenswertes verpflichtet« (Ramthun/Leendertse, a.a.O.).

Und »betriebswirtschaftliche Erwägungen« wie Interesse an der »Steigerung des Unternehmenswertes«, die zunehmend auch von den Entscheidungen »ausländischer« (transnationaler) Investoren und den Präferenzen »ausländischer« (transnationaler) Aktionäre abhängen, treten nun einmal in der dritten industriellen Revolution in Gegensatz zum nationalökonomischen Bezugssystem, dessen Auflösung auch gegen den Willen bestimmter Akteure in der Folge jede nationalpolitische Loyalität auflöst. Was schon immer abstrakt im Begriff des Kapitals selbst angelegt war und nur in einer (wenn auch relativ langen) historischen Übergangsepoche nationalökonomisch gebändigt werden konnte, manifestiert sich nun als unmittelbarer betriebswirtschaftlicher Handlungszwang:

»Nach einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey nutzen viele deutsche Unternehmen die Vorteile der globalen Produktionsnetzwerke noch nicht konsequent genug. Welche Kostenersparnis möglich ist, rechnet McKinsey-Direktor Raimund Diederichs anhand eines Computermodells vor: Danach könne ein Hersteller von einfachen Autogetrieben, wenn er die wertvollsten Teile aus Tschechien bezieht und in China oder Mexiko für den dortigen Markt montiert, seine Fertigungskosten von rund 590 auf 348 Euro inklusive Zöllen und Transport senken. Diese Rechnung machen die deutschen Autokonzerne gerade ihren Zulieferern auf, berichtet Dieter Hundt, Chef der Allgaier Werke im schwäbischen Uhingen und Präsident der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA): Er bekommt von den Automobilbauern nur noch Aufträge, wenn er um 30 bis 40 Prozent unter der bisherigen Kalkulation bleibe. ›Wenn wir da nicht verstärkt im Ausland produzieren lassen‹, schlussfolgert Hundt, ›verrecken wir‹...« (Ramthun/Leendertse, a.a.O.).

Die unternehmerische Defensivpropaganda unter dem Eindruck jüngster patriotischer Schübe der sich in ihrer Legitimationsnot bis zur Demagogie versteigenden politischen Klasse kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das Loyalitäts-, Interpretations- und Imaginationsmuster längst verschoben hat. Immer deutlicher versucht das Gros der betriebswirtschaftlichen Akteure sowie ihrer Berater und Meinungsführer seit den frühen 90er Jahren die Gestalt des formal-juristischen Mantels als Unternehmen zu einem eigenen »Loyalitätsmantel« und zu einem nicht mehr in nationale Zusammenhänge eingebetteten Weltbezug mit selbständiger Symbolik und »Kultur« (oder gar »Philosophie«) auszubauen.

Schon Anfang der 90er Jahre hieß es beispielsweise nicht mehr »Made in Germany«, sondern »Made by Mercedes«; und in diesem Sinne haben sich seither das von Naomi Klein kulturkritisch thematisierte »Markenbewusstsein« und die »Markenkultur« nicht nur als Konsumfetischismus der kapitalistisch domestizierten Massen, sondern in Gestalt einer sorgfältig gepflegten »Unternehmenskultur« auch als Standpunkt und Selbstgefühl des Managements sprunghaft weiter entwickelt. Was Naomi Klein dabei im Sinne einer verkürzten Kritik an der mangelnden Gebrauchswertorientierung der dennoch von ihr blind vorausgesetzten Warenproduktion zu interpretieren sucht, stellt sich real nicht nur als innere Zersetzung des warenproduzierenden Systems überhaupt dar, sondern auch als Zersetzung seiner äußeren Organisationsform.

Die Deutsche Bank-AG verlegte zum Ärger der deutschen Bundesbank ihre Investmentabteilung von Frankfurt nach London; Mercedes-Benz gab seine Bilanz nicht mehr in Stuttgart, sondern in New York bekannt; und der Vorstand der Siemens-AG tagte schon mal demonstrativ in Singapur. »Wir sind gezwungen, unsere betriebswirtschaftlichen Probleme zu Lasten der Volkswirtschaft zu lösen«, gab bereits Anfang der 90er Jahre der damalige BMW-Chef Eberhard von Kuenheim zu (Handelsblatt, 29.12.1995). Und Sony-Präsident Nobuyuki Idei erklärte damals unumwunden:

»Wir sind keine japanische Firma. Wir sind ein globales Unternehmen, das seinen Sitz nur aus historischen Gründen in Japan hat. Nur 30 Prozent unserer Umsätze kommen aus Japan« (Der Spiegel 5/1997).

Ebenso deutlich wurde bei einem Interview schon einige Jahre früher der Manager Jürgen Dormann, frischgebackener Vorstandschef des damals offiziell noch als »deutsch« firmierenden Industriekonzerns Hoechst:

»Wir müssen uns die Dimensionen klarmachen. Was ist denn Hoechst? Hoechst ist ein Weltkonzern mit einem Umsatz von voraussichtlich fünfzig Milliarden Mark in diesem Jahr. Die deutsche Hoechst AG selbst hat davon einen Anteil von vierzehn, fünfzehn Milliarden. Unser größter Einzelmarkt ist nicht Deutschland, sondern sind die Vereinigten Staaten ... Was ist denn deutsch an Hoechst? Unser kuwaitischer Aktionär hat mehr Anteile als alle deutschen Aktionäre zusammen. Unsere Forschungskompetenz ist international. Dies ist ein eingespielter, funktionierender Weltkonzern. Was nicht funktioniert, ist die deutsche AG. Geld verdienen wir in Deutschland sowieso nicht ... Wir haben zwar einen gesellschaftlichen Auftrag, weil wir hier unsere Wurzeln haben und weil wir uns – auch – als deutsche Staatsbürger sehen. Aber wir haben den Patriotismus ein bisschen übertrieben« (Die Zeit 30/1994).

Im Prinzip war das Kapital immer schon ein »vaterlandsloser Geselle«, da sich die Logik der Geldverwertung an sich weder räumlich noch politisch oder kulturell binden lässt. Aber diese Logik konnte trotzdem mit dem nationalökonomischen Funktionsraum zu einem Loyalitätsmuster verschmelzen, in dem der Staat als zusammenfassender strategischer Akteur neben die betriebswirtschaftlichen strategischen Akteure trat und beide Ebenen zumindest koexistieren, in bestimmter Hinsicht aber auch weitgehend zusammenfallen konnten. Dies galt sowohl für die politisch-juristische und administrative Regulation im Binnenraum der Nationalökonomie als auch für die inter-nationale Konkurrenz auf dem Weltmarkt, die in Gestalt der national-imperialen Zusammenstöße und des Kampfes um territoriale Einflusszonen ebenfalls eine politische Zusammenfassung durch den Staat erfuhr.

Hatte sich diese Konstellation des globalen Kapitalismus schon in den Nachkriegsjahrzehnten unter dem Dach der Pax Americana langsam aufgelöst, so verschwindet sie nun im Strukturbruch von dritter industrieller Revolution und transnationaler Diversifizierung der Betriebswirtschaft samt dem dazugehörigen Loyalitätsmuster gänzlich. Der neuen Qualität des transnationalen Kapitals entspricht auch eine neue Qualität im Denken und Handeln der betriebswirtschaftlichen strategischen Akteure.

Nun kann man natürlich fragen, was eigentlich schlecht daran sein soll. Schließlich ist eine »nationale Identität« so ziemlich das Gegenteil eines emanzipatorischen Standpunkts; ganz abgesehen davon, dass es sich bei der Entwicklung des Kapitals um einen blinden, objektivierten Prozess handelt, der sich sowieso nicht zurückdrehen lässt. Auch die Gesellschaftskritik kann immer nur über den einmal hergestellten gesellschaftlichen Zustand hinausgehen, niemals aber hinter ihn zurückfallen, wenn sie nicht illusorisch reaktionär werden und damit aufhören will, Kritik zu sein. So richtig es ist, dieses Argument gegen jede Art von rechts- oder linksnationalistischer Nostalgie geltend zu machen, wie sie keineswegs zufällig seit den 80er Jahren als dumpfe ideologische Reaktion auf die Globalisierung grassiert, so wenig darf dabei vergessen werden, dass wir es eben nicht mit einem bloßen Strukturwandel des Kapitalismus in eine womöglich friedlich-prosperierende Weltgesellschaft jenseits der bornierten Nationalitäten zu tun haben, sondern vielmehr mit der globalen Vernichtungskonkurrenz einer sich unaufhaltsam voranfressenden Weltkrise.

Standen unter den Bedingungen der nationalökonomischen Kohärenz die nationale (staatliche) und die betriebswirtschaftliche bzw. auf Unternehmen bezogene Loyalität und Identität in einer Beziehung der Koexistenz im Sinne wechselseitiger Bedingtheit, so fallen sie nun auseinander, ohne dass jedoch die zu Grunde liegende gesellschaftliche Logik oder das Bezugssystem der »Verwertung des Werts« überwunden wird. Die nationale Bornierung geht also nicht in eine planetarische Gemeinsamkeit der Menschen über, sondern sie zerfällt in die gänzlich entgesellschaftete Bornierung des betriebs- bzw. unternehmensbezogenen Partikularismus. Und selbst diese reduzierte Loyalität/Identität kann sich nur für bestimmte Ebenen des Managements und vielleicht noch gewisse (abschmelzende) »Kernbelegschaften« darstellen; für die große Masse der qua Outsourcing, Flexibilisierung, Gelegenheitsjobs, Prekarisierung und schlichtem »Überflüssigwerden« bloß noch in äußerlicher und oberflächlicher Berührung zu Staaten wie zu Unternehmen stehenden Menschen schrumpft der Identitätsund Loyalitätsbezug noch weiter auf die Familie bzw. Restfamilie, schließlich auf das abstrakte »Ich« der postmodernen Individualisierung. Da derartige Existenzen nicht lebbar sind, schon gar nicht im Dschungel der »zweiten Natur« einer verwildernden Fetischgesellschaft, entstehen unter dem Druck der Krise neue synthetische Loyalitäten/Identitäten (Clans, Milizen/Warlords, Banden, religiöse Sekten, Terrornetzwerke usw.), die den stummen Zwang der totalen Konkurrenz mit anderen Mitteln fortsetzen und dem Abgleiten des modernen warenproduzierenden Systems in die offene Barbarei Ausdruck verleihen (die kapitalistische Krisenverwaltung einschließlich der sicherheitsimperialistischen Weltordnungskriege stellt nur die Kehrseite derselben Medaille dar).

Mit anderen Worten: Der Kapitalismus führt zwar an die eine universelle Weltgesellschaft heran, aber diese ist nicht positiv in seinen gesellschaftlichen Formen darstellbar und nicht unter dem Zwang seiner Kriterien zu reproduzieren. Mit ihrer Universalisierung zum unmittelbaren Weltsystem widerspricht sich die kapitalistische Produktionsweise selbst, weil sie nicht anders als im polaren Verhältnis von Partikularität und (abstrakter) Universalität, von Weltmarkt und Nationalökonomie, von Betriebswirtschaft und Nationalstaat existieren kann. Da es sich bei der Globalisierung nur um die Erscheinungsform und Zuspitzung ihres Selbstwiderspruchs handelt, ist es die Produktions- und Lebensweise selbst, die sich auf dem erreichten weltgesellschaftlichen Entwicklungsstand empirisch zersetzt – was logisch bereits im Marxschen kritischen Begriff des Kapitals vorweggenommen wurde.

 

Die kapitalistische Universalisierung stellt sich rein negativ als universeller Zerstörungsprozess dar; sie kann nicht positive, sondern nur negative Weltbürger hervorbringen. Nicht als Vereinigung der Menschheit tritt sie ans Licht, sondern als globale Apartheid und globale Barbarei. Deshalb ist die falsche Alternative von kapitalistischer Globalisierung und reaktionärem Neo-Nationalismus ausweglos. Eine emanzipatorische Perspektive kann nur darin bestehen, an die Stelle des abstrakten, destruktiven Universalismus des Kapitals eine direkte, bedürfnisbezogene, die unterschiedlichen Eigenlogiken von Lebensbereichen berücksichtigende Weltgesellschaft zu setzen; also jenseits der kapitalistischen Form- und Substanzkategorien, jenseits von Markt und Staat, jenseits von Betriebswirtschaft und Nationalökonomie, jenseits von »abstrakter Arbeit« und geschlechtlichem Abspaltungsverhältnis. Dies wäre eine qualitativ andere Weltgesellschaft ohne abstrakten Universalismus, in deren Zusammenhang die vereinigte Menschheit nach Bedürfniskriterien bewusst über den Einsatz ihrer Ressourcen entscheidet, statt sich von der »unsichtbaren Hand« anonymer Marktgesetze durchprügeln zu lassen und in einer universellen Vernichtungs- und Verzweiflungskonkurrenz übereinander herzufallen.

Es geht allerdings nicht allein um eine kritische Bewertung der Globalisierung und ihrer sozialen, ökologischen oder politischen Folgen in der kapitalistischen Form, als könne der Kapitalismus womöglich in dieser negativen, zerstörerischen Weltgesellschaft munter weiter existieren, wenn auch unter verschärften Bedingungen. Da es sich um seinen reif und überreif gewordenen prozessierenden Selbstwiderspruch handelt und der Weltkrise die objektive »Entsubstantialisierung« des Kapitals durch die dritte industrielle Revolution zugrunde liegt, handelt es sich auch um die ureigene Krise des Kapitalismus selbst, um seine Selbstzerstörung, die in Barbarei und Weltzerstörung statt Emanzipation umzuschlagen droht.

Wenn der »global player« Jürgen Dormann ganz naiv von einem »Einzelmarkt Deutschland« und einem »Einzelmarkt Vereinigte Staaten« spricht, dann merkt er nicht einmal, dass er hier genau jenen nationalökonomischen Zusammenhang voraussetzt, den er durch seine eigene Strategie und sein eigenes Handeln zwangsläufig untergraben muss. Das Management denkt in dieser Beziehung offenbar genauso in unvermittelten Widersprüchen wie die Ideologen und akademischen Theoretiker der Globalisierung. Tatsächlich sind die »Märkte« (als Absatzmärkte) insofern weiterhin national bestimmt, als sie im Unterschied zur betriebswirtschaftlichen Produktion und deren Kostenkalkül niemals unmittelbar global sein können, sondern sich stets in irgendeinem Vermittlungszusammenhang mit der nationalstaatlichen Regulation, mit einem bestimmten juristischen Kodex, mit spezifischen Verteilungsmechanismen usw. und nicht zuletzt mit dem geschlechtlichen Abspaltungsverhältnis und dessen reproduktiven Funktionen befinden.

Die molekular zerstreute transnationale Betriebswirtschaft tritt also in Gegensatz nicht nur zum Staat, sondern auch zu ihren eigenen Märkten, die nun genau wie Betriebswirtschaft und Staat ihrer nationalökonomischen Kohärenz verlustig gegangen sind, ohne jedoch ihren nationalen Regulationsbezug gänzlich abstreifen zu können. Der Weltmarkt ist einerseits unmittelbarer, nicht mehr national gefilterter Funktionsraum der transnationalisierten Betriebswirtschaft auf der Ebene der Produktion von Waren und der Zirkulation von Produktionsmitteln, der »produktiven Konsumtion« (Marx) der Kapitalien und ihres wechselseitigen Kaufs und Verkaufs; andererseits setzt er sich nach wie vor aus nationalen Märkten zusammen auf der Ebene der Zirkulation von Konsumtionsmitteln, der Massenkonsumtion der Endabnehmer (Private und Staaten), soweit ein solcher Endabnehmermarkt überhaupt nur im Kontext (national)staatlicher Regularien existieren kann.

Wenn der Markt in diesem Sinne nicht ohne nationalstaatlichen Bezug denkbar ist, gilt dies eben auch für den Kapitalismus als Produktionsweise. Der staatliche Pol kann nicht wegfallen ohne Überwindung des Kapitalverhältnisses selbst.

Allerdings ist es möglich, dass sich ohne bewusste emanzipatorische Perspektive eben nur ein Zersetzungsprozess abspielt, in dem an die Stelle der transitorischen Überwindung dieser irrationalen Produktionsweise ein auswegloser und paralytischer Verfall der kapitalistischen Formen tritt.

Der Nationalstaat verschwindet dabei nicht etwa spurlos zugunsten einer sich verselbständigenden kapitalistischen Ökonomie, sondern er zerfällt ebenso wie diese in »Verwilderungsformen« jenseits einer Beschreibbarkeit in theoretischen Begriffen. Das ist nur konsequent insofern, als die theoretische Reflexion dort aufhören muss, wo jede zusammengesetzte, komplex vermittelte und in höheren Formen aggregierte Gesellschaftlichkeit aufhört und jenes »sekundäre Tierreich des Menschen« anfängt, das schon von Anfang an in der Logik und Dynamik der kapitalistischen Moderne angelegt war. Der Zerfallsprozess der Ökonomie ist stets auch ein Zerfallsprozess der Politik; der unlösbare Widerspruch entlädt sich in Haßideologien, religiösem Wahn, Terror, Massakern und ziellosen Bürgerkriegen. Am Ende wird auch der Weltmarkt als solcher von der Walze der sozialökonomischen Zerstörung überrollt. Die Globalisierung erstickt sich selbst.

Fehlen der herrschenden Wissenschaft und ihren Mandarinen schon die Begriffe für die transnationale molekulare Auflösung der Betriebswirtschaft, so erst recht für die Konsequenzen auf der Ebene des Verhältnisses von Ökonomie und Politik, von Markt und Staat. Weder seitens der Volkswirtschaftslehre oder Nationalökonomie, die ja allein schon in ihrem Namen eine Beschränktheit auf das nationale Bezugssystem ausweist, noch seitens der Politikwissenschaft ist bis jetzt eine andere Reaktion auf die Globalisierung als das blanke Unverständnis zu erkennen; mag sich die Begriffslosigkeit auch hinter einem expertokratischen Wortschwall und den üblichen nichtssagenden Beschwörungsformeln (»Risiken und Chancen«, »Selbstheilungskräfte des Marktes« usw.) verbergen.

Der Grund für diese wortreiche Entbegrifflichung und organisierte Hilflosigkeit ist unschwer zu erkennen: Die von der »unsichtbaren Hand« der blinden Systemkräfte entfesselte neue Qualität der Globalisierung geht über den historischen Horizont und damit über das Begriffsvermögen von Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft hinaus. Das Resultat kann nicht mehr wissenschaftlich erfaßt werden, weil der Begriffs-raum der einschlägigen Wissenschaften seit ihrer Begründung Ende des 18. Jahrhunderts an den nationalökonomisch-nationalstaatlichen Funktionsraum gebunden ist. Der Weltmarkt figuriert in diesem Zusammenhang und dem dazugehörigen Verständnis eben nicht als eigenständige substantielle Qualität, der ein eigener begrifflicher Rahmen gegeben werden könnte, sondern nur als Relation zwischen den nationalen Funktionsräumen.

Das ist kein Missverständnis oder das bedingte Verständnis eines nunmehr überwundenen historischen Stadiums kapitalistischer Entwicklung und ihrer vermeintlich »unendlichen Geschichte«, sondern das einzig mögliche »positive« Verständnis des kapitalistischen Funktionszusammenhangs. Es tritt also jene von Marx vorausgesagte historische Situation ein: Der kapitalistische Funktionszusammenhang wird mitten durchgerissen; eine Art objektiv-struktureller Rumpelstilzcheneffekt, der sich im ideologischen und politischen Spagat der Funktionseliten grotesk reproduziert. Da das Kapital auf die funktionelle Polarität von Markt und Staat, von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, von Nationalökonomie und Weltmarkt angewiesen ist, um lebensfähig zu sein, kann es sich nicht in einen unmittelbar globalen, universellen Zusammenhang auflösen und in diesem neuen Aggregatzustand dennoch als Verwertungsprozess weiterlaufen wie eh und je. Was vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt als mögliche und notwendige Waffe der aggressiven Kostensenkung erscheint, kehrt als Bumerang gesamtgesellschaftlicher Kriseninduktion mit paralytischer Wirkung zurück.

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