Mörderisches vom Niederrhein

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Scheich am Teich

Die blonden Haare hatten ihn in die Irre geführt. Blond und blauäugig. Wie passte das zu einer Araberin? Gut, ihr Deutsch war nicht astrein, ihr Gefasel, sie hätte zuletzt in den Niederlanden gelebt – ja, sie war über Rotterdam eingeschleust worden, irgendein Containerschmuggel –, wie sollte er ihr Glauben schenken? Ihr Mann hätte sie geschlagen, vergewaltigt, eingesperrt. Schluchz. Er hatte sich sehr beherrschen müssen, um es diesem Beduinen nicht gleichzutun. So weit würde er es nicht kommen lassen. Erst recht keine halben Sachen machen.

Er traktierte den Boxsack. Mich – mit – die – ser – Schlam – pe – ein – zu – las – sen! Mich – mit – die – ser – Schlam – pe – ein – zu – las – sen!

Ein hohes Tier. Klar. Bildung und Geld schienen bei ihr keine Rolex zu spielen. Britischer Butler und deutsche Nanny. Sie war keine von denen gewesen, die mit Rettungswesten in Gummibooten an griechischen Küsten strandeten. Zumindest, wenn sie nicht schon auf der Strecke geblieben waren. Schwimmen konnte sie einwandfrei, wie sie am Kaarster See am Wochenende gezeigt hatte. Wo sie herkam, hatte sie einen Pool gehabt. Und Personal. Klar lag man da nicht im Bikini an öffentlichen Stränden rum. Da wurde höchstens im Burkini geplanscht. Andererseits: Wie man mit den Hüften wackelte, lernten die Mädels da gleich nach dem aufrechten Gang. Wie man Kerle in den Wahnsinn trieb. Genau damit hatte sie ihn geködert. Im Eleni’s in der Remigiusstraße. Zum Rock in den Mai. Bombenfigur, blonde Mähne und einen Blick drauf – so zwischen »Nimm mich!« und »Was willst du denn?«, immer wenn ihrer und seiner sich kreuzten. Er hatte sie vorher nie im Eleni’s gesehen. Okay, es gab Tage, an denen er zu Hause ein gepflegtes Bierchen zischte oder mit Kumpels unterwegs war. Tanzen war sowieso nicht sein Ding. Eher rhythmisches Schwanken. Schließlich durfte das Alt nicht überschwappen. Als sie eine Pause machte und sich – wer glaubte an Zufälle? – neben ihn an die Theke stellte, um ein Bier zu bestellen, reichte er den passenden Schein über die Theke und stieß mit ihr an. »Prost.« Sie hatten sich dabei in die Augen gesehen. Ein Versprechen, was sonst?

Ihr Akzent klang irgendwie süß, aber vor allem war er ihm eigentlich scheißegal gewesen. Zu viel Bier und Hüftschwung, die blauen Augen mit einem feinen schwarzen Strich ummalt – und ein Parfüm, das man erst wahrnahm, wenn man dicht neben ihr stand. Na, und im Bett hatte sie auch einiges draufgehabt. In ihrer Wohnung wohlgemerkt. Gleich am selben Abend. Er hatte sie nach Hause gebracht und gar nicht zu fragen brauchen. Den Feiertag verbrachten sie am Breyeller See, dann nahm er sie mit zu sich. Er war zweimal hintereinander gekommen und völlig ausgepowert eingeschlafen, hatte nicht mitgekriegt, wann sie sich aus seinem Arm gewunden hatte und aufgestanden war. Als er die Augen aufschlug, stand sie mit dem Rücken zu ihm vor den Bildern an der Wand. Nackt, das Badetuch um den Leib gewickelt. Er musste geschnarcht haben, denn sie drehte sich um. Fragte: »Deine Familie?«

»Ja«, sagte er.

Und als sie auf einen nach dem anderen mit dem Finger wies und fragte: »Du? – »Dein Vater?« – »Deine Mutter?« – »Wer ist das?«, stand er auf, stellte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schultern, vergewisserte sich, dass die Brüste noch waren, wo sie hingehörten, und genau in seine Hand passten, küsste sie in den Nacken und beantwortete mit halb geschlossenen Augen ihre Fragen. Die sie, wie ihm beim anschließenden Kaffee klar wurde, gestellt hatte, weil Familie, wo sie herkam, alles war. Weil sie davon ausging, dass es für ihn genauso sein musste. Weil sie sich einschleimen wollte. Er war Mittel zum Zweck gewesen. Sie brauchte den Schein. Scheinehe als Aufenthaltsgarantie. Bereinigte Papiere. Dachte, sie könnte ihn einspannen. Hatte keine Ahnung, dass »Familie« ein anderes Wort für »Albtraum« sein konnte. Bilder, die er nach dem Tod der Eltern hängen gelassen hatte. Weil es wichtig war, die Wut wachzuhalten. Vergeben war was für Weicheier.

»Dein Opa? Vater von deinem Papa?« Sie tippte zwischen Vater, Großvater und ihm hin und her. Die frappierende Ähnlichkeit. »Erzähl von deiner Familie.«

Was man so erzählte. Der Opa: Arzt in der Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Waldniel. Der Vater: Hilfsarbeiter und Gabelstaplerfahrer bei Güsken, Eisengießerei. Er: Technischer Zeichner. Zurzeit arbeitslos.

Was man nicht erzählte: Fast 20 Jahre war der Opa inhaftiert gewesen. Weil er seinen Job gemacht hatte: diagnostizierte, wie geboten. »Geistig krank.« »Idiotie.« »Nicht bildungsfähig.« »Nicht abrichtfähig.« Therapierte, wie vorgeschrieben. Mit Luminal. Bescheinigte, wie gewünscht. Herzschwäche. Lungenentzündung. Handelte pflichtgemäß. Gehorchte. Befolgte Vorschriften. Im Rahmen des Möglichen: 30 Schwestern für bis zu tausend Patienten. Bei einem Tagessatz niedriger als in einem KZ. Vorgaben, Regeln, Befehle von oben.

Laut dem Staatsanwalt lauter »Entschuldungserzählungen«. So stand es zumindest im Gerichtsprotokoll. Das Urteil sprach von »Beihilfe zum sowie hundertfach vollzogenen Mord«. Der Opa als leitender Mediziner hätte den Befehl verweigern, Widerstand leisten müssen.

So konnte nur reden, wer nicht dabei gewesen war, hatte die Uroma geschnaubt, das einzige Mal, dass sie sich dazu geäußert hatte. Die da oben hatten sich einen schlanken Fuß gemacht. Wer musste letzten Endes alles zwei Jahrzehnte lang aussitzen? – Holgers Vater. In Sippenhaft mit seiner Großmutter, nachdem deren Sohn weggesperrt worden und dessen Frau, Holgers Oma, in den Nachkriegswirren die Biege gemacht, ihr Kind der Schwiegermutter überlassen hatte. Immerhin war das Fachwerkhäuschen am Hostert im Familienbesitz geblieben, das Einzige, was der Vater Holger hinterließ, als er sich aufhängte. Eine Bruchbude. Heruntergekommen wie das ehemalige Franziskanerkloster direkt gegenüber, das im Dritten Reich als Psychiatrie-Kinderfachanstalt genutzt, von den Briten zur Elite-Schule umgewidmet worden war und mittlerweile restverwertet wurde als gruselige Lost-Place-Fotokulisse mit Hogwarts-Charme. Als er, Holger, mit dem Zeugnis der mittleren Reife in der Tasche nach Hause kam, fand er einen Brief des Vaters auf dem Küchentisch. Auf dem Dachboden einen feuchten Fleck. Erst als er nach oben schaute, den pendelnden Körper mit der heraushängenden Zunge.

*

Hussein richtete den Blick in den Nachthimmel. Hoffnung, dachte er. Eine Sonde namens Hoffnung. Immerhin geht es um den Mars. Der der Kriegerische genannt wird. Was für ein Irrtum! Wenn ein Leben auf einem anderen Planeten denkbar ist, dann dort! Wie viel unwirtlicher ist dagegen die Venus, die die Schöne heißt? Das weibliche Prinzip bleibt eine Herausforderung, aber auch eine Gefahr. Wer ihm zu viel Aufmerksamkeit schenkt, verliert den Weg aus dem Auge. Den zum Kern allen Daseins. Das nächtliche Firmament zeigt es so klar: Das Weltall ist groß, und wir sind nichts. Was maßen wir uns angesichts der Größe Allahs, des Allumfassenden, an? Wir dürfen nie aufhören, ihn zu ehren. Was in meiner Macht steht, will ich verwirklichen, um ihn zu preisen! Warum nicht auf einem anderen Planeten? Die Menschheit könnte die neue Chance nutzen – mit dem Wissen und den Möglichkeiten von heute. Keine mühsamen Irrwege, bei denen der Großteil auf der Strecke bleibt!

Das Burj Al Dubai tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Luxuriösestes Hotel der Welt mit einer atemberaubenden Architektur: wie eine Mondsichel gestaltet, die Präsidentensuiten auf der Spitze sternförmig angelegt – steinerne Manifestation der Verneigung vor der Schöpfung weit über das Irdische hinaus. Die Palm Continents – ehrgeizigstes unter seinen Projekten, zugleich wegweisendstes, stockte derzeit. Finanzkrise, Arbeitsflucht – die Menschen stiegen lieber in seeuntaugliche Gummiboote, um auf dem Weg nach Europa jämmerlich zu ersaufen, statt zum Wiederaufbau der arabischen Hochkultur beizutragen. Wer groß sein wollte, musste Großes leisten. Die Idee: auf Aufschüttungen, gigantischen künstlichen Inseln im Meer, die in ihrer Form die Erdteile abbildeten, architektonische Juwelen zu erschaffen, die die jeweiligen kontinentalen Kulturen in ihrer höchsten Blüte zeigten.

Nein, man konnte Hussein keinen Ethnozentrismus wie den westlichen Staaten vorwerfen. Während die Amerikaner mit dem Victory-Zeichen viel Unheil über die Welt gebracht hatten, ging es ihm nicht darum, andere zu unterwerfen. Er hatte das westliche V-Symbol um einen Finger erweitert: Sieg, Triumph und Liebe. Ohne das Letztere ging es nicht. Auch wenn es bisweilen die härteste Prüfung war. Die Vorreiterrolle der arabischen Kultur wurzelte in der Geschichte. Aber was nützte es, sich in konkurrierende Weltbilder zu verbeißen? Seine Utopie war größer. Eine menschheitsumspannende ozeanische Vision. Warum nicht nach den Sternen greifen? Der Mars war ein Anfang. Die Sonde. Eine Hoffnung.

*

Nachdem Holger Amira erzählt hatte, was man so erzählt, und sie ihm, was sie besser nicht erzählt hätte, und damit seine kaum aufgekeimte Hoffnung zunichtegemacht hatte, verabredeten sie eine Fahrradtour. Ausflüge ins Grüne zogen immer bei ihr. In ihrer Heimat ging in der Natur ja nichts ohne Sprinkleranlage. In den letzten Wochen war sie mit ihm am Salbrucher Baggerloch gewandert, hatte im Wildpark auf den Süchtelner Höhen Damwild und Kamerunschafe bewundert, die Stammenmühle, den Galgenberg und den Aussichtsturm auf dem Taubenberg bestiegen und die Mammutbäume im Kaldenkirchener Grenzwald bestaunt. Tja, Naturschutzgebiete mit »Betreten verboten«-Schildern gab es reichlich in der Region. Ideale Voraussetzung für sein Vorhaben. Kaum dass sie weg war, traktierte er den Boxsack auf dem Dachboden. Es war ihm ein Bedürfnis gewesen, ihn an genau den Balken zu hängen, um es heimzuzahlen. Nicht nur dem Vater. Allen, die ihn im Stich gelassen hatten. Seiner Mutter, die ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes einen anderen gefunden und mit dem Tag seiner Volljährigkeit zu dem Motherfucker gezogen war. Mitschülern für ihr zehnjähriges Mobbing. Drangsalierenden Lehrern. Dem Lehrherrn für drei Jahre Piesacken. Er hatte mehr Zeit damit verbracht, den Garten des Ausbilders zu pflegen und dessen Auto auf Hochglanz zu polieren, als im Büro.

 

Prügel, das hatte ihm der Vater immerhin mitgegeben, waren ein probates Mittel, Frust abzubauen. Eine Zeitlang hatte er die Nordkurve des Stadions im Borussia-Park in Mönchengladbach frequentiert. Da brauchte er keinen Boxsack. Insbesondere wenn es gegen die Effzeh-Fans oder Vizekusen ging. Über die Kumpels lernte er Leute kennen, mit denen er den Gegner aufmischte, später Flüchtlingsheime.

Frauen? Nebenbaustellen und Kollateralschäden zugleich. Celine eine Bitch, Nadine frigide, Beckie nahm ihn aus wie einen Weihnachtsganter. Jede dieser Episoden arbeitete er in den Boxsack ein. Amira war eine total neue Erfahrung gewesen – so anschmiegsam, so geil – und dann doppelt hinterfotzig. Eine Betrügerin. Snobby Bitch. Die sich ihm an den Hals geschmissen hatte, damit er sie heiratete. Wegen der Papiere. Weiter wollte sie nichts von ihm. Schon gar kein Geld, beteuerte sie, als sie sah, dass ihm die Spucke wegblieb.

Er zog den Arm weg, der eben noch um ihre Schultern gelegen hatte, und rückte ab.

Sie legte nach: auch keinen Sex, keine Sorge, er brauchte sich gar nicht um sie kümmern. Ihr Mann hätte auch andere gehabt. Nur verprügeln ließe sie sich nicht.

Was dieser Muselmane verschmäht hatte, damit brauchte er sich also nicht erst die Finger schmutzig machen? Zu spät, Misses. Er hatte sich schon befleckt. Nein. Sie ihn. Er hatte viel zu viel preisgegeben. Wenn auch nichts, was man nicht erzählte. Was ihm am Morgen danach zum ersten Mal in der Kehle gebrannt hatte. Wie Halbverdautes, das danach drängte, ausgekotzt zu werden.

Mich – mit – die – ser – Schlam – pe – ein – zu – lassen! Er wünschte, er hätte sie aufgehängt. Aber der Dachboden bot noch bessere Möglichkeiten. Die Fahrradtour zu den Krickenbecker Seen war eine ideale Variante. Weit weg. Wo sie ungestört waren. Als sie die Dragees aus dem Süßstoffspender in der Kaffeetasse versenkte, war die Idee geboren.

*

Schritte. Sein Erstgeborener stand in der Tür. Ja, auch seine Kinder waren Teil des Universums und verlangten Zuneigung. Tag und Nacht. Gaben sie aber ebenso. In dem Punkt ähnelte Hamid seinem Vater: Beide arbeiteten Tag und Nacht an der großen Sache. Seiner Idee. Er, der Scheich, der Herrscher seines Landes, Hamid, der Kronprinz, zukünftige Hoffnung des Morgenlands.

»Hamid, mein Augenstern, was gibt es?«

Sie umarmten sich.

»Der Botschafter schickt Auszüge aus der deutschen Presse. Vielleicht mag es dir ein wenig Zerstreuung bieten. Es hat dort viel Aufregung gegeben. Wegen des Picknicks.«

*

Sie hatten die Fahrräder am Parkplatz gelassen und waren zu Fuß zwischen Glabbacher und Hinsbecker Bruch entlanggelaufen. Holger trug den Picknickkorb. Die Decke hatte er Amira überlassen. Für ein Picknick war es genau das richtige Wetter. Für einen Wochentag leer genug. Nur einige Kinderwagenmuttis unterwegs, mit ihren Kleinen beschäftigt. Auf den Bänken vereinzelte Rentner, die aufs Wasser stierten. An dem Gatter, hinter dem das Naturschutzgebiet lag, vergewisserte Holger sich, dass die Luft rein war, er half Amira mit einer Räuberleiter auf die andere Seite und kletterte hinterher. Ein Steg führte durchs Gebüsch und auf eine Wiese, die von dichtem Grün umgeben zum Wasser hin hinter hohem Schilf verdeckt lag. Idylle pur. Er war sich nicht sicher, ob das Zeug es noch tat. Sie war eine Erwachsene und keineswegs mangelernährt. Umso höher hatte er es dosiert. Zehn Tabletten in einer süßen Quarkspeise verarbeitet. Zwei Schraubgläser vorbereitet.

Sie breitete die Decke aus. Setzte sich. Er kniete neben dem Korb, schenkte Limo aus, sie prosteten sich zu, sahen einander in die Augen, tranken.

»Wie schön es hier ist«, sagte sie. »So viel Grün.«

Er reichte ihr ihre Portion Quark und ein Löffelchen.

»Lass es dir schmecken.« Schraubte das eigene Glas auf. Kostete. »Wieso eigentlich gefälschte Papiere? Wenn dein Mann eh schon andere Frauen hat …«

»Er wird mich nie freigeben. Sonst ist seine Ehre – wie sagt man? – schmutzig. In meiner Community bin ich sein Eigentum.« Sie aß, sagte: »Lecker«, auch wenn der Gesichtsausdruck nicht ganz danach aussah. »Eine verheiratete Frau kann nicht heiraten. Ohne Heirat keine Duldung.«

»Und wenn ich nicht will?«

Sie zuckte die Achseln. »Dann finde ich einen anderen.«

Wieder hätte er sie würgen können. Stattdessen würgte er den Quark in sich rein. Was sie veranlasste, brav weiterzulöffeln.

»Aber wie sollte dein Mann dich finden?«

»Abdul ist ein hoher Beamter. Sie spionieren alles aus. Wenn er meine Route kennt, weiß er, wo er mich suchen muss. Dass ich in Deutschland bin, ist ihm sowieso klar. Ich spreche die Sprache. Er wird den Scheich hierherlocken. Und ihn begleiten. Der Scheich hat viel Macht.«

Oho. Ihr Mann kannte den Scheich persönlich, hatte Einfluss. Er, Holger, der arbeitslose kleine Technische Zeichner, hatte die Gattin eines hohen Tiers aus den Vereinigten Arabischen Emiraten gevögelt. Der Gedanke gab ihm Auftrieb.

Amira gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Entschuldige. Ich bin so müde.«

»Leg dich hin. Wir haben Zeit.« Holger blieb sitzen, die Arme um die Beine geschlungen, träumte in die Ferne, das Zwitschern der Vögel, das Schnattern der Enten im Ohr …

Waren das Frösche?

Das Gurgeln kam von Amira. Nur ein Schnarchen? Ein Schleimfaden rann aus ihrem Mundwinkel. Unter der Nase glänzte es feucht.

Wenn er sie jetzt weckte und ihr den Finger in den Hals steckte, damit sie erbrach?

Sie war so schön. Das ebenmäßige Gesicht. Das blonde Haar ausgefächert wie ein Kranz um den Kopf …

Gefärbt, klar. Fast wäre er darauf reingefallen. Er ertrug es nicht. Stand auf, ging durch das raschelnde Gras zu einer Weide. Setzte sich, an den Stamm gelehnt, schloss die Augen. Spürte eine Träne unterm Lid hervorquellen, ließ sie laufen. Moment der Schwäche. Er würde noch viel Kraft brauchen.

Da er das Smartphone zu Hause gelassen hatte, wusste er nicht, wie viel Zeit verstrichen war, als er nach ihr sah. Sie lag auf der Seite, verzerrte Züge, vollkommen verschleimt, zuckte und röchelte. Schien aber nicht bei Bewusstsein. Das Luminal war tatsächlich noch wirksam. Er hatte es im Arztkoffer des Großvaters gefunden. Auf dem Dachboden.

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, als er sicher war, dass sie nicht mehr atmete. Er zog sie aus, schleifte sie zum Steg, ließ sie ins Wasser sinken und band sie an den Pfosten fest. Ihr Körper war jetzt am Grund fixiert, nicht tief, aber tief genug, dass er unter dem Holz und zwischen den grünen Algen auch von der Seite nicht sichtbar war. Keine Geruchsentwicklung. Hier kam eh niemand her. Das Wasser und die Tiere des Sees würden den Zersetzungsprozess beschleunigen.

Noch in derselben Nacht verbrannte er ihre Klamotten, pulverisierte das Smartphone, spülte, wusch, putzte, beseitigte sämtliche Spuren. Er hatte Hausarbeiten immer gehasst. Aber es fühlte sich gut an, als im Morgengrauen alles geschafft war.

Nie war ihm seine Umgebung so hell und sauber vorgekommen.

*

Allahs Universum war nicht nur riesengroß, sondern en détail sehr profan! Hussein machte eine Handbewegung. »Yalla.«

Hamid kicherte. »Deutsche Ordnungsfanatiker.«

Sein Vater runzelte die Stirn. »Um den anderen zu verstehen, musst du ihn lieben. Erst wenn du ihn verstehst, kannst du ihn beurteilen. Wer lacht, weil er nichts versteht, offenbart die eigenen Grenzen.«

»Wenn die rechte Hand nicht versteht, was die linke tut?«, gab Hamid zurück.

»Die Zunge ist die Übersetzerin des Herzens. Also lies.«

»Vorab: Du erinnerst dich? Wir hatten über den Caterer einen ungestörten Ort zum Grillen erbeten. Die Wiese am Teich, die er uns anbot, lag in einem Gebiet, das normalerweise niemand betreten darf. Aus Naturschutzgründen.«

Hussein nickte. »Ich hatte um einen geschützten Raum gebeten. Sind wir Menschen nicht auch Teil der Natur? Es lag im Interesse Deutschlands, für unsere Sicherheit zu sorgen.«

»Wer ist Deutschland?« Hamid holte tief Luft. »Die Kanzlerin? Der Botschafter zitiert Stellungnahmen, von denen einem vollkommen wirr im Kopf werden kann. Hör zu, hier steht: Das Bundeskanzleramt habe das Gespräch mit der Botschaft bestätigt, aber jede Einflussnahme bestritten, was den gewählten Ort anging. Sie haben die Frage einfach in die Verantwortung der untergeordneten Behörden gegeben! Die Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen sprach von einem ›Privatbesuch‹, der nicht in ihre Zuständigkeit gefallen sei. Der Kreis Viersen – was auch immer das ist – bestritt, um eine Genehmigung ersucht worden zu sein, beklagte nichtsdestotrotz die entgangene Verwaltungsgebühr. Der Kreissprecher habe die Entscheidung der Stadt Nettetal hingenommen, in deren Nähe wir uns offensichtlich aufgehalten haben. Der Bürgermeister – Chef der Nettetaler Administration – war im Urlaub und konnte dich daher nicht mit einem Goldenen Buch belästigen. Aber es geht weiter: Der Rat der Stadt fühlte sich unzureichend unterrichtet. Ebenso der Ältestenrat, die Parteien und Wählergemeinschaften. Und jetzt kommt es: Niemals hätte man dir ein solches Privileg zugestehen dürfen. Ein Picknick auf einer Wiese! Die Verwaltung sprach daraufhin von einer ›Notlage‹ aufgrund der Kürze der Zeit.« Er blickte von den Papieren auf, von denen er ablas, fragte: »Leben wir im Krieg mit diesem Kaff? Wie kann eine friedliche Zusammenkunft derart missdeutet werden? Dein Besuch anders als ein Zeichen höchster Ehre aufgefasst werden?«

Wieder hielt Hamid inne. Sein Vater hatte den Blick in den Abendhimmel gerichtet. Hamid räusperte sich und fuhr fort: »Die beauftragte Eventagentur sprach von einem angemessenen Zeitraum. Offensichtlich gab es aber weitere Zuständige, die meinten, man hätte sie fragen müssen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz zum Beispiel. Die Biologische Station vor Ort erklärte, die Gänsebrutzeit sei zwar vorbei gewesen, dennoch habe für die Wasservögel eine Stresssituation vorgelegen.« Er kicherte. »Gestresste Gänse!«

»Schöne Tiere«, warf Hussein ein. »Nur ein wenig zäh.«

»Stressbedingt vermutlich. Nächstes Problem: Grillen. Die Freiwillige Feuerwehr hat sich beschwert. Bei einem offenen Feuer, Trockenheit und Temperaturen über 30 Grad hätte ein Löschzug bereitstehen müssen. – 30 Grad!«

»Ich beginne zu verstehen, weshalb Abdul meinte, er müsse mitkommen, um sich um alles zu kümmern.« Hussein lächelte.

»Dafür hat dein Sohn dich ja nun begleitet und das alles auf sich genommen.« Hamid blätterte weiter. »Die Kosten für das Mähen und Aufstellen der Pavillons – Peanuts. Die Rechnung ist längst beglichen. Aber die Männer, die der Caterer für den Transport von Geräten, Geschirr, Speisen und Getränken benötigte – was für ein Geschrei darum! Warum, um Allahs willen, haben sie darauf bestanden, dass nicht mit dem Auto angeliefert wurde? Der Steg hätte Schaden genommen, die Pfosten wären eingesunken. – Natürlich habe ich die Übernahme sämtlicher Kosten zugesagt! Sollen sie nur ja jeden einzelnen Pfosten gründlich gesund sanieren!«

Hussein blickte ihn freundlich an. »Wer dem Gerede der anderen nachgeht, wird müde.«

»Verzeih, Baba, lieber Vater, dass ich dich mit diesen Ausführungen ermüde«, sagte Hamid. »Die Absicht war, dich zu amüsieren. Aber es fällt mir schwer, gelassen zu bleiben.«

Hussein musterte seinen Ältesten mit Nachsicht. »Ja«, sagte er. »Verstehen, ohne sich angegriffen zu fühlen, ist eine Kunst, in der du dich stetig üben musst, um über dich selbst hinauszuwachsen. Was du hörst, sagt etwas über den anderen. Wie das Kleid, so die Gastfreundschaft. Lies nur weiter!«

»Die Agentur für Arbeit«, fuhr Hamid fort, »kritisierte, dass keine Arbeitslosen eingesetzt worden seien, um das Equipment anzuliefern.«

*

Die Agentur für Arbeit bestellte ihn ein. Gute Nachrichten. Ein neues Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. Deutsche Ingenieure würden gebraucht. Zeitarbeitsfirmen hätten unter anderem Technische Zeichner angefragt. Man habe in Dubai Aufschüttungen im Meer vorgenommen, ein riesiges urbanes Projekt an der Küste. »Sie könnten da mehrere Jahre unterkommen. Wär das nichts für Sie? Als Single ohne familiäre Bindungen.«

 

»In Dubai?«

Der Berater hielt ihm einen Prospekt hin, auf dem vor azurblauem Himmel Hochhäuser in den Himmel ragten, im Vordergrund Palmen und türkises Meer. »Wenn ich Ihnen einen unbürokratischen Rat geben darf: Schlagen Sie zu! Das ist eine tolle Chance. Sie verdienen gutes Geld. Die Araber da haben Öl und Geld ohne Ende. Nur von Technik keine Ahnung. Was es alles zu beachten gibt, von Normvorschriften bei Hoch- und Tiefbau bis hin zu Maßnahmen gegen die Umweltzerstörung, das greift ja alles ineinander. Die schütten Sand ins Meer und wundern sich, dass der nicht liegen bleibt. Eine gigantische Baustelle, die stillgelegt werden musste. Geld allein katapultiert einen halt nicht in die Neuzeit.«

Holger klappte das Faltblatt auf. Paradiesische Aufnahmen.

»Sie sollten allerdings viel Geduld mitbringen. Hakuna Matata. Und sich immer erst schlaumachen, wen man wie schmieren muss. Diese ›Organisationskompetenz‹ brauchen Sie.«

»Um was für ein Unternehmen geht es denn?«

»Dubai Holding, ein Riesending. Bau, Finanzen, Energie – alles im Besitz der Herrscherfamilie. Geleitet wird es von Abdul Al Kazim, einem der engsten Vertrauten des Scheichs.«

»Abdul heißt er?«

»Wieso fragen Sie?«

»Oh, nichts. Ich hab mal von einem Abdul gehört.«

Der Arbeitsvermittler lachte. »Heißen Muslims nicht alle irgendwas mit Abdullah oder so – wie Juden Israel oder Sara? Was ist: Soll ich Ihnen die Papiere geben?«

*

»Stattdessen lud die Stadt Menschen ein, die keine Arbeitserlaubnis hatten«, fuhr Hamid fort, »und die froh waren, etwas zu tun zu kriegen. Sie erhielten immerhin Getränke – nicht alkoholische natürlich! Trotzdem beschwerte sich der Träger der Unterkunft, in der sie lebten, man hätte ihn nicht gefragt, und die Männer selbst behaupteten anschließend, sie hätten nicht gewusst, für wen sie da schufteten. Hätten sie es gewusst, hätten sie die Arbeit abgelehnt.«

Hussein horchte auf. »Du hast nicht angeboten, sie nachträglich zu entlohnen?«

»Das ist gegen die deutschen Gesetze. Sie dürfen kein Geld verdienen. Der Ausländerbeauftragte fand das so in Ordnung …«

»Ausländerbeauftragte? Was für Ausländer?«

»Sie kamen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.«

»Muslime?«

»Flüchtlinge.«

»Was!« Hussein wurde lebendig. »Diese Kleingeister haben Männer unsere Speisen tragen lassen, die aus Ländern kommen, in denen alles drunter und drüber geht? Geflohene Verbündete, Verzwistete, womöglich Freischärler, Fundamentalisten oder Fanatiker? Ohne jegliche Sicherheitsprüfung?«

Hamid zögerte. Offensichtlich hatte er diesen Gedanken nicht zu Ende gedacht. »So ist das wohl zu verstehen …«

»Zu verstehen?«, ereiferte der Vater sich. Seine Stimme legte mit jedem Buchstaben einige Dezibel zu. »Bestell sofort den Botschafter ein! Er soll die Kanzlerin …«, er stutzte, lehnte sich ans Fenster, stöhnte: »Frauen!«

Hamid war bereits aus dem Raum geeilt.

Hussein richtete den Blick in den Nachthimmel.

Ach, es war noch ein weiter Weg zu den Sternen.

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