Warum wir das schaffen müssen

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Mein Freund Thorsten und die Flüchtlinge

Frank Bonkowski

Mein Freund Thorsten tickt politisch deutlich weiter rechts und hat eine ganz andere Einstellung als ich, was die derzeitige Flüchtlingspolitik angeht.

Ich kann mich noch gut an ein Gespräch erinnern, das wir vor knapp zwölf Jahren in einer Kneipe in unserer gemeinsamen Heimatstadt in Norddeutschland geführt haben.

Ich lebte damals an der Westküste Kanadas, während mein Freund unsere Heimat nie verlassen hatte.

„Du hast gar keine Ahnung, wie das jetzt hier läuft in Deutschland. Wohin du auch siehst, überall laufen Ausländer rum.“

„Ist doch schön, ich mag Multikulti! Das bereichert euch doch nur!“

„Das ist gar nicht schön. Diese Ausländer kriegen vom Staat UNSER Geld nur so nachgeschmissen, sie nehmen sich unsere Frauen und unsere Arbeit. Landunter, sag ich nur! Ich hab bald die Schnauze voll.“

„Du weißt schon, Thorsten, dass ich mit einer Ausländerin verheiratet bin und drei wunderschöne ausländische Kinder habe, die alle einen kanadischen Pass besitzen?“

„Bei euch ist das ja auch ganz anders, ihr habt ja noch nicht mal vor, nach Deutschland zu ziehen.“

Womit er damals noch recht hatte, obwohl wir zwei Jahre später dann doch wieder hierhergezogen sind.

„Ihr seid ja auch ganz anders als die Ausländer, von denen ich rede!“

Bevor ich meinen Freund bitten konnte, mir zu erklären, woran er unser „anders als die anderen Ausländer“ denn nun genau festmachen würde, kam die Bedienung, um unsere Bestellungen aufzunehmen.

„Ich hätte gerne ein Fladenbrot mit türkischer Wurst“, sagte Thorsten der Kellnerin. „Die musst du auch mal probieren, Frank, die türkische Wurst ist voll lecker!“

Ich glaube, den Humor in diesem Statement hat mein Freund bis heute nie so richtig erkannt.

Meine Familie lebt seit zehn Jahren wieder in Deutschland und nimmt meinem Kumpel seitdem erfolgreich zwei Arbeitsplätze weg, aber er ist tolerant genug und immer noch ein richtig guter Freund.

Und wir führen weiter ähnliche Diskussionen wie damals in der Kneipe und sind, was die derzeitige Flüchtlingsdebatte angeht, komplett unterschiedlicher Meinung.

Ich habe am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie schwer es für Ausländer sein kann, hier in Deutschland anzukommen. Meine Kinder konnten damals nur Englisch, und obwohl Kanada ein westliches Land ist und ich Deutscher war, war die Umstellung wesentlich härter und langwieriger, als ich es jemals für möglich gehalten hatte.

Ich bin dankbar für jeden, der damals einfach nur freundlich und verständnisvoll mit meiner Familie umgegangen ist. Das hat mich zutiefst geprägt.

Ich bin durch meine Arbeit als Pastor etlichen Flüchtlingen persönlich begegnet. Meine eigenen Erfahrungen haben mir diese Kontakte leichter gemacht. Ich habe Gastfreundschaft, Kultur und fantastisches orientalisches Essen kennengelernt, und ich bedanke mich oft bei meinen neuen Freunden Habib, Rachel, Shivaa, Hussain, Samir, Farid und wie sie alle heißen, dass sie mein Herz weich werden lassen.

Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass mir all die Nachrichten über den Syrienkrieg wahrscheinlich heute egal wären, wenn ich die Menschen nicht kennen würde, die dort Freunde und Verwandte haben. Mein weicheres Herz führt dazu, dass mir die „Tagesschau“ jetzt regelmäßig richtig wehtut.

Das Interessante ist, dass diese Begegnungen und Geschichten auch meinen Kumpel Thorsten verändern. Wenn ich ihn einlade, mit Habib und Rachel syrisches Essen auszuprobieren, oder wenn ich ihm von Farids abenteuerlicher Flucht über die Berge in den Iran erzähle, dann passiert etwas Wunderschönes: Mein Freund wird neugierig und möchte diese Menschen mit ihren traurigen, spannenden Hintergründen kennenlernen.

Und wenn wir uns kennenlernen, ist schon so unglaublich viel gewonnen.

Und so ist mein Freund Thorsten, der so ganz anders tickt als ich, der Grund geworden, warum ich diese Begegnungen und Geschichten, die persönlichen Schicksale, aufschreiben und erzählen möchte, weil ich mir wünsche, dass sie uns alle weicher machen und verständnisvoller.

Es begann mit einem „Shereve!“

Frank Bonkowski

Wie lernt man eigentlich einen Flüchtling kennen?

Seit ein paar Jahren kommen bei uns Syrer in den Gottesdienst. Seitdem wird bei uns viel gelächelt. Das ist gleichzeitig nett, hat aber auch immer so etwas leicht peinlich Berührtes.

Manchmal gibt es einen, der ein bisschen Englisch kann, aber so sehr man sich auch bemüht, Kommunikation ist erst mal einfach nur mühsam, wenn man so gar keine gemeinsame Sprache hat. Wer dann noch schüchtern ist, der ist komplett außen vor.

Vielleicht hilft ja diese Geschichte. Ende September 2015 ist Samir zum ersten Mal bei uns im Gottesdienst. Durch einen anderen Syrer erfahren wir, dass er gerade in einem Nachbardorf untergekommen und ganz frisch in Deutschland ist. Ansonsten wieder viel von dem netten, peinlich berührten gemeinsamen Anlächeln.

Als wir später mit ein paar Leuten zum Mittagessen in ein Oktoberfestzelt fahren wollen – die gibt es tatsächlich auch im hohen Norden –, sehen wir ihn, wie er zu Fuß nach Hause läuft. Wir halten an, lächeln, machen das universell übliche Zeichen für Essen, und Samir steigt ins Auto.

Zum Glück gibt es im Oktoberfestzelt Bilder. Ich zeige auf eine nett gemalte Schweinshaxe, mein Gast lächelt und hebt den Daumen. Gott sei Dank für dieses allgemein gültige Zeichen. Dann zeige ich auf ein Bild von einem enorm großen Bierglas, es folgt ein enorm großes Lächeln auf Samirs Gesicht. Das wäre geklärt. Unser neuer Freund isst Schwein und trinkt Bier.

Als die eingeflogene Bayrische Band das Festzelt zum Prosten auffordert, versuche ich meinem Mittrinker zu erklären, was hier gerade passiert: „Prost? Cheers? Salute? Skoll?“

Er grinst: „Shereve!“

An unserem Tisch sitzt auch noch eine junge Frau aus dem Iran. „Salam ati!“, ruft sie uns zu.

Wir ernten jetzt zwar einige komische, verwirrte Blicke, als unser Tisch nach jeder Schunkeleinlage „Shereve!“ und „Salam ati!“ brüllt, aber keiner hat so viel Spaß wie wir.

Irgendwann zückt Sammy, so heißt er inzwischen, weil das einfacher ist als Samir, sein Handy und zeigt mir ein Bild von seinem Baby, das er noch nie in den Armen gehalten hat, und von seiner Frau.

Wir kennen erst ein gemeinsames Wort, aber der erste Kontakt ist gemacht.

Zwei Wochen später bin ich bei meinem Freund Habib eingeladen, ein Deutschsyrer, der Sammy zum gemeinsamen Frühstück eingeladen hat, um ein Interview zu machen. Zum Schluss erzählt er mir, dass es am Abend für ein paar Neuankömmlinge Pasta geben wird.

„Ich versuche, meine Freunde an die europäische Küche zu gewöhnen“, meint er lachend.

„Super, wenn Sammy die Pasta mag, dann bring ihn Freitag zu mir, zum Pizzaessen. So gegen 19 Uhr“, antworte ich.

Das passiert dann auch. Ich war gerade nach Hause gekommen, es ist 17 Uhr, und Habib bringt Sammy vorbei. Genaue Zeiten werden im arabischen Raum etwas anders gehandhabt als bei uns. Ich bin alleine zu Hause, komme gerade vom Sport und wollte jetzt eigentlich duschen und die Küche vorbereiten.

Egal. Ich bitte Sammy mit einem Getränk an unseren Bistro-Tisch in der Küche. Wir lächeln, als ich anfange, die Küche ein bisschen aufzuräumen.

Aber irgendwie ist das blöd. Wir können uns doch jetzt nicht zwei Stunden lang lächelnd anschweigen, bis die anderen kommen.

Irgendwann kommt mir so eine Idee. Ich bitte meinen neuen Freund, mit mir zu meinem Laptop zu kommen. Auf google earth gebe ich „Homs“ ein. Ich weiß noch von unserem Interview, dass das seine Heimatstadt ist. Für die nächsten zehn Minuten gucken wir uns Bilder aus seiner Heimat an. Vor dem Krieg war das eine wunderschöne Stadt. Wir lächeln viel. Irgendwann zeigt er auf eine Kirche und dann auf sein Herz. Da ist er zur Kirche gegangen. Homs hat auch ganz viel Wasser, und es muss früher wunderschön gewesen sein, dort zu wohnen.

Als sich die Bilder nur noch wiederholen, gebe ich „Sechelt, BC“ ein. Die Stadt, in der ich fast 15 Jahre lang gewohnt habe und wo meine Kinder zur Welt gekommen sind. Wir finden die alte Kirche, in der ich früher gearbeitet habe, und nun zeige ich auf mein Herz. Wir sehen den Strand, an dem wir als Familie gespielt haben, und vieles mehr.

Als sich die Bilder wiederholen, suchen wir Bad Segeberg, das jetzt unsere gemeinsame Heimatstadt ist. Wir müssen beide lachen. Aber auch hier gibt es wunderschöne Ecken.

Als sich die Bilder wiederholen, gebe ich auf Englisch „Homs im Krieg“ an. Wir sehen kurze Videos, die uns zum Lachen bringen, wenn Bürger eine Sperre immer wieder wegschaffen, sobald das Militär verschwunden ist. Wenn wir zerbombte Stadtteile sehen, dann teilen wir ein paar Tränen.

Und irgendwann haben wir ganz viel miteinander geredet, obwohl sich unser gemeinsames Vokabular immer noch nicht entscheidend erweitert hat.

Am nächsten Tag bin ich in unserer arabischen Kirche zu Gast, und mein Freund Sammy und ich feiern gemeinsam Abendmahl. Wieder ganz viel Kommunikation ohne Worte.

Aus diesen Momenten entsteht Freundschaft, und aus dieser Freundschaft werden oft auch ganz tolle Programme. Hier ein paar Bespiele.

Es dauert manchmal Monate, um die offiziellen Sprachkurse zu bekommen, also gründeten wir einen inoffiziellen Deutschkurs.

Ich weiß von Sammy und den anderen, dass ihnen langweilig ist, also gründeten wir gemeinsame Kochkurse, auch eine Volleyballgruppe hat sich gebildet. Wir haben einen 44 Jahre alten Basar gegen einen internationalen Weihnachtsmarkt eingetauscht. Ein Ort der Begegnung, an dem wir gemeinsam feiern und arbeiten konnten. Und die Resonanz war überwältigend. Denn wir alle brauchen es, etwas für andere tun zu können.

 

Sammy wünschte sich nichts mehr, als seine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, damit die Familienzusammenführung in Angriff genommen werden kann. Mirko, ein Experte, hat sich bei uns gemeldet und kommt nun regelmäßig in unseren syrischen Gottesdienst mit dem anschließenden Café, um bei den Anträgen zu helfen. Seit wir Sammys Baby auf dem Handy gesehen haben, wussten wir, dass wir ihm in dieser Angelegenheit helfen müssen. Heute, während ich dies schreibe, ist Sammys Wunsch übrigens in Erfüllung gegangen: Er hat seine Aufenthaltsgenehmigung. Jetzt kann der nächste Schritt geplant werden, und natürlich wird Mirko wieder helfen, damit Sammy seine Frau und sein Baby hoffentlich bald in den Arm nehmen kann.

Ein weiteres Beispiel zeigt vielleicht, warum es uns so wichtig ist, dass Programme organisch aus Beziehungen entstehen.

Es gibt in unserer Gemeinde seit Kurzem einen Kleidermarkt für Flüchtlinge. Ein paar nette deutsche Damen haben sich sofort freiwillig gemeldet, weil sie gerne mit den netten syrischen Frauen zusammenarbeiten wollten. Die Aktion ist daran gescheitert, dass die netten syrischen Frauen Angst vor den netten, effektiven deutschen Frauen hatten. Diese Reaktion stieß auf Unverständnis, konnte in diesem Fall aber schnell geklärt werden: Ein Araber wird dir dann vertrauen, wenn du bei ihm zu Hause zum Essen warst. Nicht wie man in unserer Kultur denken könnte, wenn ich etwas für ihn getan habe. In dieser Kultur sind Beziehung und Gastfreundschaft unglaublich wichtig.

Ich werde oft gefragt, ob ich unsere Programme erklären kann, für die wir hier in unserer Stadt in letzter Zeit einiges an Aufmerksamkeit bekommen haben. Meine Antwort ist dann immer: „Programme ohne die Beziehung wären irgendwie leblos, und es kann zu viel Frust führen, ein Programm nur auf die Beine zu stellen, weil das im Moment eben zum guten Ton gehört.“

Was würdest du dir wünschen, wenn du neu in einem fremden Land wärst? Programme oder Menschen, die dich mögen?

In diesem Sinne: „Shereve!“

Ein unvollkommenes Willkommen

Jennifer Zimmermann

Es ist Dienstag, und ich bin vorbereitet. Bestens sortiert. Kleine Türmchen stapeln sich auf dem Tisch vor mir. Papiere mit Punkten, mit Streifen, mit Blümchen und ohne alles, Briefumschläge in Rot, Grün, Gelb und Blau, Stifte in allen Regenbogenfarben, mit Glitzer und ohne, große Scheren, kleine Scheren, Klebestifte, Flüssigkleber. Und in mir mein klopfendes Herz.

Hier in unserem Gemeindecafé wartet alles auf die Gäste. Die vertrauten Stimmen von fünfzehn Mitgliedern meiner Gemeindefamilie um mich her erzählen Geschichten von letzter Woche, beraten, lachen, seufzen, hin und wieder schnappe ich einige Sätze auf. Ich verlasse meine Bastelburg und schlendere ziellos umher. In der Mitte des Raumes ist ein Buffettisch reich gedeckt, Kaffeeduft zieht durch den Raum. Links werden Arbeitsblätter gewälzt, Methoden ausgetauscht. Wie erklärt man den Unterschied zwischen „Sie“, förmlich, und „sie“, dritte Person Plural? Am Fenster werden Namensschilder sortiert.

Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick über die Namen schweifen, rechts die Mitarbeiter, links die Gäste. In den Fensterscheiben brechen sich die Frühlingssonnenstrahlen. Tausend Lichtpunkte tanzen über die Fensterbretter, über die rund vierzig Schilder mit ihren handgeschriebenen Buchstaben. Als kleine Gemälde fangen meine Augen die einzelnen arabischen Schriftzüge ein. Dabei sind es so oft die lateinischen Buchstaben, die von ihren Schreibern sorgfältig aufgemalt wurden. Es ist das neunte Mal, dass wir Flüchtlinge aus unserer Nachbarschaft in unser „Offenes Haus“ einladen. Zum dritten Mal bin ich dabei. Und ich bin vorbereitet. Diesmal habe ich Dinge mitgebracht zum daran Festhalten. Material zum Vorschieben, zum Verstecken meiner Unsicherheit und meiner Sprachlosigkeit. So weit der Plan.

Jetzt schwappen die ersten zwanzig Menschen in kleinen Grüppchen herein. Der Raum füllt sich mit den Klängen von Sprachen, die ich nicht auseinanderhalten kann. In den ersten Minuten der Begrüßung schlagen sie wellenartig hoch. Kinder rennen mit ausgestreckten Händen herein und geben Mitarbeitern High Five, Menschen breiten ihre Arme aus, ein Lächeln fliegt hin und her, manche tasten sich schüchtern durch den Raum, beobachtend, abwartend. Für viele war dieser Dienstagnachmittag ein Grund, ein besonderes Kleidungsstück anzuziehen, Schminke aufzulegen. Es ist wie der Beginn eines Festes. Und wie ein lang gepflegtes Ritual erklingt mit jeder ausgestreckten Hand der Satz, den die meisten gleich zu Beginn hier gelernt haben: „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“ Ich wünsche jedem Einzelnen Wortgeschenke, Formulierungen für ehrliche Antworten.

Frühlingslichtpunkte tanzen in der Luft. Auch auf den vielen Tischen, an denen sich die vertrauten Lerngruppen um einzelne Mitarbeiter sammeln. Nur selten wechseln sie. Geknüpfte Kontakte werden gepflegt und dieser Mensch geschätzt, der Wort für Wort einen Weg ebnet in diesen fremden Klang, diese fremde Sprache, dieses fremde Deutschland. Manche Mitarbeiter haben Lernhefte bestellt, andere hangeln sich mit bebilderten Wörterbüchern durch den Dschungel der Alltagsbegriffe. Und in der Kommunikation mit Händen und Füßen ist das Buffet Wörterbuch zum Anfassen: Kuchen. Apfel. Banane. Kaffee. Ich lerne bei dieser Gelegenheit meine ersten Worte Farsi.

Manche Gäste stehen wie erschlagen vor dem Wortberg, der sich vor ihnen auftürmt, und nichts scheint Wurzeln zu schlagen in ihren Köpfen. Alles fließt einfach so hindurch, vorbei an den alles überschattenden Bildern von Krieg und Blut, Schmerz und Verlust, Flucht und Dunkelheit, Angst und der trügerischen Sicherheit eines Landes, in dem Uniformierte Menschen in einen Flieger setzen und erneut dem Wahnsinn preisgeben. Den Schrecken können wir vielen im Gesicht ablesen, auch viele Monate danach. Im Stockwerk über den Lernenden spielen einige Tischkicker oder Tischtennis und kommen später sichtlich leichter die Treppen hinunter, für einen Moment befreit aus der Starre der Ausgelieferten.

Und dann sind da noch ein paar junge Frauen, die mit ihren Männern und Kindern auf der Suche nach einem besseren Leben hierherkamen. Ich sehe ihnen zu, wie sie sich an ihre vertrauten Tische setzen und lange, lange still schauend den Raum betrachten, mit den Augen den Kindern folgen, hier und da ein Wort wechseln. Ein vielleicht zweijähriges Mädchen legt ihr Kinn auf meinen Basteltisch und beäugt die bunt gemusterten Papiere, und ich habe wieder einmal meine beiden Jungs vor Augen und die Verantwortung für ihre kleinen Leben, die manchmal so schwer auf meinen Schultern liegt, das alltägliche Abwägen von da sein, von Grenzen setzen, die Last, als die ich manchmal das immer wiederkehrende Essenmachen, Windelnwechseln, Spielen, Schimpfen, Schlafenlegen empfinde, und ihre unglaubliche Steigerung, wenn die vertraute Umgebung, das soziale Netz und die schnellen eingeübten Handgriffe plötzlich fehlen.

Es bewegt mich, wie diese jungen Mütter ihre Kinder über das unwegsame Gelände der Flucht tragen, nichts sehend außer dem nächsten Hindernis. Auf der Suche nach einem Zugang zu diesen Frauen, die mir so nahe sind, habe ich mir eine Brücke gebastelt, eine Frühlingskarte, ein Bastelangebot, eine Hoffnung, dass wir mit dem Material in den Händen die sprachlosen Momente verringern, gemeinsam etwas Schönes erschaffen und einander Sinn schenken. Ich bin vorbereitet – denke ich.

Erwartungsvoll kehre ich zu meinem Tisch zurück. Eine junge Frau setzt sich zaghaft auf einen der Stühle neben mir. Ich nehme sie heute zum ersten Mal wahr, dabei erzählt ihr ganzes Auftreten von einem Menschen, der das Besondere liebt, von einer Frau, die sich gern in Eleganz kleidet und auffällt. Ihr Gesicht aber trägt Unsicherheit, tiefe Trauer, und ich merke, wie mir das Lächeln wehtut.

„Deutsch?“, fragt sie vorsichtig, und ich antworte: „Ja, ich spreche Deutsch“, im gleichen Moment ein Missverständnis ahnend.

„No“, versucht sie es auf Englisch, „learning Deutsch?“

Ich verstehe, dass sie jemanden sucht, mit dem sie Deutsch üben kann. Während ich in meinem Kopf nach dem englischen Wort für Basteln suche, dämmert mir langsam, dass sie über diese Vokabel wahrscheinlich ebenso wenig verfügt wie ich, und wir sitzen einige unerträgliche Sekunden schweigend voreinander. Dann fällt mir wieder ein, dass ich vorbereitet und sortiert bin, und die kompetente Helferin in mir schluckt ihre Unsicherheit schwer hinunter. Mit großen Gesten untermale ich den deutschen Satz, dass hier, an diesem Tisch, heute gebastelt wird und, wenn sie basteln möchte, sie gern hier sitzen bleiben kann. Andernfalls müsse sie sich einen anderen Platz suchen. Übertrieben freundliches Lächeln von mir, verständnisloser Blick von ihr. Ich wiederhole zu bestimmt die wichtigsten Worte. Basteln hier. Kein Deutsch lernen. Und mit Handweisung auf den Nachbartisch: Da drüben ist noch Platz.

„O. k.“ Sie zuckt mit den Schultern und senkt den Blick, zieht an den nächsten Tisch um. Ein junger Mann, der die ganze Zeit wortlos hinter ihr gestanden hat, schüttelt kaum merklich den Kopf, als er sich zu ihr setzt. Ich lasse meinen Blick schweifen über meine einsam gestapelten Bastelmaterialien, die Kinder, die sich mittlerweile mit neugierig tastenden Blicken genähert haben, und die vielen freien Stühle, auf die ich mir die jungen Mütter gewünscht hatte, die jetzt ihren Kaffee schlürfen und anfangen, sich am Buffet zu bedienen. Ich fühle mich ertappt.

Natürlich verbringe ich den restlichen Nachmittag mit dem Basteln von Frühlingskarten. Es dauert eine ganze Weile, aber dann folgen gleich mehrere junge Mütter ihren neugierigen Kindern an meinen Tisch und lassen sich von mir begeistern. Meine gut sortierte Vorbereitung endet in heillosem Durcheinander. Ein voller Erfolg. Aber auf dem Heimweg hallt in mir dennoch dieser erste Moment nach und die Frage, ins tiefste Chaos meiner Seele hineingestellt: „Wie muss ein solcher Mensch sein, der andere willkommen heißt, der zum Ankommen einlädt, der Gastgeber sein möchte?“

Meine schmerzhaft ehrlich abgerungene Antwort bringt Licht in die dunkle Lücke, die sich auftut zwischen „ihnen“ und „uns“, wenn ich fremden Menschen begegne: Ich muss besser sein. Kompetenter. Wissender. Sicherer. Vorbereiteter. Und es kostet mich den restlichen Abend, um den Knoten zu entwirren und herauszufinden: Ich bin es nicht. Ich spüre allzu rutschig den eiskalten Boden unter meinen Füßen, wenn mein Gegenüber meine Worte nicht versteht, meine Kultur oder meine Lebensgestaltung. Ständig begegnet mir dieses Problem, bis ich irgendwann lerne, mein Leben so zu strukturieren, dass ich nur noch mit Gleichdenkenden- und sprechenden in engen Kontakt komme.

Doch da, wo ich beschließe, mich auf den Anderen, den fremden Anderen, einzulassen, da treffe ich sie wieder, die tiefe Unsicherheit des Menschen, der all seiner eingeübten Handlungslinien beraubt, nackt und wehrlos dasteht und die Wahl hat, sich möglichst schnell eine kompetente Maske zu basteln oder schlicht zu lächeln und Mitmensch zu sein, verletzter, fehlerhafter, wurzelloser Mensch, zusammengehalten von Gottes Liebe. Ich wähle die Maske. Immer wieder.

Einige Monate später, weit entfernt vom tanzenden Frühlingslicht, ein Tag so heiß, dass der Asphalt flimmert. Ich sitze im Auto vor den Wohncontainern, die kurz vor Weihnachten auf den großen Platz eine Straße neben unserer Gemeinde gestellt wurden. Bewegt von dem tiefen Wunsch, willkommen zu sagen, besuchten wir erst zögerlich, später organisiert, die Menschen in den Containern, wollten ein Zeichen setzen, eine Not lindern, von der wir noch nicht einmal wussten, wie sie aussah. Zu Weihnachten brachten wir Tüten mit Obst und standen fassungslos vor den kahlen Wänden im Gemeinschaftsraum, dem Ausblick auf die überdimensionalen Mülltonnen im Hof, den Wachmännern in ihrer ständigen Überwältigung angesichts eines Arbeitsalltags, der sie zwang, zu schlichten, zu übersetzen, zu vermitteln, zu koordinieren und zu versorgen. Wir begegneten jungen Familien mit Kindern aller Altersgruppen, alleinstehenden Männern und Frauen, Menschen aus Äthiopien, Afghanistan, Albanien, Irak, Palästina, Somalia, Serbien, Syrien auf engstem Raum in Zwangsgemeinschaft lebend.

Wir stopften die offensichtlichen Löcher. Wir sammelten Geschirr, Töpfe, Handtücher, Bettbezüge, Kinderwagen, bis wir an die Grenzen unserer Lagermöglichkeiten stießen. Wir organisierten, wir verteilten, wir kamen und brachten und ernteten Dankeschöns in allen Sprachen, und wir gingen nach Hause und zogen die Frage hinter uns her, ob unser Willkommen auch angekommen war. Wir standen im Gemeinschaftsraum an zusammengeschobenen Tischen hinter Türmen aus Töpfen und Pfannen, und die Menschen kamen und nahmen und gingen. Hier und da ein Gespräch, ein stotterndes auf Englisch, das uns noch tagelang umtrieb, weil das tiefe Bedürfnis nach Beziehungen, nach Freundschaften sogar noch den Wunsch nach Sprachverständnis übertönte.

 

In kürzester Zeit sammelte sich ein Mitarbeiterkreis, der nur auf diesen Anstoß gewartet hatte, der auf der Suche war nach der tiefer liegenden Lücke unter dem offensichtlichen Fehlen von Gegenständen, nach Gottes Auftrag in dieser Not in der Nebenstraße. Lange schon hatten viele von uns Träume gesponnen um unser Gemeindecafé, das wir bisher nur sonntags nach dem Gottesdienst zum Verweilen nutzten. An einem Dienstagnachmittag im Februar öffneten wir zum ersten Mal die Türen dieses Raumes, um die knapp fünfzig Menschen aus den Containern einzuladen auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen, auf ein paar neue Worte Deutsch, auf ein Kennenlernen. Wir wünschten ihnen, dass sie ankommen könnten in unserer Stadt nach ihrer langen Reise, und setzten damit, ohne es zu merken, für viele ein Highlight in die sich dahinschleppende Containerwoche. Schon in der dritten Woche kamen uns unsere Gäste, als wir sie abholen wollten, auf halbem Weg entgegen. Abholen müssen wir seither niemanden mehr.

Mein Blick streift über den Platz zu der alten Feuerwache, die lange leer stand und jetzt als zusätzliche Unterkunft für Flüchtlinge verwendet wird. Aller Übung zum Trotz spüre ich mal wieder die Aufregung. In meinen Gedanken kursieren unausgesprochene Worte, die Freundlichkeit, die ich der jungen Frau entgegenbringen möchte, die gleich in mein Auto steigen wird, und die immer tiefer sinkende Kühle einer halben schweigenden Stunde Autofahrt. Auf der Außentreppe entdecke ich sie, ihre langen schwarzen Haare wippen in schwungvollen Wellen ihre Schultern hinab, sie trägt eine lange Perlenkette um den Hals.

Die junge Frau, die ich im Frühjahr so unsanft übermotiviert meines Tisches verwiesen habe, sie hole ich an diesem Abend ab und nehme sie mit zu unserem Frauenhauskreis. Als sie einsteigt, vorfreudig, strahlend, schick und geschminkt, sehe ich an mir herunter und entdecke Reste des aufgeweichten Abendbrotes meiner Kinder.

„Du siehst toll aus!“, sage ich, und wir finden uns schon zwei Straßen weiter irgendwo zwischen Englisch, Deutsch, Hand und Fuß und reden die ganze Autofahrt über Jesus, den sie in ihrer Heimat im Nahen Osten auf wunderbare Weise und ungeachtet aller Hindernisse kennengelernt hat, über die schmerzhaft holprigen Wege, die sie gehen musste, um nach Deutschland zu kommen, und über die Kinder, die sie daheim zurückgelassen hat.

Ihre Geschichte sprudelt aus ihr, als hätte ich mit dem Öffnen meiner Autotür ein Loch in einen Damm gerissen. In der wilden Mischung aus Sprachen und Gebärden verstehe ich vieles gut und vieles gar nicht, und selbst wenn ich alles verstünde, würde es mir an Worten fehlen, die Antwort genug wären auf all das, was sie mir anvertraut. Nicht nur einmal lege ich meine Hand aufs Herz und spüre den Schmerz mit ihr. Und dazwischen lachen wir über unsere Missverständnisse. Den Blick auf die Fahrbahn gerichtet, ihre aufgeregte Stimme neben mir, ziehen vor meinem inneren Auge Bilder herauf, denen der Hintergrund fehlt.

Ich weiß nichts über das Land, aus dem sie kommt. Ich weiß nicht, was es heißt, die Frau unter dem Schleier zu sein, wenn man ihn nicht tragen möchte. Ich weiß nicht, wie es ist, sonntags die Vorhänge zuziehen zu müssen um beten zu können. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, die eigenen Kinder zurückzulassen, um einen unsicheren Weg zu gehen, um zu überleben. Aber in dieser halben Stunde in meinem Auto kann ich die Gegenwart Jesu spüren, ja, ich kann ihn hören, wie er erzählt von seinen Schmerzen angesichts dieser tiefen Verletzungen, ich kann ihn fast weinen hören. Er gibt mir neu die Chance, meine glatte Fassade abzulegen und einfach da zu sein mit meinen eigenen Schrammen, Narben, Chaos in Kopf und Herz, der perfekt vorbereiteten Maske, die an meinem rechten Ohr baumelt, und den angesabberten Brotresten an meiner Schulter.

„Sister“ nennt sie mich. Sie wird mir in den nächsten Wochen Freundin, Gleichgesinnte, Schwester und bleibt mir doch fremd. Unsere Gespräche gewinnen an Tiefe, aber sie bleiben ein Ringen um gegenseitiges Verständnis, die unzählige Male mit dem Versprechen enden, alles zu erklären, wenn wir erst eine gemeinsame Sprache haben. Manchmal denke ich, wir sind doch schon jetzt einer gemeinsamen Sprache näher als zwei, die eine Muttersprache teilen. Oft kommen wir ohne viele Worte aus oder mit solchen, die in keinem Wörterbuch zu finden sind, die für uns aber ihre ganz eigene Bedeutung haben. Ihr gegenüber schaffe ich es immer wieder, meine allmächtige Helfermaske daheim zu lassen und zur gleichermaßen Hilflosen zu werden – hilflos angesichts ihrer Geschichte, aber auch angesichts meiner eigenen.

Immer wieder erweist sich die gut sortierte Sozialarbeiterin in mir als hilfreich, dann setze ich die Maske gern auf. Gemeinsam mit ihr finde ich Möglichkeiten, wie meine neue Freundin mit ihrem Trauma umgehen kann, finde Fachkräfte und Ansprechpartner. Gemeinsam finden wir einen Weg, auch dann, als plötzlich Abschiebung droht. An allen anderen Tagen stehe ich aber da als eine, die selbst auf dem Weg ist und noch lange nicht daheim. Im Zusammensein mit ihr erfahre ich, dass es möglich ist, die existenziell menschliche Erfahrung von Abhängigkeit, von Kontrollverlust, vom Leben auf einem Boden, der gerade noch trägt und sich dann plötzlich auftut, radikal zu akzeptieren. Dass es eine Art von Geduld und Weisheit gibt, die haarklein durchbuchstabiert hat, dass Gott auch in der Wüste noch gut ist und seine Schritte mit uns oft erst mit dem Blick über die Schulter ein Muster im Sand ergeben.

Ein Geschenk ist mir diese Freundschaft, die mich immer wieder daran erinnert, dass ich nicht im leeren Raum lebe, sondern existenziell abhängig bin von Gottes Hand. Wenn ich jetzt von Jesus lese, der sagt, wir sollen uns um nichts sorgen (Matthäus 6, 34), dann ist mir das mehr als ein freundlicher Hinweis. Es ist ein Gebot, das mich liebevoll daran erinnert, auf meine kostbare, verletzliche Seele zu achten, das mich an meine Bedürftigkeit erinnert und an einen Gott, der mich befähigt und stärkt, wenn ich vor ihm schwach werde. Wie kann ich einem Menschen in seiner Fassungslosigkeit sagen, dass es Einen gibt, der Verwundete trägt und Zerrüttete liebt, wenn ich Ihn nicht selbst erfahre an jedem neuen Tag?

Im Herbst entwickeln die Mitarbeiter des „Offenen Hauses“ gemeinsam ein Leitbild, und jetzt steht es schwarz auf weiß in immer neuen Worten auf einer Seite, dass sich hier Menschen begegnen, dass hier kommuniziert, gefragt, verstanden, vertraut wird. Und mitgefühlt. Zwangsläufig blicken wir hinter die alles überschattenden Fluchtgeschichten und die Hilf- und Sprachlosigkeit der Menschen, die unsere Gemeinde dienstags besuchen, wenn wir als Mitmenschen auf sie zugehen. Weil wir unsere eigenen Helfer-Masken fallen lassen, weil wir unser Vorgehen nicht bis ins Kleinste durchbuchstabieren und weil wir kein Konzept als pauschale Antwort auf die Flüchtlingsfrage unserer Stadt entwickeln, dürfen wir immer wieder auch hinter die Masken unserer Gegenüber blicken, den ganzen Menschen erhaschen mit seinem ganzen Lebenschaos.

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