Sprache und Kommunikation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung

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1. Betriebliche BerufsbildungBerufsbildungbetriebliche
1.1 Gesetzliche Grundlagen

Grundlegend für die formale betriebliche Berufsbildung ist das Berufsbildungsgesetz (BBiG)Berufsbildungsgesetz von 1969 in der Neufassung aus dem Jahr 2005 (Berufsbildungsreformgesetz) und die daran angepasste Handwerksordnung (HwO). „Berufsbildung“ im Sinne des Berufsbildungsgesetzes (§ 1 Abs. 1 BBiG) „sind die Berufsausbildungsvorbereitung, die Berufsausbildung, die berufliche Fortbildung und die berufliche Umschulung.“ Das Berufsbildungsgesetz gilt für die Berufsbildung, soweit diese nicht in berufsbildenden Schulen durchgeführt wird. Daraus ergibt sich für den speziellen Fall der Berufsausbildung im Dualen Systemduales System, dass der betriebliche Teil durch Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes geregelt wird, während die Aufsicht und Regelung der Berufsschule in die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Dualität der Lernorte in Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen korrespondiert mit der Dualität der Regelungsbefugnisse von Bund und Ländern.

1.2 Berufsausbildungsvorbereitung

Die BerufsausbildungsvorbereitungAusbildungsvorbereitung dient laut BBiG dem Ziel, durch die Vermittlung von Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit an eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf heranzuführen. Sie richtet sich an Personen, deren Entwicklungsstand eine erfolgreiche Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf noch nicht erwarten lässt. Die wichtigste Form der betrieblichen Berufsausbildungsvorbereitung ist die Einstiegsqualifizierung Jugendlicher (EQJ). Es handelt sich um eine mindestens sechs Monate und längstens bis zu einem Jahr dauernde praxisnahe betriebliche Qualifizierung. Sie kann unter bestimmten Umständen einer anschließenden Berufsausbildung im Dualen System angerechnet werden.

1.3 Betriebliche Berufsausbildung im Dualen System

Schwerpunkt der betrieblichen Berufsbildung ist die Berufsausbildung im Rahmen des Dualen Systems (vgl. Spöttl 2016). Zum Begriff Berufsausbildung führt das Berufsbildungsgesetz (§ 1 Abs. 3 BBiG) aus:

Die Berufsausbildung hat die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen.

Die wesentlichen Merkmale der betrieblichen Berufsausbildung im Dualen System lassen sich gemäß dieser Legaldefinition auf folgende Punkte fokussieren: (1.) Berufsausbildung bereitet auf „qualifizierte“ berufliche Tätigkeiten vor. So genannte „Anlernberufe“ mit kurzer Anlernzeit, wie sie vor Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes üblich waren, gibt es nicht mehr. Die weit überwiegende Zahl der Ausbildungsordnungen sieht eine Ausbildungsdauer von drei Jahren vor. Daneben gibt es eine nicht unbeträchtliche, aber abnehmende Zahl von Ausbildungsberufen mit dreieinhalbjähriger und zweijähriger Ausbildungsdauer. (2.) Die Berufsausbildung hat „berufliche Handlungsfähigkeiten“Handlungskompetenz zu vermitteln. Das Leitbild der beruflichen Handlungsfähigkeit zielt darauf ab, Auszubildende zu befähigen, Arbeitsabläufe selbständig zu planen, durchzuführen und zu kontrollieren. Hintergrund für die Orientierung am Leitziel der beruflichen Handlungsfähigkeit ist der Trend zur Höherqualifizierung und Flexibilisierung der Arbeitsanforderungen. (3.) Die in der Berufsausbildung zu vermittelnden Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten sind in einem „geordneten Ausbildungsgang“ zu vermitteln, und zwar auf der Grundlage bundeseinheitlicher Ausbildungsordnungen. Zur Wahl stehen derzeit über 300 geregelte AusbildungsberufeAusbildungsordnung. Für einen anerkannten Ausbildungsberuf darf nur nach der Ausbildungsordnung ausgebildet werden. In anderen als anerkannten Ausbildungsberufen dürfen Jugendliche unter 18 Jahren nicht ausgebildet werden (Ausschließlichkeitsgrundsatz gemäß § 4 BBiG). Ausbildungsordnungen haben als Rechtsverordnung der zuständigen Bundesministerien Gesetzeskraft. An der Entwicklung von Ausbildungsordnungen sind nicht nur staatliche Akteure beteiligt, sondern paritätisch auch Sachverständige der Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände). Es gilt das KonsensprinzipKonsensprinzip, wonach Ausbildungsordnungen im Einvernehmen der Akteure von Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verbindlich geregelt werden (korporative Steuerung). (4.) Der Erwerb der „erforderlichen Berufserfahrungen“ erfolgt in der betrieblichen Praxis aufgrund eines privatrechtlichen Ausbildungsvertrags zwischen Ausbildenden und Auszubildenden. Der Vertragsabschluss ist nach dem Grundrecht der Berufsfreiheit den Ausbildenden und Auszubildenden überlassen; die Durchführung der Ausbildung selbst unterliegt den Bestimmungen der Ausbildungsordnungen.

1.4 Betriebliche WeiterbildungWeiterbildungbetriebliche

Im Vergleich zur Berufsausbildung ist die betriebliche Weiterbildung nur wenig geregelt und deshalb schwer überschaubar (vgl. Schanz 2006:91–99). Das Berufsbildungsgesetz spricht nicht von Weiterbildung, sondern von „beruflicher FortbildungFortbildungberufliche“ und unterscheidet dabei vier Anlässe bzw. Arten: Anpassungsfortbildung, Erweiterungsfortbildung, Erhaltungsfortbildung und Aufstiegsfortbildung. Bei der abschlussbezogenen Aufstiegsfortbildung, zum Beispiel zum Meister oder zum Techniker, kann das Bundesministerium für Bildung und Forschung Fortbildungs- und Umschulungsordnungen erlassen; ansonsten obliegt die Regelung der Fortbildungs- und Umschulungsprüfungen den „zuständigen Stellen“ (z.B. den Handwerks- sowie den Industrie- und Handelskammern).

Darüber hinaus besteht eine Vielzahl gesetzlich nicht geregelter betrieblicher Weiterbildungsaktivitäten, zum Beispiel die Anpassungsweiterbildung am Arbeitsplatz im Fall technischer Innovationen oder organisatorischer Änderungen. Insgesamt liegt die Weiterbildungsbeteiligung der Betriebe in Deutschland bei rund 50 %. Der betriebliche Weiterbildungsbereich ist hoch selektiv (vgl. Dummert & Leber 2016:40–48). So nehmen höher qualifizierte Beschäftigte (z.B. mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Hochschulabschluss) deutlich häufiger an Weiterbildungsmaßnahmen teil als gering qualifiziertes Personal. Differenziert nach Betriebsgrößenklassen zeigt sich, dass die Weiterbildungsbeteiligung der Betriebe mit Zahl der Beschäftigten steigt. Einer der wichtigsten Gründe für diesen Befund ist, dass größere Betriebe eher als kleinere über die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen verfügen, um Qualifizierungsmaßnahmen durchführen zu können.

2. Schulische BerufsbildungBerufsbildungschulische
2.1 Gesetzliche Grundlagen

Bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland knüpfte die Entwicklung des beruflichen SchulwesensSchuleberufliche unter neuen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen an die in der Weimarer Republik und zur Zeit des Nationalsozialismus geschaffenen institutionellen Strukturen an. Schulpolitische Entscheidungen werden seither durch den föderalen Staatsaufbau und die hiermit verbundene Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden bestimmt (vgl. Kultusministerkonferenz 2015a:6–8). Der einzige spezielle Schulartikel des Grundgesetzes (Art. 7) unterstellt das gesamte Schulwesen der Staatsaufsicht. Darunter fallen die öffentlichen wie die privaten, die allgemeinbildenden wie die berufsbildenden Schulen. Die Gesetzgebung über das berufliche Schulwesen liegt bei den einzelnen Bundesländern.

Die föderale Kompetenzverteilung und insbesondere die Zuständigkeit der Länder für die Regelung und Aufsicht des Schulwesens führte schon frühzeitig dazu, Einrichtungen für die Koordination und Abstimmung schulpolitischer Entscheidungen zu treffen. Eine herausragende Rolle spielt hierbei die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz, KMK)Kultusministerkonferenz. Speziell für das berufliche Schulwesen hat die Kultusministerkonferenz insofern eine besondere Bedeutung, als sie Vereinbarungen über die Anerkennung und Gleichwertigkeit von Abschlüssen und über Rahmenlehrpläne für den beruflichen Unterricht trifft und am Zusammenwirken der betrieblichen und schulischen Berufsausbildung, etwa bei der Abstimmung von Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrplänen, beteiligt ist.

2.2 Schularten des beruflichen Schulwesens
2.2.1 Gesamtüberblick und Klassifikation der Schularten an berufsbildenden Schulen

Die Vielfalt berufsbezogener Schularten und Bildungsgänge (vgl. Statistisches Bundesamt 2016) lässt sich nach der Systematik des nationalen Bildungsberichts folgenden Teilbereichen zu ordnen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016:105):

 Duales System: Teilzeit-Berufsschule,

 Schulberufssystem: Berufsfachschulen, soweit sie eine vollständige Berufsausbildung mit berufsqualifizierendem Abschluss vermitteln,

 Übergangssystem: Bildungsgänge ohne berufsqualifizierenden Abschluss (Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr, Berufsfachschulen ohne Berufsabschluss),

 Weiterbildung: Fachschulen für berufliche Fortbildung.

Nicht berücksichtigt sind im Bildungsbericht berufliche Schulen, die primär eine Schullaufbahnberechtigung vermitteln. Dazu gehören insbesondere: Berufsaufbauschulen mit Abschluss der Fachschulreife (kaum noch von Bedeutung), Fachoberschulen mit Abschluss der Fachhochschulreife, Berufsoberschulen mit Abschluss der fachgebundenen Hochschulreife, Fachgymnasien mit Abschluss der allgemeinen Hochschulreife (vgl. Schanz 2015:83–85).

 

2.2.2 BerufsschulenBerufsschule im Dualen System

Weit mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler an beruflichen Schulen besucht außerhalb der betrieblichen Ausbildungszeit die (obligatorische) Teilzeit-Berufsschule. Der Berufsschulunterricht umfasst nach Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (2015b) zwölf Wochenstunden, davon entfallen acht Stunden auf den berufsbezogenen und vier Stunden auf den berufsübergreifenden Unterricht. Gegenstand der KMK-RahmenlehrpläneCurriculumRahmenlehrplan ist nur der berufsbezogene Unterricht. Er orientiert sich nicht an der Fachsystematik von Unterrichtsfächern, sondern an LernfeldernLernfeld, die unter Bezugnahme auf berufsrelevante Arbeitssituationen handlungssystematisch aufgebaut sind (Kultusministerkonferenz 2011). Damit soll dem gemeinsamen Bildungsauftrag von Berufsschule und Ausbildungsbetrieben unter dem Leitziel der beruflichen Handlungskompetenz entsprochen werden. Die Lehrplanung für den berufsübergreifenden Unterricht obliegt den einzelnen Ländern. Sie haben sich verpflichtet, dass die Berufsschule „durchgängige Sprachbildung“ ermöglicht (Kultusministerkonferenz 2015b:3). Die Fächer des berufsübergreifenden Bereichs sind von Land zu Land verschieden; so sehen die Berufsschullehrpläne für Nordrhein-Westfalen die Fächer Deutsch/Kommunikation, Religionslehre, Politik/Gesellschaftslehre und Sport/Gesundheitsförderung vor. Darüber hinaus gibt es einen Differenzierungsbereich, der unterschiedlich genutzt werden kann, z.B. bei entsprechenden schulischen Voraussetzungen zum Erwerb der Fachhochschulreife.

Der Berufsschulbesuch führt zu einem eigenen zertifizierten Abschluss, der allerdings nicht mit einer eigenen Prüfung verbunden ist. Das Berufsbildungsgesetz sieht am Ende der Berufsausbildung eine AbschlussprüfungAbschlussprüfung in Eigenverantwortung der „zuständigen Stellen“ (Kammern) vor, und zwar ohne Abstimmungserfordernisse mit den Ländern bzw. Berufsschulen. Berufsschulverbände sehen darin eine Ungleichgewichtigkeit von betrieblicher und schulischer Berufsbildung im Dualen System und fordern, neben der so genannten Kammerprüfung eine eigene Berufsschulprüfung einzuführen, um damit den fachtheoretischen und allgemeinbildenden Inhalten des Berufsschulunterrichts stärker Geltung verschaffen zu können (vgl. Krüger 2014).

2.2.3 BerufsfachschulenBerufsfachschule im Übergangs- und SchulberufssystemSchulberufssystem

Hinter der Sammelbezeichnung Berufsfachschule verbirgt sich eine Vielzahl von Schulformen mit Vollzeitunterricht von mindestens einjähriger Dauer. Für deren Besuch wird – im Unterschied zu den Fachschulen als Einrichtungen der beruflichen Fortbildung – keine Berufsausbildung oder berufliche Tätigkeit vorausgesetzt. Die Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz (2013) über Berufsfachschulen rechnet diesen Schularten Bildungsgänge zu, (1.) die eine breit angelegte berufliche Grundbildung (z.B. für Berufsfelder wie Wirtschaft und Verwaltung, Metall-, Elektrotechnik) vermitteln; sie dienen der Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung und können auf die Ausbildungszeit in anerkannten Ausbildungsberufen angerechnet werden; (2.) die auf der Grundlage der entsprechenden Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne zu einem Abschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf führen; (3.) die einen Berufsausbildungsabschluss anbieten, der nur über den Besuch einer beruflichen Schule erreichbar ist; dazu gehören Bildungsgänge nach Bundesrecht (z.B. bundesrechtlich geregelte Berufe im Gesundheitswesen) und nach Landesrecht (z.B. staatlich geprüfter/geprüfte Kinderpfleger/Kinderpflegerin, Assistentenberufe).

Bedeutung und Nutzen der Berufsfachschule werden in der Fachliteratur unterschiedlich beurteilt. Hierbei spielt die Vielfalt und Multifunktionalität der Berufsfachschule eine entscheidende Rolle. Ein- und zweijährige Berufsfachschulen ohne anerkannten Berufsabschluss übernehmen zu einem großen Teil die Funktion einer „Warteschleife“ für Jugendliche, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz gefunden haben. Sie werden deshalb dem „Übergangssystem“ zugeordnet. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass diese Schulen für Hauptschulabsolventen die Möglichkeit bieten, den Realschulabschluss zu erwerben und damit die Chancen am Ausbildungsstellenmarkt zu verbessen.

Voll qualifizierende Berufsfachschulen von drei- und mehrjähriger Dauer, die zu einem Berufsabschluss führen, setzen den Realschulabschluss oder einen gleichwertigen Abschluss voraus und schließen mit einer staatlichen Abschlussprüfung nach Bundes- oder Landesrecht ab. Im Schuljahr 2013/14 wurden rund 215000 Schüler und Schülerinnen an Berufsfachschulen für einen Schulberuf ausgebildet, davon gut zwei Drittel weiblich (Schanz 2015:81). Schwerpunkt der vollzeitschulischen Berufsausbildung an Berufsfachschulen sind (landesrechtlich geregelte) Berufsausbildungen, deren Abschlüsse nur schulisch erreichbar sind. Dazu gehören die Berufsbereiche der Technischen Assistenten, der Wirtschaftsassistenten und der Dienstleistungsassistenten.

2.2.4 Fachschulen als Einrichtungen der beruflichen FortbildungFortbildungberufliche

Mit den Berufsschulen und Berufsfachschulen gehören die FachschulenFachschule zu den ursprünglichen Kernbereichen der schulischen Berufsbildung. Im Unterschied zu Berufsschulen und Berufsfachschulen setzt der Unterricht an Fachschulen den Abschluss einer Berufsausbildung und – nach Fachgebieten und Regelungen der einzelnen Bundesländer unterschiedlich – eine mehr oder weniger lange (in der Regel mindestens einjährige) Berufstätigkeit voraus. Die Berufstätigkeit kann vielfach auch parallel zur Fachschulausbildung abgeleistet werden. Bei Vollzeitunterricht liegt die Dauer des Fachschulbesuchs zwischen sechs Monaten und drei Jahren, bei Teilzeitunterricht im Fall einer Berufstätigkeit beträgt sie bis zu vier Jahren.

Nach Beschluss der Kulturministerkonferenz (2009) über den „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“ Hochschulzugangsberechtigung erhalten Inhaber von Abschlüssen der Fachschulen entsprechend der jeweils geltenden KMK-Rahmenvereinbarung die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung. Damit konnte nach dem Prinzip der GleichwertigkeitGleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung eine wichtige Lücke im staatlichen Berechtigungssystem geschlossen werden. Allerdings werden die Möglichkeiten der formellen Durchlässigkeit in diesem Bereich nur minimal genutzt, was darauf hindeutet, dass die herkunfts- und sozialisationsbedingten Bildungsbarrieren bisher zu wenig beachtet und in geeignete Fördermaßnahmen beim Übergang von der Berufstätigkeit in den Hochschulbereich und während des Studiums umgesetzt worden sind.

2.2.5 Studienpropädeutische Bildungsgänge an beruflichen Schulen

Anders als Berufsschulen, Berufsfachschulen und Fachschulen dienen die studienpropädeutischen Bildungsgänge beruflicher Schulen (Fachoberschulen, Berufsoberschulen, Fachgymnasien) nicht primär berufsqualifizierenden Zwecken. Bei ihnen stehen Schullaufbahnberechtigungen bezüglich des Hochschulzugangs im Vordergrund (vgl. Schanz 2015:83–85). Die Gründung und Verbreitung studienpropädeutischer Bildungsgänge ist einzuordnen in die seit den 1960er Jahren initiierten Reformversuche zur Verbesserung der Bildungschancen im segmentierten, nach allgemeiner und beruflicher Bildung getrennten Schulwesen. Als Aufbaugymnasien boten und bieten BerufsoberschulenBerufsoberschule und FachgymnasienFachgymnasium (z.B. Wirtschaftsoberschulen und Wirtschaftsgymnasien) Jugendlichen, die nach der Grundschule nicht ins Gymnasium wechseln, die Möglichkeit, nach Beendigung der Vollzeitschulpflicht in der Sekundarstufe I (mit Abschluss der Mittleren Reife) im beruflichen Schulwesen studienberechtigende Abschlüsse zu erwerben. Die überwiegende Mehrheit der Absolventen an Berufsoberschulen und Fachgymnasien strebt ein Universitätsstudium an (vgl. Georg 2008:15). Die FachoberschuleFachoberschule verdankt ihre Einrichtung einer systemintern geschaffenen „Berechtigungslücke“. Sie entstand als „Zulieferin“ für die seit Ende der 1960er Jahre errichteten Fachhochschulen. Mit der schulorganisatorischen Zuordnung der Fachoberschule zum Bereich der beruflichen Schulen war zwar der Anspruch verbunden, auch beruflich verwertbare Qualifikationen zu vermitteln; tatsächlich aber ist der Berufsbezug nur in wenigen Ansätzen vorhanden.

3. Leistungen und Probleme des Berufsbildungssystems

Im Unterschied zu markt- oder schuldominierten Qualifizierungssystemen (z.B. Großbritannien einerseits, Frankreich andererseits; vgl. Greinert 1999) liegen die Vorzüge des Dualen Systemsduales System in Deutschland neben der Verbindung von theorie- und praxisbezogener Ausbildung in Betrieb und Schule (Dualitätsprinzip)Dualitätsprinzip darin, dass mit der Kooperation von staatlichen Instanzen, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften bei der Ordnung der Berufsausbildung ein hohes fachliches Kompetenzpotenzial zur Verfügung steht und ein Ausgleich zwischen betrieblichen und überbetrieblichen Interessen angestrebt werden kann (Konsensprinzip)Konsensprinzip. Die Ausbildung ist nicht eingeschränkt auf enge betriebsspezifische Qualifikationsbedarfe, sondern bezogen auf arbeitsmarktrelevante berufliche Handlungskompetenzen, deren Vermittlung durch staatlich anerkannte Ausbildungsordnungen geregelt werden (Berufsprinzip). Damit ist im internationalen Vergleich ein weitgehend reibungsloser Übergang von der Berufsausbildung in die anschließende Berufstätigkeit und dementsprechend eine relativ niedrige Jugendarbeitslosigkeit verbunden (OECD 2016). Anerkannt werden im OECD-Bericht ausdrücklich auch Reformen zur Verbesserung der Möglichkeiten, auf dem Weg über die berufliche Bildung weiterführende Schulabschlüsse zu erwerben und ein Hochschulstudium aufzunehmen.

Wie ausgeführt, findet Berufsausbildung in Deutschland nicht nur im Dualen System, sondern in beträchtlichem Umfang auch im SchulberufssystemSchulberufssystem statt. Es kompensiert nicht primär Ungleichgewichte am (betrieblichen) Ausbildungsstellenmarkt, sondern bietet für solche Berufsbereiche eine vollständige Ausbildung an, die weitgehend nur in schulisch organisierter Form durchgeführt werden kann. Duales System und Schulberufssystem ergänzen sich, womit für Deutschland ein hohes Qualifizierungspotenzial unterhalb der akademischen Ausbildung gesichert ist. Hinzu kommt, dass sowohl die betriebliche als auch die schulische Berufsausbildung Anschlüsse für Berufskarrieren über den Weg der beruflichen und schulischen Aufstiegsfortbildung bereitstellen. Die Berufsbildungspolitik der jüngsten Zeit zielt verstärkt darauf ab, GleichwertigkeitGleichwertigkeit von allgemein- und berufsbildenden Abschlüssen herzustellen und durch ein Netzwerk von Anrechnungen den Zugang zum Hochschulstudium auf den Weg der beruflichen Bildung zu erleichtern.

Trotz internationaler Anerkennung und bemerkenswerter Leistungen ist das Berufsbildungssystem in Deutschland unter Druck geraten. Kritik greift allerdings zu kurz, wenn sie nur Mängel und Unzulänglichkeiten innerhalb des Berufsbildungssystems in den Blick nimmt. Denn zentrale Probleme entstehen nicht allein im institutionell abgezirkelten Bereich der Berufsbildung, sondern sind immer auch in deren Bezug und Konkurrenz zu anderen Bildungsinstitutionen und zu Einflussfaktoren außerhalb des Bildungssystems angelegt. So lassen der demographische Wandel und der anhaltende Akademisierungstrend die Zahl der Ausbildungsabschlüsse sinken. Gleichzeitig wachsen in Zeiten der verstärkten Digitalisierung (Industrie 4.0 bzw. Wirtschaft 4.0) in vielen Ausbildungsberufen die Leistungsanforderungen. Der AusbildungsmarktAusbildungsmarkt ist durch Widersprüche gekennzeichnet. Der Berufsbildungsbericht spricht von „Passung als zentrale Herausforderung“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2016: 68–72). Gab es in der Vergangenheit erhebliche Ungleichgewichte, weil der Rückgang an betrieblichen Ausbildungsplatzangeboten einherging mit einem demographisch bedingten Anstieg der Ausbildungsnachfrage, zeichnet sich seit dem letzten Jahrzehnt wegen des Rückgangs der Schulabsolventen und des erwarteten Anstiegs von Absolventen, die ein Studium aufnehmen wollen, das Risiko eines gravierenden Defizits an Ausbildungsplatzbewerbern und Ausbildungsplatzbewerberinnen ab. Dennoch wurde das Potenzial im unteren, aber teilweise auch im oberen Qualifikationsbereich nur unzureichend genutzt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016:121). Hauptschulabsolventen waren und sind – mehr denn je – die Modernisierungsverlierer der so genannten Bildungsexpansion.Bildungsexpansion Als Quintessens halten Baethge & Wieck (2015:5) fest, „dass Jugendlichen mit maximal HauptschulabschlussHauptschulabschluss nur noch ein begrenztes Spektrum an Berufen offen steht.“ Dem dualen Ausbildungssystem drohe, eine seiner großen Stärken einzubüßen: „Jugendlichen aus den sozial benachteiligten Schichten eine gute berufliche Perspektive zu bieten“ (ebd.).

 

Kritische Beobachter machen darauf aufmerksam: Ohne grundlegende Reformen könnte das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem in eine BildungspolarisierungBildungspolarisierung hinein geraten, die den künftigen Anforderungen des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems zuwider laufen. Als Optionen für die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung werden u.a. genannt: Verbesserung der Finanzierungs- und Qualitätsmodalitäten beruflicher Bildung sowie kontinuierliche und nachhaltige Qualifizierung und Förderung des betrieblichen und schulischen Berufsbildungspersonals (vgl. Blaß & Himmelrath 2016). Nicht zuletzt steht das Verhältnis von beruflicher Bildung und Hochschulstudium zur Diskussion, und zwar nicht einseitig unter dem Gesichtspunkt von Durchlässigkeit und Qualifizierungsstandards auf Seiten des beruflichen Bildungssystems, sondern auch in Bezug auf Öffnung und Gestaltung des Hochschulsystems für Studium und Weiterbildung im Medium von Wissenschaft und Beruf (vgl. Kutscha 2015).