Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater

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From the series: Forum Modernes Theater #51
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The fourth and last part calls into question forms of staging “Collectivity and (Post-)Migration” in relation to postdramatic theatre. This section also focuses on the analysis of concrete theatre works, and beyond that, the reflexion on the concept of “Theatre of ‘Pre’mitation’”, which in our discussion of migration, identity and belonging proposes an alternative approach to “becoming a world” in the theatrical sphere.



We would like to thank all those who have supported and thus made possible this publication. Above all, we are grateful to Erin Johnston-Weiss and Eva Triebl, who helped transcribe the podium discussion and proofread the contributions in English, but also to the federal state of Tyrol, the University of Innsbruck represented by the Vice Rectorate for Research, the Faculty of Philology and Cultural Studies and the Research Area “Cultural Encounters – Cultural Conflicts” for financially supporting the project. Last but not least, we would like to express our gratitude towards the publisher of this volume, Christopher Balme, and Kathrin Heyng, our editor at Narr Francke Attempo publishing house, who assisted us with helpful advice and valuable suggestions during the work on this edited volume.





Ann Arbor, Innsbruck, July 2018






Konzepte, Paradigmen, Theorien

Überschreitung des (postdramatischen) Theaters



Patrick Primavesi (Universität Leipzig)



Mit dem Begriff

postdramatisches Theater

 lassen sich verschiedene Tendenzen in der Theaterpraxis der letzten Jahrzehnte zusammenfassen. Damit geht es jedoch nicht nur um ästhetische oder formale Prinzipien, sondern auch um strukturelle und institutionelle Faktoren. Das sind vor allem neue Arbeitsweisen in einer zunehmend von technischen Medien geprägten Wahrnehmungswelt ebenso wie eine direktere Kommunikation mit Zuschauenden bis hin zu ihrer aktiven Teilnahme. Szenische Aktionen finden häufiger in urbanen Umgebungen außerhalb der Bühnenhäuser statt und schaffen eigene Räume und Situationen der Begegnung. Gewiss hat sich das Attribut „postdramatisch“ als hilfreich erwiesen, um die anhaltende Transformation zeitgenössischer Theaterformen zu beschreiben und deren Verhältnis zur Tradition des Dramas ebenso wie zu den historischen Avantgarden zu erhellen. Andererseits sind mittlerweile – vierzig Jahre nach der Prägung des Begriffs postdramatisches Theater durch den polnischen Theatertheoretiker Andrzej Wirth1 und fast zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Hans-Thies Lehmanns gleichnamiger Studie2 – eine Vielzahl von Problemen zu Tage getreten, welche zum Teil schon die Kategorie postdramatisch selber betreffen, vor allem aber aus ihrer verallgemeinerten, mitunter paradoxalen Anwendung resultieren. Geboten erscheint außerdem eine Erweiterung des diskursiven Horizonts auf

Kontexte

 zeitgenössischer Theaterarbeit. Dabei sind Funktionen und Wirkungsweisen von theatralen Praktiken auch im Verhältnis zum Kulturbegriff und seiner Differenzierung mit Perspektiven der Transkulturalität zu diskutieren. Im Folgenden geht es um die Frage, inwieweit die für Theater, Tanz und Performance strukturell relevante Dynamik der

Überschreitung

 (Transgression, Transition, Transformation etc.) geeignet ist, die Kategorie des Postdramatischen auch in ihrer eigenen Historizität genauer zu bestimmen.





1. Postmoderne, prä/post und kein Ende



In seiner Studie

Das Postmoderne Wissen

 konstatierte Jean-François Lyotard bereits 1982, dass die gängige Auffassung von Postmoderne als einer Stilrichtung und einer historisch begrenzten Epoche jenseits der Moderne problematisch bleibt.1 Vielmehr hat jede Moderne ihre eigene Postmoderne, wird von dieser nicht einfach beendet und abgelöst, sondern selbst hervorgebracht, wie das auch Umberto Eco in seiner

Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘

 bemerkt hat.2 So entfaltet die Postmoderne, als eine Phase der Ausweitung und Relativierung von sicher geglaubten Standpunkten, Methoden und Prinzipien, ihrerseits die Tendenz, neue Abgrenzungen und Dogmen hervorzubringen. Lyotard zufolge wäre das selbst schon zur Konvention gewordene Modell der epochalen Ablösung und Ersetzung eher zu überführen in ein prä/post-Verhältnis, in eine Dynamik der unablässigen Überprüfung, Auflösung und kritischen Reformulierung theoretischer Positionen. Dieser Ansatz ist auch für die Diskussion um postdramatische Theaterformen aufschlussreich. Anstatt darin bloß eine lineare Phase der Ablösung vom dramatischen Text zu sehen, ist vielmehr von einem Wechselverhältnis auszugehen, von beweglichen Korrelationen und Impulsen – keine vermeintliche Überwindung also, die nur zum unbewussten und zwanghaften Wiederholen des Verdrängten führen würde, sondern vielmehr – angelehnt an die Terminologie der Psychoanalyse – ein Prozess des

Durcharbeitens

, wie Lyotard ihn als eigentliche Leistung der modernen Kunst-Avantgarden beschrieben hat.3 Damit wäre immerhin der Aporie zu begegnen, dass von einem völligen Verschwinden aller literarischen und theatralen Formen des Dramas ja auch dann keine Rede sein kann, wenn ihre einstweilige, auf das 18. Jahrhundert zurückgehende Vorherrschaft doch offenkundig beendet ist. So aber kann gesagt werden, der historische Gehalt des Begriffs „postdramatisches Theater“ liegt in der Relativierung des Dramas als eines – bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zumeist noch absolut geltenden und hierarchisch übergeordneten – Paradigmas theatraler Praktiken.



Dass die Krise des Dramas bereits früher, nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und dass seither das zentrale Formprinzip des Dialogs immer weiter dekonstruiert wurde, hat Peter Szondi in seiner

Theorie des modernen Dramas

 schon 1956 ausgeführt. Darin geht er vom zunehmenden „Problematischwerden der dramatischen Form“ und ihrer „Verhinderung“ aus, die aber nicht bloß ein einziges Element der traditionellen, systematischen und normativen Gattungspoetik seit Aristoteles betrifft, sondern diese als solche in Frage stellt.4 Grund dafür ist die am Drama besonders deutlich hervortretende Durchdringung literarischer Formen mit geschichtlichen Prozessen. In ihrer unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Umbrüchen der gesellschaftlichen Realität, vor allem mit einem radikal veränderten Status des Subjekts in der modernen, industrialisierten und durchökonomisierten Massengesellschaft, stößt die im Drama noch auf das Menschenbild der Neuzeit gegründete Form des Dialogs an ihre Grenzen. Spätestens mit Erwin Piscator und Bertolt Brecht erwiesen sich neue Tendenzen zum Epischen, zur Unterbrechung der dramatischen Illusion und zur Einbindung übergreifender Diskurse als notwendige Alternativen zum Strukturprinzip des Dramas als einem dialogischen Austrag von Konflikten zwischen handlungsmächtigen Subjekten.



Darüber hinaus hat Brecht mit seiner Theorie des epischen Theaters, mit der verfremdenden Spielweise und der demonstrativen Selbstreflexion des Spiels bis hin zu den Lehrstücken die szenische Praxis ins Zentrum der Reflexion gestellt. Folgerichtig nannte er seine Theatertexte auch nicht mehr Dramen, sondern

Stücke

 oder

Versuche

. So zeigt sich gerade im Rückgang auf Brecht, dass schon die Avantgarden des Theaters der 1920er Jahre noch weit mehr in Bewegung gebracht haben als bloß eine Ablösung der aristotelischen Dramatik durch explizit epische Formen von Dramaturgie. Es ging zugleich um das Theater in seiner konventionellen Form, wie sie seit der Renaissance geprägt war durch eine zunächst höfische Kultur der Repräsentation und der damit verbundenen Machtausübung. Demgegenüber war die Geschichte des bürgerlichen Theaters stets begleitet von Spannungen zwischen einerseits der Instrumentalisierung von Theater für Zwecke der Repräsentation und andererseits der Entfaltung von Repräsentationskritik, sei es auf thematischer Ebene oder auch durch formale Tendenzen. Dieser Grundkonflikt wurde in den modernen Avantgarden und mit der Entstehung von explizit politischen Theaterformen noch verstärkt, indem hier die Dispositive des Dramas und der Darstellung dramatischer Rollen auch als solche in Frage gestellt und die davon ausgehende Normierung theatraler Praktiken überschritten oder unterlaufen wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf die konventionell fixierte Distanz zwischen Bühne und Publikum. So stehen aktuelle Formen von postdramatischem Theater, wie von Lehmann gezeigt, in mehr oder weniger reflektierten Beziehungen zu den Traditionsbrüchen der Moderne, knüpfen an diese an als an ihre eigenen „Vorgeschichten“.5



Außerdem sind aber noch viele weitere Kontexte und Beziehungen zu reflektieren, die sich von gegenwärtigen Theaterformen zu anderen Epochen und Kulturen ergeben, gerade im Hinblick auf Wechselwirkungen zwischen theatralen Praktiken und ihren jeweiligen Institutionen, zwischen politischer und ästhetischer Repräsentation und Repräsentationskritik, im Rahmen von gesellschaftlichen, im weiteren Sinne kulturellen Diskursen und auch quer zu ihnen. Dafür erweist sich die Abgrenzung allein vom Drama als eine zu enge Perspektive, insofern sie fokussiert bleibt auf die in Europa nicht mehr als einige Jahrhunderte umfassende Epoche des literarisierten höfischen und bürgerlichen Kunsttheaters. Die in anderen Epochen der europäischen Kultur prägenden und auch im bürgerlichen Theater seit dem 18. Jahrhundert noch länger fortwirkenden Spieltraditionen des Mittelalters und der Renaissance (zumal der

commedia all’improvviso

) ebenso wie andere performative Praktiken, insbesondere Tanz und Musiktheater, kamen im Horizont einer neuen Theoretisierung und zugleich Kanonisierung des postdramatischen Theaters nur am Rande vor, ähnlich wie auch die außereuropäischen Theatertraditionen. Die Perspektive des postdramatischen Theaters blieb also selbst im Modus der Negation immer noch gebunden an das westeuropäisch geprägte Dispositiv des Dramas und der darstellenden Kunst, so dass Anschlüsse in theaterhistorischer und transkultureller Perspektive nur indirekt gegeben waren. Schließlich konnte der Begriff des Postdramatischen von literaturwissenschaftlichen Diskursen, insbesondere der Germanistik, dahingehend vereinnahmt werden, dass mitunter auch postdramatisches Theater nur als eine weitere Stilrichtung der dramatischen Literatur aufgefasst wurde. Dafür steht etwa das paradoxe Wort „Postdramatik“,6 mit dem ein weiteres Mal die vielfältige kulturelle Praxis des Theaters auf die Entwicklung von Textgattungen reduziert wird, was zugleich eine gewisse Blindheit gegenüber längst ausdifferenzierten Disziplinen zur Erforschung der performativen Künste und Praktiken manifestiert.

 



Problematisch erscheint der Begriff Postdramatik, wenn damit als Genre wieder eingeführt werden soll, was längst aus dieser normativen Position verdrängt ist. Texte, die heute für eine aktuelle oder zukünftige Theaterpraxis entstehen, lassen sich nicht einfach als Postdramatik kategorisieren, auch wenn der Markt (Verlage, Schauspielschulen, Agenturen etc.) an griffigen Labels interessiert sein mag. Den Autorinnen und Autoren sollte jedenfalls nicht zugemutet werden, „Postdramen“ geschrieben zu haben. Angebrachter wäre es, von

Schreibweisen

 zu reden, die einzelne Elemente des Dramas ebenso reaktivieren können wie etwa Montage- und Überblendungstechniken des Films, die Aufsplitterung von Figuren in heterogene Instanzen, diskontinuierliche Handlungsverläufe oder den völligen Verzicht auf Handlung, die Arbeit mit veränderten räumlichen Beziehungen zwischen Szene und Publikum, und weitere Elemente von postdramatischem Theater. Diesem elementaren Bezug zu Praktiken entsprechen eher die Begriffe Theatertext oder Stück, was ja den Vorteil hat, etwas noch Unvollständiges anzuzeigen, Raum zu geben für die immer noch und immer wieder ausstehenden Prozesse der Lektüre, der Inszenierung und nicht zuletzt der Aufführung vor und mit Publikum.



Die Rezeption des mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Buches

Postdramatisches Theater

 hat aber noch ein weiteres Problem deutlich gemacht: Einerseits waren die darin diskutierten Phänomene und Begriffe wichtig für die Selbstreflexion und auch Legitimation von Theaterschaffenden verschiedenster Kulturen jenseits der bis dahin oft noch aus der Kolonialzeit andauernden Vorherrschaft des Dramas als der einzig anerkannten Form von Theater gerade auch da, wo es als Medium eines politischen Widerstands gedient hatte. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass auch in diesen anderen Kulturkreisen die Abgrenzung vom Drama allein noch nicht ausreicht, die Spezifik der jeweiligen Praktiken genauer zu erfassen. Jedenfalls kann gerade eine universalistische Auffassung von postdramatischem Theater den Blick versperren für die strukturellen Probleme, die Theaterarbeit derzeit in verschiedensten Kontexten erfährt. Diese haben vor allem zu tun mit dem Verhältnis von Theaterarbeit zur gesellschaftlichen Realität. So klafft eine Lücke zwischen den traditionellen Formen von ausdrücklich politischem Theater, zumal in der Verbindung der späten Stücke von Brecht mit einem realistischen Schauspielstil (z.B. in Indien oder Südamerika), und andererseits den eher indirekten Wirkungsweisen postdramatischer Formen, da diese kaum mehr auf Konfliktthemen oder Ideologien fixierbar sind. An der Debatte um die Frage „wie politisch ist das postdramatische Theater?“ hat Lehmann sich mit wichtigen Thesen beteiligt, zumal mit der Idee einer notwendigen Unterbrechung von Politik.7 Insofern aber das Politische an den von ihm beschriebenen Theaterformen weder bloß in der Entgegensetzung zum Drama, noch in der Vermittlung inhaltlicher Botschaften liegen kann, ist hier noch von einer anderen Differenz auszugehen, die mit dem Begriff der Repräsentation selber zu tun hat.



Auch für postdramatisches Theater ist zu unterscheiden, zwischen einer eher affirmativen oder eher kritischen Haltung und Arbeitsweise, zwischen naiver und möglicherweise subversiver Affirmation, zwischen expliziten Strategien und impliziten Taktiken.8 Insofern ist aber die Kritik von Repräsentationsstrukturen keineswegs überholt. Zwar lässt sich einwenden, dass es keinen Ausweg aus dem für Theater elementaren Wechselverhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation geben kann. Wie Jacques Derrida in seiner Lektüre der Theaterideen von Antonin Artaud gezeigt hat9 und wie auch Jean-Luc Nancy betont, gibt es kein „Außerhalb“ der Repräsentation: „keine ‚Präsentation‘, die nicht schon in der ‚Repräsentation‘ ist, das heißt keine ‚Präsenz‘, die nicht Präsenz der einen den anderen gegenüber ist“10. Gleichwohl bleibt die Analyse mehr oder weniger offenkundiger Machtverhältnisse auch für eine aktuelle Theaterpraxis wichtig, die den Verlust der großen politischen Ideologien zu reflektieren versucht, etwa das Gespenstische in der Wiederkehr des Marxismus, dessen Erbschaft die Anerkennung von Schuld und eine Kritik an den historischen Idealen nötig macht. Die Dekonstruktion des Marxismus als System und Heilslehre eröffnet, wie Derrida selbst konstatierte, zugleich die Möglichkeit eines anderen Begriffs des Politischen. Demnach ist es das „emanzipatorische Begehren“, an dem unbedingt festzuhalten sei: „Das ist die Bedingung einer Re-politisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen“11. Unverzichtbar ist vielleicht mehr denn je eine Programmatik von Emanzipation, Selbstermächtigung,

Self-empowerment

 als konkrete Aufgabe eines auf neue Weise politischen Theaters wie auch als Potential

transkultureller

 Begegnungen, die von theatralen, szenischen und performativen Praktiken ermöglicht werden.





2. Paradoxien der Selbstermächtigung



Die Notwendigkeit, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in allen szenischen Künsten und Praktiken zu einer weitergehenden Differenzierung auch des Sammelbegriffs „postdramatisches Theater“ zu kommen, zeigt sich insbesondere im Hinblick auf ihren jeweiligen Bezug zu gesellschaftlichen Kontexten. So stehen die vielfältigen Theaterformen, die sich in den letzten Jahrzehnten ganz neu oder weiter entwickelt haben, häufig noch quer zu den Traditionen eines explizit politischen Theaters, vermeiden eindeutige ideologische Botschaften und entziehen sich einer Instrumentalisierung für didaktische Zwecke. Dabei wird jedoch – als elementarster Aspekt von Kontextualität und gesellschaftlichem Bezug – immer wieder die Funktion und Bedeutung des Zuschauens reflektiert und bearbeitet, in komplexen Situationen der Begegnung, an unkonventionellen Spielorten und im öffentlichen Raum ebenso wie in medientechnischen Versuchsanordnungen. Die Integration des Publikums geschieht kaum mehr unvermittelt wie etwa bei den theatralen Aktivierungsformen der 1970er Jahre. Ein demgegenüber erweitertes Spektrum von Inszenierungs- und Spielweisen macht häufig Fremd- und Selbstbestimmung zugleich erfahrbar. Oft sind vermeintlich bloß Zuschauende auf mehreren Ebenen in ein szenisches Geschehen mit einbezogen, gleichzeitig in unterschiedlichen Funktionen: Mitwirkung, Teilnahme, Voyeurismus und Zeugenschaft. Umso mehr stellt sich daher die Frage, inwieweit auch gegenwärtige Theaterformen beitragen können zu einer Selbstermächtigung, zur Förderung einer selbstbestimmten Praxis.1



Jedenfalls können Zuschauende im Theater, auch bei einer äußerlichen Passivität und Distanz emotional und gedanklich weitaus aktiver sein als bei einem wiederum spektakulären selbstmächtigen Agieren, sei es auf der Bühne oder im öffentlichen Raum. Von daher wäre zu fragen, ob weiterhin noch von einer Emanzipation des Publikums als einem politischen Ziel von Theaterarbeit zu sprechen wäre, oder vielleicht eher von längst schon emanzipierten Zuschauenden, die jedenfalls keine Bevormundung mehr brauchen? Wie aber sieht dann politisches Theater aus, wenn das Gefälle des Wissens und des kritischen Bewusstseins außer Kraft gesetzt wird? Welcher Art sind die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die dann gemacht werden können, wenn die Spielleitung selbst aufs Spiel gesetzt und in eine Art kollektiver Produktion überführt wird? Inwieweit ist das überhaupt möglich und was wird dabei preisgegeben? Inwieweit kann ein solches Geschehen noch geplant und beeinflusst werden und welche Art von Impulsen ist dafür hilfreich?



In seinem Buch

Das Unbehagen in der Ästhetik

 beschreibt Jacques Rancière das gegenwärtig erfahrbare Ende der „ästhetischen Utopie“, eine Ohnmacht der Kunst im Hinblick auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins. Indem Rancière Kunst grundsätzlich als eine „Aufteilung des Sinnlichen“ definiert, etwa als Anordnung von Körpern „in einem spezifischen Raum und in einer spezifischen Zeit“, gelangt er zur Annäherung vermeintlich selbstgenügsamer, unpolitischer Kunst (die aber gerade darin das Bild von Freiheit und Souveränität als „Versprechen von Emanzipation“ bewahrt) und andererseits einer engagierten und revolutionären Kunst, die selbst schon den Widerspruch zwischen Kunst und Leben aufheben will.2 Politik ist daher in beiden Tendenzen immer schon Teil von Kunst und zumal von Theater, nicht etwa ein Äußeres oder bloß Inhaltliches, das auf der Bühne abzubilden wäre.



Grundlegend für den Aspekt der Selbstermächtigung im oder durch Theater ist vor allem Rancières Abhandlung über den „emanzipierten Zuschauer“. In diesem 2004 auf Einladung des Kurators Mårten Spångberg entstandenen Vortrag (für eine Sommerakademie zu zeitgenössischen Theaterformen) geht Rancière von seiner früheren Studie über den „unwissenden Lehrmeister“ aus, der seine Schülerinnen und Schüler zum Selbstlernen anleiten konnte, ohne ihnen bestimmte Kenntnisse und Erklärungen systematisch zu vermitteln. Dieses Beispiel ist nun gerade für die Frage nach dem transkulturellen Potential von Theater aufschlussreich, da es um die Möglichkeit einer weitgehend eigenmächtigen Annäherung an eine fremde Sprache kreist: Inspiriert von der Entdeckung, wie schnell seine niederländischen Studierenden in Leuwen sich mit einer zweisprachigen Ausgabe von Fénelons

Telemach-

Roman die Logik der französischen Sprache erschließen und diese lernen konnten, entwickelte Joseph Jacotot um 1820 die revolutionäre Methode eines Unterrichts, in dem Lehren auch Emanzipieren bedeutet, in der Annahme einer Wesensgleichheit aller individuellen Intelligenz: „Die Emanzipation ist das Bewusstsein von dieser Gleichheit, dieser Gegenseitigkeit, die einzig der Intelligenz erlaubt, sich durch Verifizierung zu aktualisieren“3. Anstatt das Lehren auf ein

Unwissen

 und eine damit erst produzierte

Unfähigkeit

 der Lernenden zu gründen (wodurch die übliche Methodik des Unterrichts eher als Verdummung erscheint), könne die Emanzipation individueller Intelligenz deren eigenes Potential freisetzen. Dieser Prozess lässt sich allerdings Rancière zufolge nicht einfach auf größere Gruppen übertragen: „Es kann keine Partei der Emanzipierten, keine emanzipierte Versammlung oder Gesellschaft geben. Aber jeder Mensch kann sich immer, jeden Moment, emanzipieren und einen anderen emanzipieren“4. Alle Versuche, das Anliegen der Emanzipation in ein System des gesellschaftlichen Fortschritts zu überführen, hätten bisher die individuelle Gleichheit aufgeopfert im Bemühen um eine gesellschaftliche Gleichheit. Womit Jacotots Projekt jedoch weiterwirken kann ist die Einsicht, dass künstlerische Arbeit nach ähnlichen Prinzipien funktioniert:



Der Künstler braucht die Gleichheit, wie der Erklärende die Ungleichheit braucht. Man kann so von einer Gesellschaft von Emanzipierten träumen, die eine Gesellschaft von Künstlern wäre. Eine solche Gesellschaft würde die Trennung zwischen denen, die wissen, und jenen, die nicht wissen, zwischen denen, die über Intelligenz verfügen, und jenen, die nicht über sie verfügen, ablehnen. Sie würde nur tätige Geister kennen: Menschen, die etwas machen, die darüber sprechen, was sie machen, und somit alle ihre Werke in Mittel umformen, Menschlichkeit zu signalisieren, die ihnen wie allen eignet.5



Zur Übertragung von Jacotots Methodik auf die Situation des Theaters erwähnt Rancière zunächst die lange, bis in die Antike zurückreichende Geschichte des antitheatralen Vorurteils, wonach Zuschauende im Theater stets passiv und den Illusionen der Bühne unwissend ausgeliefert seien. In diesem Sinne hätten auch die Avantgarden das schlechte

Spektakel

 des Theaters zu ersetzen versucht, sei es durch eine Versammlung, deren Mitglieder sich vor allem ihrer Situation und ihrer Interessen bewusst werden sollten (Brecht), sei es durch eine Zeremonie, bei der die Gemeinschaft ihre vitalen Energien entfalten sollte (Artaud). Der für die Geschichte des modernen politischen Theaters grundlegenden Annahme, das Publikum des Spektakels müsse erst noch aktiviert werden, hält er entgegen, dass es schon durch seine Wahrnehmung und Imagination aktiv ist. Daher aber wäre Theater auf andere Weise zu organisieren, nicht mehr im Bemühen um eine Aktivierung zu gemeinsamer Präsenz (um dann das Spiel der Repräsentation zu überwinden), sondern als ein Austausch künstlerischer (und anderer) Fähigkeiten, einschließlich derjenigen des Erzählens und Übersetzens:

 



It should be the institution of a new stage of equality, where the different kinds of performances would be translated into one another. In all those performances, in fact, it should be a matter of linking what one knows with what one does not know, of being at the same time performers who display their competences and spectators who are looking to find what those competences might produce in a new context, among unknown people.6



Dieser Idee einer neuen Gleichheit im Austausch verschiedenster Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen im zeitgenössischen Theater schon seit Jahren eine Reihe von Tendenzen, die zwar auch an die Avantgarden des 20. Jahrhunderts anknüpfen, die Idee einer Emanzipation aber stärker auf den Austausch und die wechselseitige Förderung individueller Kreativität gründen: Im Unterschied zu den traditionellen Mustern des isoliert schaffenden Künstler-Genies einerseits, des hierarchisch oder totalitär organisierten Kollektivs andererseits, geht es dabei um Arbeitsweisen, die den Austausch von Kompetenzen ermöglichen, die prinzipiell gleichwertig sind. Dass die Entwicklung, Inszenierung und Aufführung von theatralen Produktionen nicht mehr nur arbeitsteilig und hierarchisch, sondern als kollektiver Prozess organisiert werden, ist ein wichtiges Element heutiger Theaterarbeit, deren Tätigkeitsfelder (Schauspiel, Regie, Tanz, Choreographie, Dramaturgie, Ausstattung etc.) mit eher kooperativen Arbeitsformen ineinander übergehen können.



Mit dieser Veränderung im Selbstverständnis der künstlerischen Praxis eng verbunden sind weitere grundlegende Tendenzen, die eine zunehmende Reflexion auf gesellschaftliche, lokale und globale Kontexte manifestieren und gleichzeitig die Erweiterung von Theaterarbeit im Sinne einer transkulturellen Arbeitsweise und Ästhetik. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der Gruppe Rimini Protokoll zeigen, welche im Kern aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel besteht, die in wechselnden Konstellationen einzeln, zusammen oder auch mit anderen produzieren. Als eines der Markenzeichen der Gruppe kann die Arbeit mit nichtprofessionellen Akteuren und Akteurinnen gelten, mithin eine gezielte Überschreitung des etablierten Kunsttheaterbetriebs. So hat Rimini Protokoll seit über fünfzehn Jahren für Bühnenproduktionen an deutschen und internationalen Theatern immer wieder Menschen aus unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen eingeladen, ihre jeweiligen Erfahrungen und Kompetenzen vorzustellen. Dabei fungieren sie als

Experten des Alltags

, die ihr Publikum auch ohne professionelle Schauspieltechnik erreichen und im Rahmen des jeweiligen Szenenablaufs auf ungewohnte Weise ansprechen können. Was daran interessiert und den Erfolg dieser Arbeitsweise begründet hat, ist nicht bloß der Effekt des Authentischen oder gar die Befriedigung einer Schaulust wie im Reality-TV. Im Gegenteil wird ein jeweils spezifischer theatraler Rahmen geschaffen, in dem außer der Eigenlogik der vorher recherchierten Themen auch die beteiligten Persönlichkeiten auf die Dramaturgie einwirken, z.B. Älterwerden in

Sitzgymnastik Boxenstopp

 (2001), Umgang mit Sterben und Tod in

Deadline

 (2003), Gerichtsverhandlungen in

Zeugen! Ein Strafkammerspiel

 (2004), Wahlkampf und Lokalpolitik in

Wallenstein

 (2005), Nachrichtenproduktion in

Breaking News

 (2008), oder die statistische Analyse der Großstadtbevölkerung in

100%

 (2008 in Berlin, seither international in vielen weiteren Städten).



In all diesen Produktionen findet eine Selbstermächtigung zumindest insofern statt, als die Agierenden die durchaus theatralen Routinen, die sie sich in Alltag und Beruf angewöhnt haben, auf der Bühne zeigen, ohne dass sie – wie sonst üblich – durch professionelles Schauspiel repräsentiert werden (vorausgesetzt, sie hätten überhaupt eine Chance, dass ihr Leben literarisch bearbeitet und dieses Stück dann auch inszeniert wird). Die andere Ermächtigung betrifft aber die Zuschauenden, die ihrerseits einen stärkeren Bezug zu Aufführungen entwickeln können, in denen ihnen nicht nur professionell perfektionierte Kunstleistungen präsentiert werden, sondern auch die Erfahrungen ihres eigenen Alltags vorkommen, so dass sie s