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Manifest für ein ludisches Jahrhundert 1

ERIC ZIMMERMAN

Spiele sind uralt.

Genauso wie Musizieren, das Erzählen von Geschichten und das Erschaffen von Bildern ist Spielen ein Teil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein.

Spiele dürften die ersten interaktiven Systeme sein, die unsere Spezies erfunden hat.

Die digitale Technologie hat Spielen eine neue Bedeutung verliehen.

Die Durchsetzung von Computern vollzog sich in unserer Kultur parallel zum Wiederaufleben von Spielen. Das ist kein Zufall. Spiele wie Schach, Go und Mensch-ärgere-Dich-nicht sind in vieler Hinsicht wie Computer: Maschinen, um numerisch beschreibbare Zustände herzustellen und zu speichern. So gesehen erschufen nicht Computer die Spiele; die Spiele erschufen Computer.

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Information.

Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Kybernetik, künstliche Intelligenz, Informatik – aus diesen Forschungsfeldern, von denen einige schon vor elektronischen Rechnern entstanden, entwickelte sich die ›Informationsrevolution‹.

Die Abstraktion der Informationen hat hochkomplexe Verwaltungsapparate und Technologien ermöglicht: vom Telegraphen und den Telefonnetzen bis zu NASDAQ und Facebook.

In unserem ludischen Jahrhundert wird Information zum Spielmaterial.

Unsere Informationsnetzwerke bestehen nicht mehr aus riesigen Zettelkatalogen oder aus Netzen pneumatischer Röhren. Digitale Netzwerke sind flexibel und organisch.

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Information eine spielerische Wendung genommen. Um ein herausragendes Beispiel zu geben: Bei Wikipedia geht es nicht darum, Nutzern Zugang zu einem Speicher voller Expertenwissen zu geben. Wikipedia ist eine unordentliche, chaotische Gemeinschaft, in der die Nutzer zugleich auch die Experten sind, die gemeinsam die Information erschaffen und dabei das System als Ganzes weiterentwickeln.

Im 20. Jahrhundert war das Bewegtbild die dominante Kulturform.

Wenn auch im letzten Jahrhundert Musik, Architektur, das geschriebene Wort und viele andere Ausdrucksformen ihre Blüte erlebten, so wurde das Jahrhundert doch vom Bewegtbild beherrscht. Persönliches Geschichtenerzählen, Nachrichtenberichterstattung, epische kulturelle Erzählungen, politische Propaganda – all dies wurde am wirkungsvollsten in Film und Video zum Ausdruck gebracht.

Der Aufstieg des Bewegtbilds ist eng mit dem Aufstieg von Informationen verknüpft: Film und Video repräsentieren als Medien lineare, nicht-interaktive Information, auf die ein Zuschauer zugreifen kann.

Das ludische Jahrhundert ist eine Ära der Spiele.

Wenn Information spielerisch wird, ersetzen Spiel-ähnliche Erlebnisse lineare Medien. Medien und Kultur im ludischen Jahrhundert sind immer stärker systemisch, modular, flexibel und partizipativ. Spiele verkörpern all diese Eigenschaften in einem sehr unmittelbaren Sinne.

Die Art und Weise, wie Menschen ihre Freizeit verbringen und Kunst, Design und Unterhaltung konsumieren, wird zunehmend von Spielen bestimmt – oder von Erfahrungen die dem Spielen sehr ähneln.

Wir leben in einer Welt der Systeme.

Die Art, wie wir heute arbeiten und kommunizieren, forschen und lernen, Kontakte knüpfen und uns verlieben, unsere Finanzangelegenheiten regeln und mit Ämtern verkehren, ist aufs engste mit komplexen Informationssystemen verstrickt – und dies auf eine Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten unmöglich gewesen wäre.

Für eine solche systemische Gesellschaft sind Spiele wie gemacht. Auch wenn jedes Gedicht und jedes Lied für sich ebenfalls ein System darstellt, handelt es sich bei Spielen um dynamische Systeme in einem viel buchstäblicheren Sinne. Von Poker über PAC-MAN bis WARCRAFT – Spiele sind Maschinen für Dateneingaben und Datenausgaben, die bewohnt, manipuliert und erkundet werden.

Es gibt eine Notwendigkeit, spielerisch zu sein.

Es genügt nicht, jemand zu sein, der Systeme versteht. Ein analytisches Verständnis von Systemen reicht nicht aus. Wir müssen auch lernen, uns in ihnen spielerisch zu bewegen. Ein spielerisches System ist ein menschliches System, ein soziales System voller Widersprüche und Möglichkeiten.

Spielerisches Handeln ist der Motor für Innovation und Kreativität: Während wir spielen, denken wir über das Denken nach und lernen neue Handlungsweisen. Unter allen kulturellen Ausdrucksformen besitzen Spiele eine besonders unmittelbare Verbindung mit dem Spielerischen.

Wir sollten wie Designer denken.

Im ludischen Jahrhundert dürfen wir keine passive Beziehung zu den Systemen haben, die wir bewohnen. Wir müssen lernen, Designer zu sein, wir müssen verstehen, wie und warum Systeme konstruiert wurden, und wir müssen versuchen, sie zu verbessern.

Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis Automobile sich von einer hobbyhaften Technologie, die Expertenwissen erforderte, in ein genormtes Konsumprodukt verwandelt hatten. Der fortwährende Wandel der Digitaltechnologie bringt es mit sich, dass sich unsere Hardware- und Software-Sys­teme wohl niemals auf eine solche Weise stabilisieren werden. Um das Beste aus unserer Welt der Systeme machen zu können, müssen wir alle wie Designer denken.

Spiele sind eine Form der Bildung.

Systeme, Spiel, Design: Dies sind nicht nur Aspekte des ludischen Jahrhunderts, sondern auch Elemente einer Spielbildung. Bei Bildung oder Literacy geht es um das Erzeugen und Verstehen von Bedeutung, um das, was Menschen in die Lage versetzt zu schreiben (erschaffen) und zu lesen (verstehen).

Neue Formen von Bildung, wie zum Beispiel visuelle und technische Literacy, wurden in den vergangenen Jahrzehnten identifiziert. Um jedoch im ludischen Jahrhundert umfassend gebildet zu sein, bedarf es auch einer Spielbildung. Das Aufkommen von Spielen in unserer Kultur ist sowohl Ursache als auch Wirkung einer solchen Spielbildung.

Spielbildung kann Lösungen für unsere Probleme liefern.

Die Herausforderungen, mit denen wir in der heutigen Welt konfrontiert sind, machen ein Denken notwendig, wie es die Spielbildung hervorbringt. Wie beeinflusst der Benzinpreis in Kalifornien die Politik im Nahen Osten und die wiederum das Ökosystem des Amazonas? Probleme wie diese zwingen uns zu verstehen, wie sich die Teile eines Systems zu einem komplexen Ganzen mit emergenten Effekten zusammenfügen. Sie erfordern ein spielerisches, innovatives, transdisziplinäres Denken, durch das Systeme analysiert, umgestaltet und in etwas Neues transformiert werden können.

Im ludischen Jahrhundert werden wir alle Game Designer.

Spiele verändern kulturellen Konsum von Grund auf. Musik wird von Musikern gespielt, die meisten Menschen aber sind keine Musiker – sie hören einer Musik zu, die jemand anderes gemacht hat. Spiele hingegen verlangen aktive Beteiligung.

Game Design umfasst Systemlogik, Sozialpsychologie und Culture Hacking. Sich in ein Spiel zu vertiefen, erfordert, mehr und mehr wie einGame Designer zu denken – also zu basteln, zu manipulieren und zu modifizieren, um neue Spielmöglichkeiten zu entdecken. Je mehr Menschen spielend in das ludische Jahrhundert eintauchen, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen denen, die Spiele spielen, und denen, die sie designen.

Spiele sind schön. Sie brauchen keine Rechtfertigung.

Vor allem anderen: Spiele sind nicht deswegen wertvoll, weil sie jemandem etwas beibringen oder die Welt verbessern. Wie andere kulturelle Ausdrucksformen sind Spiele und das Spielen wichtig, weil sie schön sind.

Die Ästhetik von Spielen wertzuschätzen – also die Art und Weise, wie dynamische interaktive Systeme Schönheit und Bedeutung erzeugen –, ist eine der reizvollsten wie zugleich furchterregendsten Herausforderungen, mit denen wir uns im anbrechenden ludischen Jahrhundert konfrontiert sehen.

Nachbemerkung

Die Überlegungen zu diesem Essay entstanden in Zusammenspiel mit den Bildungsexperten Jim Gee, Rich Halverson, Betty Hayes, David Shaffer, Kurt Squire und Constance Steinkuehler. Besonderen Dank schulde ich der brillanten Heather Chaplin, die diese Ideen mit mir im Laufe vieler Unterhaltungen entwickelte. Dank auch an Nathalie Pozzi und John Sharp für ihr einfühlsames Lektorat und an Kirk Hamilton und Stephen Totilo dafür, dass sie meinen Essay über Kotaku.com publiziert haben.

LITERATUR

Zimmerman, Eric: »Manifesto for a Ludic Century«, in: Steffen P. Walz/ Sebastian Deterding (Hg.), The Gameful World. Approaches, Issues, Applications, Cambridge: MIT Press (im Erscheinen). Englischsprachiger Online-Vorabdruck unter http://kotaku­.com/manifesto-the-21st-century-will-be-defined-by-games-12753552­04

1 Dieser Beitrag ist eine Übersetzung von Zimmerman, Eric: »Manifesto for a Ludic Century«, in: Steffen P. Walz/Sebastian Deterding (Hg.), The Gameful World. Approaches, Issues, Applications, Cambridge: MIT Press (im Erscheinen). Eine englischsprachige Online-Vorveröffent­lichung erschien auf kotaku.com (09.11.2013), http://kotaku.com/mani­festo-the-21st-century-will-be-defined-by-games-1275355204 – Wir danken Eric Zimmerman für die Nachdruckgenehmigung und wir danken den Mitarbeitern des Projektes »Spieltrieb!« des Goethe-Instituts Krakau für die Zurverfügungstellung ihrer Übersetzung dieses Textes, die wir mit einigen Überarbeitungen hier übernehmen.

Genres | Games

 

Editor-Games

Das Spiel mit dem Spiel als methodische Herausforderung der Game Studies

PABLO ABEND / BENJAMIN BEIL

1. PROLOG

»The study of game aesthetics is a very recent practice, spanning less than two decades. Unlike game studies in mathematics or the social sciences, which are much older, games became subject to humanistic study only after computer and video games became popular. This lack of persistent interest might seem odd, but only if we see traditional games and computer games as intrinsically similar, which they are not.«1

In seinem Essay Playing Research argumentiert Espen Aarseth, dass sich Computerspiele wesentlich von ›traditionellen‹ Spielen unterschieden. Natürlich hinkt diese These, man denke nur an eines der wohl erfolgreichsten Casual Games aller Zeiten, die Kartenspiel-Adaption SOLITAIRE, die auf nahezu jeder Gaming-Plattform zu finden ist und die sich bis auf die digitale Tilgung der mühsamen Kartensortierung nur wenig vom ›Original‹ unterscheidet. Doch vor dem Hintergrund, dass die mittlerweile unüberschaubare Vielfalt von Computerspielen ohnehin kaum noch weitreichendere Definitionen einer Gaming Culture mehr zulässt, kann man Aarseths argumentativer Zuspitzung durchaus dahingehend folgen, dass diejenigen Aspekte, die Computerspielen zum massenmedialen Durchbruch verholfen haben, über ›traditionelle‹ Spiele hinausgehen. So hat etwa das sehr erfolg- wie einflussreiche Action-Adventure THE LAST OF US2 nur noch wenig mit SOLITÄR – in der ›traditionellen‹ wie der digitalen Variante – gemeinsam.3

Abbildung 1/2: SOLITAIRE und THE LAST OF US


Eine solche Einschränkung der These dämmt ihr Potential für ontologische Kurzschlüsse oder Verstrickungen freilich nur bedingt. Doch da Aarseth sich dieser Problematik bewusst zu sein scheint, reformuliert er sein Argument in einer weniger scharfen Form einige Zeilen später:

»A better explanation could be that these games, unlike traditional games or sports, consist of non-ephemeral, artistic content (stored words, sounds and images), which places the games much closer to the ideal object of the Humanities, the work of art. Thus, they become visible and textualizable for the aesthetic observer, in a way the previous phenomena were not.«4

Die Konsequenzen für die Game Studies sind dabei durchaus gewichtig. So ließe sich zuspitzen, dass erst aufgrund dieser nicht-ephemeren Elemente das Computerspiel überhaupt eine breite akademische Aufmerksamkeit erfahren hat5 – wenn auch, folgt man Aarseth weiter, auf Kosten der medialen Spezifik:

»However, this sudden visibility […] produces certain blind spots in the aesthetic observer, especially if he/she is trained in textual/visual analysis, as is usually the case. Instead of treating the new phenomena carefully, and as objects of a study for which no methodology yet exists, they are analyzed willy-nilly, with tools that happen to be at hand, such as film theory or narratology, from Aristotle onwards. The cautious search for a methodology, which we should have reason to expect of reflective practitioners in any new field, is suspiciously absent from most current aesthetic analyses of games.«6

Es ließe sich vortrefflich darüber streiten, ob diese von Aarseth problematisierten »blind spots« die Game Studies – über ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung des zitierten Textes – immer noch in gleicher Weise prägen oder ob nicht einige dieser Löcher im Zuge der akademischen Ausdifferenzierung mittlerweile geschlossen wurden. Ohnehin will dieser Prolog keineswegs suggerieren, dass sich die Game Studies nur aus der Analyse narrativer oder audiovisueller Reize des Computerspiels speisen. Dennoch erscheint die Beobachtung nicht ganz falsch, dass sich die Mehrheit der Analysewerkzeuge, die die Game Studies bislang hervorgebracht haben, auf ebendiese nicht-ephemeren Elemente stützt oder sie zumindest als Ausgangspunkt wählt.7 Und warum auch nicht, bieten doch die audiovisuell opulenten, narrativ (mehr oder weniger) tiefgründigen Spielwelten moderner Computerspiele eine Fülle an intermedialen Versatzstücken, die es analytisch aufzuschlüsseln gilt. Mehr noch: Die Verwendung literatur-, theater-, film- oder fernsehwissenschaftlicher Analysewerkzeuge erscheint geradezu notwendig, wenn sich die meisten zeitgenössischen Computerspiele als intermediale Bastarde erweisen, deren Spielwelten aus allerlei medialen Bruch­stücken fusioniert sind, die Büchern, Theaterstücken, Filmen, Fernsehserien oder anderen medialen Artefakten entrissen wurden. Ansätze z.B. der Literatur-, Film-, Musik- oder auch der Bildwissenschaften mögen dabei zu recht immer wieder aufgrund ihrer fehlenden Medienspezifik kritisiert worden sein, dennoch haben viele dieser Beiträge hochinteressante Lesarten des Computerspiels hervorgebracht.

Auf der Ebene akademischer Zirkulationslogiken wird eine solche Konzentration auf interaktive Erzählformen, Bild-Interfaces, Soundscapes, Immersion und Involvierung usw. allerdings irgendwann zum Problem, denn das System tendiert dazu, sich gewissermaßen selbst zu stabilisieren. Nicht nur, wenn es um die notwendige akademische Anschlussfähigkeit eines immer noch sehr kleinen Faches wie den Game Studies geht,8 sondern vor allem auch hinsichtlich einer zunehmenden Kanonisierung, bei der gerade ›den üblichen Verdächtigen‹, d.h. narrativ und audiovisuell ›reichhaltigen‹ Spielen,9 besonders häufig akademische Aufmerksamkeit zuteil wird.

Abbildung 3: MINECRAFT


Umso größer ist dann nämlich der ›Schock‹, wenn dieser Reichtum an nicht-ephemeren Elementen auf einmal wegfällt. Die Game Studies scheinen sich in ihrer steten disziplinären Ausdifferenzierung zwar mittlerweile damit abgefunden zu haben, dass die Gaming Culture ein weites Feld ist – problematisch wird es jedoch, wenn dieses weite Feld ein leeres Feld ist. So kann ein Startbildschirm in MINECRAFT10 z.B. wie in Abbildung 3 aussehen: Der Spieler findet sich in einer unbevölkerten, grünen Ebene wieder, deren detailarme, flache Pixelkacheln sich bis zum Horizont erstrecken.

MINECRAFT ist eine Art Open-World-Lego-Baukasten. Im Spiel können Rohstoffe abgebaut (»Mine«) und zu anderen Gegenständen weiterverarbeitet (»Craft«) werden. MINECRAFT ist dabei grundlegend durch einen ›Editoren-Stil‹ geprägt: Es gibt (praktisch) keine konkreten Spielziele, vielmehr verlässt sich das Programm fast ausschließlich auf die Kreativität der Spieler.11 Ein erster Impuls wäre, MINECRAFT, wie die unzähligen SOLITÄR-Varianten, an die Peripherie der Game Studies zu rücken, wirkt das Spiel doch in vielen Punkten geradezu wie ein Gegenentwurf zu aktuellen Tendenzen der Computerspielindustrie. Nicht nur hebt sich die aus großen Würfeln zusammengesetzte ›pixelige‹ Spielwelt deutlich von zeitgenössischen, oftmals geradezu fotorealistischen Spielgrafiken ab. Auch das offene, eher rudimentäre Spielprinzip erscheint in seiner ›Dramaturgie‹ seltsam fremdartig im Vergleich zu (erzählerisch) aufwändig inszenierten Vertretern anderer Spielgenres. Gegen eine solche ›Marginalisierung‹ spricht aber nicht nur der außerordentliche kommerzielle Erfolg des Spiels,12 sondern auch die enorme Wirkung, die das ›Phänomen MINECRAFT‹ mittlerweile innerhalb (und auch außerhalb) der Gaming Culture hat.13

Abbildung 4: THE LAST OF US in MINECRAFT


Zudem sind die Bilder, die MINECRAFT immer wieder aufs Neue in die (massen-)medialen Aufmerksamkeitszentren befördern, normalerweise keine leeren Felder, sondern von Spielern kreierte, beeindruckende bis bizarre Pixelbauprojekte, meist Nachbauten bekannter fiktionaler und non-fiktiona­ler Welten. Vom Kölner Dom bis zum Raumschiff Enterprise findet sich nahezu jedes mehr oder weniger bekannte Motiv, das stets zwischen einer eindeutigen Wiedererkennbarkeit und der MINECRAFT-typischen blockigen 3D-Pixel-Optik oszilliert. So hat etwa auch THE LAST OF US längst eine populärkulturelle Adelung durch einen entsprechenden MINECRAFT-Nachbau erhalten.

Die Faszination, die MINECRAFT ausmacht, findet sich somit nicht mehr nur ›im Spiel‹, sondern einerseits in kreativen spielerischen Praktiken und andererseits in den Paratexten, denn ebenso wichtig wie das Spiel selbst, sind die zahlreichen Foren und YouTube-Channels, in denen die MINE­CRAFT-Spieler in Let's Play-Videos ihre Spiel-Erlebnisse und -Ergebnisse präsentieren und kommentieren.

2. PARTIZIPATIVE SPIELKULTUREN

Während viele der (vermeintlich) prägnanten Themenfelder der ›digitalen Revolution‹ – etwa die Frage nach der Authentizität digitaler Bilder oder das vermeintliche ›Verschwinden‹ traditioneller Medien im Universalmedium Computer – mittlerweile eher Debatten mit historischem Wert sind,14 wird ein bestimmter Aspekt der Digitalkulturen nach wie vor viel diskutiert: das Versprechen der ›interaktiven Teilhabe‹ – einer Participatory Culture,15 deren Grundlage neue Technologien bilden, die den Mediennutzer in die Lage versetzen, Medieninhalte zu archivieren, zu annotieren, zu bearbeiten und zu verändern, selbst zu produzieren und in Umlauf zu bringen.16 Natürlich sind partizipative Praktiken lange vor der Entwicklung digitaler Medienkulturen zu beobachten,17 jedoch zeigt sich, dass durch die zunehmende Mediatisierung von Alltag und Kultur18 die Möglichkeiten einer Partizipation in und an Medienangeboten sprunghaft zugenommen haben – sowohl quantitativ wie auch hinsichtlich ihrer kulturellen, sozialen und ökonomischen Bedeutung. Das Versprechen der ›medialen Teilhabe‹ scheint geradezu zum Inbegriff der sogenannten Neuen Medien geworden zu sein.19

Untersuchungen zu partizipativen Praktiken digitaler Medienwelten finden sich in einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Forschungsrichtungen, die in ihrer ganzen Breite an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden können und sollen – von kultur-20 und sozialwissenschaftlichen21 Ansätzen über ökonomische22 und politische23 bis hin zu informatorischen24 sowie pädagogischen25 Perspektiven.

Werden die kleinen und großen Unebenheiten dieser Forschungsrichtungen zunächst einmal hin-, aber auch ernst genommen, stellt die Game Modding-Szene zweifelsohne eine der aktivsten zeitgenössischen partizipativen Medienkulturen dar.26 Dabei erscheinen die Arbeiten zum Game Modding ebenso vielfältig wie die bereits benannten Forschungsströmungen: So gibt es u.a. kulturwissenschaftliche,27 empirisch sozialwissenschaftliche,28 ethnologische,29 pädagogische30 und ökonomische31 Ansätze. Eine große Rolle spielen zudem produktionsästhetische Perspektiven.32

 

Der vorliegende Aufsatz betritt somit keineswegs spielerisches oder theoretisches Neuland. Was angesichts der Vielfalt der Ansätze jedoch auffällt, ist eine Tendenz, Modding vor allem als subkulturelles Phänomen zu betrachten, als eine Expertenkultur, die sich deutlich vom Gaming Main­stream abhebt.33 Dementsprechend dominieren innerhalb des Forschungsfeldes – analog zu den weiter gefassten Arbeiten zu partizipativen Medienkulturen34 – vor allem kulturkritische Beiträge, die z.B. den ökonomischen Aspekt von Modding als ›freiwillige‹ Arbeit des Spielers hinterfragen (die sogenannte Playbour-Diskussion35).

Die Relevanz solcher Ansätze soll hier keineswegs infrage gestellt werden – im Gegenteil. Doch während eine solche Diskussion im Wesentlichen an ähnliche, breiter gefasste kulturkritische Ansätze zu partizipativen Medienkulturen anschließt, fällt auf, dass populäre – man könnte auch sagen: massenkompatible – Variationen von Modding-Praktiken so gut wie keine Rolle spielen. Dabei ist das entscheidende Merkmal von Spielen wie MINECRAFT gerade ihre Öffnung für eine größere, heterogenere Spielerschaft – wobei es gar nicht in erster Linie um eine (vermeintlich) geringere Komplexität dieser Spiele geht, denn auch MINECRAFT tendiert durchaus dazu, Expertenkulturen hervorzubringen.36 Zentral sind vielmehr einerseits der Aspekt der Zugänglichkeit und andererseits vor allem eine Art Umwidmung des Moddings als ›spielerische Form‹. Modding findet bei MINE-CRAFT nicht mehr in einem separaten Editorprogramm statt, sondern in der Spielwelt selbst. Modding bildet gar – so könnte man zuspitzen – das eigentliche Spielprinzip. Um diese Differenzierung zu verdeutlichen, sollen MINECRAFT und andere Spiele, wie die LITTLEBIGPLANET-Reihe, DISNEY INFINITY oder auch GARRY'S MOD,37 d.h. Spiele, die einen Schwerpunkt auf ein Verändern oder Ergänzen – ein Editieren – der Spielwelt legen, im Folgenden als Editor-Games bezeichnet werden.

3. METHODISCHE AUSRICHTUNG(EN)

Die folgenden Überlegungen bilden einen Ausblick und keineswegs ein ausgearbeitetes Theoriedesign. Sie sind vor allem als Beitrag zu den für diesen Band titelgebenden Perspektiven der Game Studies zu verstehen, indem sie eine weitere Facette der massenkulturellen Ausdifferenzierung des Computerspiels aufzeigen und daran anschließend verschiedene (mögliche) theoretische Entwicklungsrichtungen skizzieren.

Vor dem Hintergrund der einleitenden kursorischen Anmerkungen lassen sich – keineswegs trennscharf – (mindestens) drei maßgebliche Forschungsperspektiven auf Editor-Games heuristisch unterschieden:

 Erstens eine medienhistorische Perspektive, die die Entstehung von Editor-Games vor dem Hintergrund der Geschichte des Game Moddings nachzeichnet und zudem die bereits benannte Ausdifferenzierung von Expertenkulturen und populären partizipativen Spielpraktiken kritisch hinterfragt.

 Zweitens eine medienästhetische Perspektive, die einerseits die von den Spielern gebauten Welten in den Mittelpunkt rückt, andererseits – und vielleicht entscheidender – die ›Programm-Ästhetiken‹ der Editor-Games selbst analysiert, insbesondere die aufgezeigte ›Verschmelzung‹ von Editor und Spielwelt.

 Drittens eine medienethnographische oder praxeologische Perspektive, die einzelne Spieler und deren (partizipative) Spielpraktiken sowie Modding- bzw. Editor-Games-Communities in den Blick nimmt.

Alle drei Perspektiven können im Folgenden nur kurz angerissen werden. Zudem wird auf das ›Phänomen MINECRAFT‹ erst wieder am Ende dieses Artikels zurückzukommen sein. So bietet MINECRAFT zwar den wichtigsten Ausgangs- wie Fluchtpunkt dieses Beitrags, demonstriert aber gleichzeitig, dass die Entwicklung analytischer Ansätze zu solchen Spielphänomenen noch ganz am Anfang steht.

3.1 Vom Game Modding zum Editor-Game

»Theoretically speaking, every little alteration made to the program code of any commercial entertainment software can be treated as a mod and therefore it is not easy to determine who made the first mod and what was it like«38 – und so kann im Grunde bereits eines der ersten Computerspiele überhaupt, SPACEWAR! aus dem Jahre 1962, als eine Mod gesehen werden, da das Programm, das vor allem als Demo-Software auf Großrechnern von Universitäten Verbreitung fand, an praktisch jedem Campus begeistert umprogrammiert wurde.39

»While it would be quite a stretch to call the handful of SPACEWAR! hackers on selected research facilities a modding culture, they nevertheless were doing the same thing that modders do today: modifying a game someone else has created to their own personal likings. Furthermore, the pioneering hackers exhibited certain qualities, which would become crucial not only in the development of modding culture, but also in the overall advancement of information technology. These qualities are often summed up as the ›hacker ethic‹.«40

Eine Art »hacker ethic« oder auch »hacker spirit«41 scheint sich dabei bis heute als ein integraler Bestandteil der Modding Culture erhalten zu haben, obwohl – oder vielleicht gerade weil – sich mittlerweile eine rege Zusammenarbeit zwischen Mod-Communities und Herstellern etabliert hat. Dieses im Grunde paradoxe Phänomen eines »popular hackerism«,42 droht dabei einerseits zwar stetig an den gegensätzlichen Interessen von Produzent und Modder/Hacker (kommerzielle vs. freie Software) zu zerbrechen, mag aber anderseits durchaus zur »vexierbildhafte[n] Gestalt«43 des Hackers passen.

Die Geschichte von Mods soll hier (sehr verkürzend) in drei Phasen unterteilt werden: die (in der Regel unautorisierten) Mod-Projekte der 1980er Jahre, die ersten Formen der Zusammenarbeit von Entwicklern und Mod-Communities Mitte der 1990er Jahre und die Entwicklung des Moddings zu einem Business-Modell in den späteren 1990er Jahren.

Lars Bo Jeppesen betitelt die erste Phase des Moddings in den 1980er Jahren mit »when modding was hacking«,44 denn in dieser Zeit waren praktisch sämtliche Mods kommerzieller Spiele unautorisiert und somit in der Regel illegal. Eine entscheidende Veränderung fand Mitte der 1990er Jahre statt. 1993 erschien das Spiel DOOM, das nicht nur den Siegeszug des First-Person-Shooter-Genres einleitete, sondern zugleich eine sehr aktive Mod-Community hervorbrachte. Inspiriert durch die zahlreichen innovativen Mods des Vorgängers WOLFENSTEIN 3D,45 führte das Entwicklerstudio id mit DOOM46 zwei grundlegende Neuerungen ein, die die Mod-Szene nachhaltig prägen sollten.47 Erstens wurden Modifikationen des Originalpro­gamms von id – mit einigen Einschränkungen, wie der Nutzung einer registrierten Version von DOOM – ausdrücklich erlaubt; zweitens gestaltete sich die Programmstruktur von DOOM im Vergleich zu anderen Titeln Anfang der 1990er Jahre besonders »mod-friendly«.48 Während bei den meisten Titeln, die vor DOOM erschienen, die Modifikation der Media-Dateien eine Löschung von Original-Codes verlangte, wurden bei ids First-Person-Shooter die Grafik- und Sounddateien in einer vom Hauptprogramm bzw. von der Game-Engine separaten Ordnerstruktur abgespeichert. Auf diese Weise wurde die Erstellung wesentlich vereinfacht. Der Erfolg von DOOM kann allerdings nicht ausschließlich auf die Zusammenarbeit von Hersteller und Community zurückgeführt werden, sondern wurde auch maßgeblich von einer anderen historischen Entwicklung Anfang der 1990er Jahre begünstigt – dem kommerziellen Durchbruch des World Wide Web und einer damit einhergehenden deutlichen Vereinfachung der digitalen Distribution von Mods sowie der Vernetzung von Modding-Communities.49

Was in den 1980er Jahren als eine »bottom-up modularization by users«50 begann, wurde Ende der 1990er mit COUNTER-STRIKE51 zu einem Business-Modell. COUNTER-STRIKE ist eine Multiplayer-Mod des First-Person-Shooters HALF-LIFE52 und verändert sowohl das Szenario als auch die grundlegende Spielmechanik des Hauptprogramms. Der enorme Erfolg der 1999 von Hobbyprogrammierern entwickelten Mod veranlasste den HALF-LIFE-Entwickler Valve dazu, das COUNTER-STRIKE-Mod-Team unter Vertrag zu nehmen.53 Seit dem Jahr 2000 wird COUNTER-STRIKE als offizielle Erweiterung (Add-On) vertrieben. Valve übernahm somit nicht nur die von id erfolgreich erprobte Kooperationsstrategie von Entwickler und Community, sondern nutzte das Phänomen Modding Culture auch zur Rekrutierung neuer Talente. So startete COUNTER-STRIKE zwar als typisches Mod-Projekt, entwickelte sich aber letztlich zu einem kommerziellen Produkt.

Die Strategie einer solchen Kommerzialisierung von Modding-Prakti­ken lässt somit fraglich erscheinen, inwieweit bei einem Projekt wie COUN­TER-STRIKE (und seinen Weiterentwicklungen bzw. Nachfolgern) überhaupt noch von Modding – oder nicht vielmehr von einer »Economy of Mod­­ding«54 gesprochen werden sollte.55 So mag den ›freien‹ Mod-Projek­ten zwar häufig eine große Anerkennung für das Engagement ihrer Schöpfer (und für deren Innovationsfreudigkeit und Kreativität) gebühren, ihr tatsächlicher Einfluss fällt zahlenmäßig letztlich jedoch sehr gering aus. Zwar nehmen Modding-Praktiken insgesamt stetig zu – was aber schlicht auch ein Effekt der wachsenden Verbreitung von Computerspielen sein dürfte. Daneben werden die Distribution von Mods und die Vernetzung von Modding-Communities durch Web 2.0-Technologien fortwährend erleichtert. Doch sorgen gerade diese Techniken durch Auswahlmechanismen und Rankings auch dafür, dass sich nur einige wenige Mods wirklich durchsetzen. Wird Modding also einfach nur professioneller? Sind Konzepte wie ein Gaming 2.056 oder eine digitale Spielkultur 2.057 nur ein ›Anhängsel‹ oder vielmehr ein Werbeslogan einer zunehmend kommerzialisierten partizipativen Gaming Culture?

Abbildung 5/6: PINBALL CONTRUCTION SET – Spielansicht und Cover


An dieser Stelle soll der Fokus der Argumentation verschoben werden – und zwar von den Modding-Scenes im engeren Sinne hin zu ›populären‹ Formen der Erstellung oder Veränderung von Computerspielinhalten. Essoll um Leveleditoren, gehen, d.h. Programme, die zur Erstellung neuer oder der Bearbeitung bestehender Level, Karten, Missionen, Figuren oder Items eines Computerspiels genutzt werden. Es ließe sich freilich einwenden, dass auch die (semi-)professionellen Modding-Communities (spezialisierte) Editoren nutzen – doch obgleich die Übergänge fließend sind, soll es im Folgenden vor allem um diejenigen Editoren gehen, die auch den ›normalen‹ Spieler ansprechen, d.h. Programme, die keine oder nur rudimentäre Vorkenntnisse im Bereich des Game Designs bzw. der Game Informatics voraussetzen und die üblicherweise bereits einem Spiel beigefügt sind oder kurz nach der Veröffentlichung als Download angeboten werden. Mehr noch: Es geht um Programme, die den Spieler durch ihre Zugänglichkeit sozusagen zu Modding-Praktiken animieren.