Neulateinische Metrik

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From the series: NeoLatina #33
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1. Metrische Implikationen der horazischen ‚Pindarode‘ (Oden 4,2HorazOden‚Pindarode‘ 4,2)

Pindar-ImitationImitation zu betreiben, meint vorab, einen tiefen Bruch mit der poetischen und poetologischen Tradition zu vollziehen, insofern sie für einen Dichter gerade die verhängnisvolle Hinwegsetzung über die in der sogenannten ‚Pindarode‘ des Horaz vorgebrachte Warnung vor einem Ikarussturz bedeuten musste. Wie nachhaltig die horazische Ode 4,2HorazOden‚Pindarode‘ 4,2 die Wahrnehmung des griechischen Dichters durch die Nachwelt prägte, wird in der Frühen Neuzeit daran deutlich, dass den Editionen und Übersetzungen der Werke Pindars dieses Gedicht in der Regel als Paratext vorausgeschickt wurde.Dorat, Jean1 Jean Dorat und Pierre de RonsardRonsard, Pierre de ließen ihrer pindarischen Dichtung eine Auseinandersetzung mit Horaz vorausgehen.2

Horazens lateinische Ode vermittelt nicht nur eine Vorstellung vom erhabenen Stil und Gehalt der pindarischen Lyrik oder den verschiedenen Dichtungsgattungen, die der Grieche gepflegt hat.HorazOden‚Pindarode‘ 4,23 Sie thematisiert auch die Metrik, die als integraler Bestandteil von Pindars Poesie dargestellt wird. So dichte Pindar laut Horaz numerisque […] lege solutis – „in Rhythmen, die losgelöst sind von Regeln“ (Oden 4,2,11–12).freier Vers Liest man Horazens Pindarode spezifisch unter dem Aspekt der Metrik, so stellt man fest, dass nicht nur explizit das Versmaß Gegenstand der Reflexion ist, sondern implizit auch die Strophengestaltung. Wenngleich der römische Dichter hier die Sapphische StropheSapphicus verwendet, lässt er doch ein Element der pindarischen Metrik einfließen. Es darf nämlich als ein markantes Kennzeichen pindarischen Dichtens gelten, dass Sätze häufig über die Strophengrenze hinausgehen, dass also ein EnjambementEnjambement vorliegt.EnjambementAntistrophe4 Die Divergenz von Strophenende und inhaltlicher Gliederung bei Pindar wird am Beispiel der 7. Isthmischen Ode deutlich, in der an den acht Strophenübergängen, das heißt an den Sprüngen zwischen Strophe, Antistrophe und EpodeEpode, ganze sechs EnjambementEnjambements und lediglich zwei inhaltliche und syntaktische Zäsuren zu finden sind. Für die beiden Grenzen zwischen den drei TriadenPindar und Pindarische DichtungTriade muss man sogar zu der Feststellung gelangen, dass keine eine inhaltliche oder syntaktische Zäsur bildet.EnjambementHorazOden‚Pindarode‘ 4,25 Horaz thematisiert diese Eigenheit des Griechen durch den Vergleich der pindarischen Dichtung mit einem herabstürzenden Bergbach. Das in dem Bild vermittelte Charakteristikum wird dann durch den sich über fünf Strophen erstreckenden Satz (4,2,4–24) auch ganz konkret in der Textstruktur des Gedichtes umgesetzt. Hiermit soll sehr wohl der Stil Pindars beschrieben werden,Sainte-Marthe, Scévole de6 jedoch ebenso die metrische Struktur seiner Dichtung. Auch bei neulateinischen pindarischen Dichtern ist diese Eigenheit erkennbar. Bei einem Blick in die Pindarischen Oden Sainte-Marthes fallen zahlreiche Beispiele von Enjambements ins Auge.EnjambementRonsard, Pierre de7 Dies ist umso auffallender, als es eine Abweichung von der französischen pindarischen Ode eines Pierre de Ronsard darstellt, der die Strophe strikt als thematische und syntaktische Einheit konzipiert.

Grundsätzlich muss man zur Pindarode bedenken, dass es Horaz mit seinem Urteil gelungen ist, wissenschaftliche Erklärungsversuche, die es in der Antike durchaus gab, erfolgreich zu verdrängen. Die alexandrinischen Philologenalexandrinische Philologie hatten, auch wenn sie mit einem klaren Verständnis der pindarischen Metrik ringen mussten,Kolometrie8 durchaus versucht, in Form der sogenannten ‚Kolometrie‘ die metrische Struktur jeder Ode zu bestimmen. Mit den Pindar-ScholienPindar und Pindarische DichtungScholien war Horaz sehr gut vertraut.HorazOden‚Pindarode‘ 4,29 Jedoch lässt der römische Dichter in Oden 4,2 ein anderes Bild von der pindarischen Metrik entstehen und weist dabei implizit die Versuche einer metrischen Erklärung durch die alexandrinischen Philologen und ihre Anwendbarkeit für die dichterische imitatioImitation zurück.

2. Die humanistische Philologie und die pindarische Metrik

Mit der Pindarode des Horaz ist ein wichtiger Referenzpunkt benannt, der das neulateinische Dichten in der Manier Pindars prägte. Doch auch in der Antike bildet Horaz nicht die einzige Stimme zur pindarischen Metrik, wie man z.B. an den im Humanismus rezipierten Pindar-ScholienPindar und Pindarische DichtungScholien sehen kann. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich die neulateinischen Dichter in Hinblick auf die gebundene Sprache nicht auch an der antiken und der zeitgenössischen philologischen Analyse orientierten.

Seit den Untersuchungen von Paul Maas und Bruno Snell hat sich die Vorstellung etabliert, dass sich Pindars Gedichte in zwei verschiedene metrische Systeme einordnen lassen: Ihre Metren sind entweder äolisch oder daktyloepitritischDaktyloepitriten.Daktyloepitriten1 Eine Deutung der daktyloepitritischen Oden sollte durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Metrik erst im 19. und 20. Jahrhundert möglich werden;2 eine Erfassung gemäß den metrischen Standardfüßen (da, an, ia, tro), den äolischen Versmaßen und anderen gängigen Sing- oder Sprechversen stand den Humanisten jedoch durchaus offen.

Der Aufschwung der pindarischen Dichtung trat infolge der Editio princeps ein, die von Aldus Manutius besorgt wurde und 1513 in Venedig erschien. Der Kommentar des deutschen Humanisten Johannes LonicerLonicer, Johannes, der, erstmals herausgegeben 1535, aufgrund seiner mehrfachen Auflagen als wichtigstes philologisches Hilfsmittel für den Zugang zu dem antiken Dichter gelten kann, lässt den Rückgriff auf die griechischen ScholienPindar und Pindarische DichtungScholien, und somit auf die andere, nicht-horazische Tradition der antiken Deutung zur Pindar-Metrik, erkennen.Antistrophe3 Dies macht insbesondere die Definition der Termini Strophe, Antistrophe und EpodosEpode deutlich, wonach die drei Abschnitte einer TriadePindar und Pindarische DichtungTriade aus der BewegungTanz der SängerMusik erklärt werden (Schol. metr. Boeckh 2, 11). LonicerLonicer, Johannes gibt allerdings eine gewisse Verlegenheit hinsichtlich des Versmaßes zu erkennen. Ganz unbestimmt hält er sich im Widmungsbrief, wo er schreibt, dass das Metrum kaum vom Rhythmus der gesprochenen Sprache abweiche.Cicero4 Er geht in Anlehnung an Cicero davon aus, dass die pindarische Metrik fast ausschließlich auf dem GesangMusik beruhe, und dass ohne Gesang von der metrischen Struktur nicht viel mehr übrig bleibe als bei einem Prosatext. Ohne das musikalischeMusik Element erwiesen sich die Rhythmen von Lyrik und Prosa als simillimi.Lonicer, JohannesPindari […] Olympia, Pythia, Nemea, Isthmia5 Zur metrischen Gestaltung der Gedichte schreibt er in seinen Anmerkungen zur 1. Olympischen Ode:

Cola proprie dicuntur versus variis legibus consistentes, ut Aristophanicus interpres autor. Itaque Aristophanicae sectiones recte κῶλα vocantur, quandoquidem tot generibus carminum constent, quot versus habent, utpote strophe 17 colon, versus habet 17. Legibus 17 compositos. Verum de Pindaricis metrorum generibus alias θεοῦ διδόντος agetur.6

KolaKolon im eigentlichen Sinne werden Verse genannt, die sich nach verschiedenen Gesetzen zusammensetzen, wie es der aristophanische Interpret bestimmt. Darum werden die aristophanischen Abschnitte zurecht κῶλα genannt, da sie ja aus ebenso vielen Dichtungsarten bestehen, wie sie Verse haben, wie nämlich eine Strophe 17 Kola hat, so hat sie auch 17 Verse, die nach 17 Regeln zusammengesetzt sind. Jedoch über die Arten der pindarischen Metren wird, wenn Gott es fügt, an anderer Stelle gesprochen werden.

Lonicer beschränkt sich hier auf das, was er mit Sicherheit in Hinblick auf die metrische Form zu schreiben vermag. Mit dieser Unbestimmtheit geht einher, dass seine lateinische Übersetzung der Oden, die dem Kommentar zu den einzelnen Gedichten jeweils vorausgeht, in Prosa verfertigt ist. In ungebundener Rede verfasst sind ebenso die Übersetzung von Philipp MelanchthonMelanchthon, Philipp und die von Henri Estienne (Henricus Stephanus)Estienne (Stephanus), Henri (Henricus) in seiner 1560 erstmals herausgegebenen zweisprachigen Edition. Dies ist umso auffallender, als in der Frühen Neuzeit metrisch verfasste Texte bei Übersetzungen gewöhnlich auch in der Zielsprache in gebundener Rede wiedergegeben wurden.Lonicer, Johannes7 Wenngleich Lonicer eine genauere Behandlung der pindarischen Metrik auf einen unbestimmten späteren Zeitpunkt verschiebt, geht er unter Rückgriff auf die alexandrinische Philologiealexandrinische Philologie immerhin davon aus, dass die KolaKolon, die deckungsgleich mit den Versen sind, aus verschiedenen metrischen Systemen (genera carminum; legibus) zusammengestelltPolymetrie wurden.

Vergleichbar ist der Befund bei EstienneEstienne (Stephanus), Henri (Henricus). In seiner Textausgabe und Übersetzung werden Exzerpte aus antiken ScholienPindar und Pindarische DichtungScholien zusammengetragen, die die Responsion von Strophe und AntistropheAntistrophe, also die Identität ihrer metrischen Struktur, sowie die Diversität der EpodosEpode herausstreichen. Hier wird auch allgemein festgehalten, dass die Strophe, Antistrophe und Epodos wiederum aus KolaKolon bestehen.8 Diese Kola setzen sich ihrerseits aus Versfüßen zusammen und bilden dabei verschiedene Versmaße: Haec autem e colis constant: at cola variam mensuram habent, quae ex pedibus constat.9

Manche frühneuzeitlichen Kommentatoren greifen auf das Handbuch (Encheiridion) des Metrikers HephaistionHephaistion aus der Kaiserzeit sowie auf antike ScholienPindar und Pindarische DichtungScholien mit metrischen Analysen zurück. Diese Werke untergliedern die Gedichte Pindars ebenso in KolaKolometrie, analysieren diese dann aber auch nach bekannten metrischen Versfußschemata. Eine Auflistung der gemäß Hephaistion von Pindar verwendeten Versfüße bietet Stephanus Niger (Stefano NegriNegri, StefanoPraefatio in Pindarum, 1475–ca. 1540) in seiner Praefatio in Pindarum (Mailand 1521).Pindar und Pindarische DichtungScholien10 Die einschlägigen Scholien stehen in der Tradition des hellenistischen Philologen Aristophanes von ByzanzAristophanes von Byzanz, der zu jeder pindarischen Ode eine metrische Systematisierung, eine KolometrieKolometrie, entwarf. Diese ist grundsätzlich dadurch bestimmt, dass Aristophanes KolKolona bildete, von denen jedes ein bis drei rhythmische Elemente enthielt. Seine Ausgabe umfasste neben dem Text auch kurze Hinweise für den Leser, Lesevarianten, diakritische Zeichen sowie Markierungen zur KolometrieKolometrie.Pindar und Pindarische DichtungScholien11 Die Scholien waren in der Neuzeit durch die Pindar-Ausgabe von Zacharia CalliergiCalliergi, Zacharia (1515) bekannt und wurden außer von der Pindar-Kommentierung auch in dem metrischen Traktat De generibus carminum Graecorum von René GuillonGuillon, RenéDe generibus carminum Graecorum (1548) rezipiert.Pindar und Pindarische DichtungScholien12 In den Scholien finden sich neben der Eruierung der Anzahl von KolaKolon auch Bestimmungen einzelner Versfüße. Hier werden sowohl äolische Versmaße als auch Zusammenstellungen aus den gängigen Standardversfüßen festgestellt, ferner KatalexeKatalexen und HyperkatalexeHyperkatalexen ermittelt.

 

Schließlich sind auch für den Philologen und Dichter Jean DoratDorat, Jean (1508–1588), den Lehrer Ronsards, metrische Analysen zu den einzelnen Epinikien belegt. Diese gelangten jedoch nicht über handschriftliche Eintragungen der metrischen Schemata in der von ihm benutzten Textausgabe hinaus.13

Zusammenfassend können wir feststellen, dass von der philologischen Metrikanalyse die Auffassung vermittelt werden konnte, dass StrophenPindar und Pindarische DichtungTriade, AntistropheAntistrophen und EpodeEpoden mit weitgehender Freiheit gestaltet werden können, dass das einmal gewählte Schema dann jedoch durchgehend beibehalten werden musste. Ebenso war die Zusammensetzung von Strophe, Antistrophe und Epodos aus KolaKolon bekannt. Über diese Kola wiederum konnte man sagen, dass sie aus sehr verschiedenen, jedoch auch von anderen lyrischen Dichtern bekannten und in Lehrbüchern systematisierten Versfüßen zusammengestellt waren. Eine dieser Technik entsprechende Praxis lässt sich auch für die neulateinische Dichtung aufweisen.

3. Scévole de Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de

Den neulateinischen Poeten, die Pindarische Oden verfassten, war somit ein breiter Spielraum zur kreativen Gestaltung eigener Gedichte gegeben, und ein Blick auf verschiedene Dichter lässt differierende Herangehensweisen an die Metrik erkennen. Die unterschiedlichen von den neulateinischen Dichtern gewählten Lösungen macht eine vergleichende Betrachtung zwischen dem französischen Dichter Scévole de Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de und dem deutschen Paulus Melissus SchedeSchede, Paulus Melissus deutlich. Zunächst zu Scévole de Sainte-Marthe (latinisiert Sammarthanus). In der 1629 veröffentlichten Gesamtausgabe der lateinischen Gedichte ist den pindarischen Gedichten, die das erste Buch der Lyriksammlung bilden, als Paratext ein programmatisches iambisches Einleitungsgedicht (Ad lectorem) vorangestellt, in dem der Dichter seine poetische Methodik und hierbei gleich eingangs auch seine Handhabung der Metrik erläutertSainte-Marthe, Scévole dePoemata:1


Cuius [sc. Pindari] nec haesi semper hic vestigiis.
Nam pro instituta vatibus licentia 5
hinc inde numeros lege nulla colligens,
(nisi quam meo ipse iure dixeram mihi)
inusitatos nectere sum ausus modos.

Ich heftete mich hier nicht immer an seine [sc. Pindars] Fußstapfen. Denn gemäß der für Dichter eingerichteten Freizügigkeit sammelte ich von hier und da Versmaße zusammen ohne Regel (abgesehen von der, die ich nach eigenem Recht mir selbst auferlegt hatte) und habe es gewagt, ungewöhnliche Rhythmen zu knüpfen.

Für Sainte-Marthes Dichten sind nach diesen Versen zwei wichtige Punkte festzuhalten: Zum einen zeigt er sich grundsätzlich darum bemüht, sich nahe an die metrische Gestaltung der Oden Pindars zu halten. Manchmal sei er von diesem Vorgehen jedoch abgewichen. Diese Äußerung wörtlich zu nehmen und aus ihr den Schluss ziehen zu wollen, dass die vollständige Übernahme der metrischen Struktur einer konkreten Ode Pindars Sainte-MarthesSainte-Marthe, Scévole de gängige Praxis dargestellt habe, wäre allerdings übereilt. Vielmehr scheint nec semper einen Bescheidenheitstopos darzustellen. So kann zwar für seine Pindarische Ode Ad P. Pitheum die Übernahme der metrischen Struktur der 1. Olympischen Ode festgestellt werden.freier Vers2 Ansonsten erweist sich jedoch die Metrik des Franzosen als weitgehend unabhängig von den griechischen Gedichten.3 Die den Dichtern eingeräumte Freiheit (instituta vatibus licentia) nutzt er zu einem regelfreien Sammeln von Metren: numeros nulla lege colligens. Er deutet somit Horazens numeris lege solutis für seine Dichtung um. Bei ihm ist es nicht das Metrum selbst, das ohne Gesetz ist, sondern seine Technik des Zusammensammelns und Zusammenstellens von VersmaßenPolymetrie.

Der lateinische Terminus numerus kann im Kontext der Metrik unterschiedliche Bedeutungen tragen: Zunächst kann er (1) den „RhythmusRhythmus“ bedeuten, den man sowohl in Dichtungs- als auch in Prosatexten finden kann;CiceroOratorSainte-Marthe, Scévole de4 Sodann (2) steht er in pluralischer Verwendung im Sinne von „Verse“ als metrische Zeilen, z.B. discentur numeri, culte Tibulle, tui (Ovid, Amores 1,15,28). Ferner (3) ist die Bedeutung als zählbarer „Versfuß“ belegt, wie in sex mihi surgat opus numeris, in quinque residat (Ovid, Amores 1,1,27). Schließlich (4) bezeichnet er ein „Versmaß“ oder „Metrum“, z.B. numerus Saturnius (Horaz, Epistulae 2,1,158: „der saturnische Vers“, „der Saturnier“). Die bei Sainte-Marthe anzunehmende Bedeutung steht wohl der letztgenannten Verwendung am nächsten. Ein ähnliches Bedeutungsspektrum kann auch modus abstecken, das auch in der antiken Literatur nicht selten als Synonym zu numerus im Hendiadyoin zu diesem Begriff belegt ist.Rhythmus5 In dem vorliegenden Text müssen die modi jedoch die rhythmische Struktur eines Gedichts im weiteren Sinne beschreiben, die dann das Ergebnis der Zusammenstellung der gesammelten VersmaßePolymetrie bildet.6

Die nicht ganz leicht zu verstehende Formulierung mit eingefügter Parenthese gewinnt ihren Reiz aus einem Aprosdoketon-Effekt. Die Formulierung lege nulla versteht sich zunächst unmittelbar als eine Referenz auf die horazische Pindarode: „nach keinem Gesetz“. Nun ist es aber nicht wie bei HorazHoraz die Metrik insgesamt, die ohne Gesetz ist, sondern die Sammlung, die der Dichter aus gänzlich verschiedenen Quellen (hinc inde) zusammenträgt. Diese Aussage wird dann aber durch die parenthetische Einfügung relativiert. Die Zusammenstellung erfolge nach keinem Gesetz außer dem, das der Dichter sich selbst auferlege. In seiner Eigenschaft als Sammler entspricht der Dichter bei Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de nun aber genau der blütenlesenden Biene, die der Sprecher bei Horaz ja gerade als Gegensatz zum pindarischen Schwan versteht und zu seinem poetologischen Ideal erhebt (4,2,27–32HorazOden‚Pindarode‘ 4,2).Sainte-Marthe, Scévole de7 Die diametrale Opposition von pindarischem und horazischem Dichten ist somit bei Sainte-Marthe aufgelöst.

Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de praktiziert also sein Programm einer pindarischen Metrik als eine Technik der freien, nicht den tradierten Regeln entsprechenden Zusammenfügung übernommener Metrenfreier Vers. Mit dem ius scheint er wohl kein bestimmtes zu meinen, vielmehr die grundsätzliche Tatsache, dass er mit einer bestimmten Versgestaltung, die er festlegt, gewissermaßen selbst ein „Gesetz“ für jede Ode bestimmt. Wir erkennen aus der metrischen Analyse, dass Scévole de Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de Verse unterschiedlichster metrischer Provenienz zusammenfügt, wie aus der monostrophischen Ode Ad Christianissimum Regem Henricum IIII (1596) deutlich wird. Hieraus soll Strophe 3 analysiert werden:Pause8


Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de hat eine Neigung zu Zusammenstellungen aus Standardversfüßen wie IambenIambus, TrochäenTrochaeus, AnapästAnapaestusen. Es finden sich andererseits auch äolische Versmaße, wie GlykoneusGlyconeus, Sapphischer ElfsilblerSapphicus und Alkäischer ElfsilblerAlcaicus. In diesen Versmaßen kommt es in einzelnen Strophen dann auch zu Auflösungen oder zur wechselseitigen Ersetzung von Längen und Kürzen.AnapaestusKatalexe9 Diese Praxis erfolgt ganz gemäß der metrischen Tradition. Die Ungewohntheit einiger Verse rührt auch aus Abänderungen an den Versmaßen durch Katalexen. Die ursprünglichen Versmaße kommen bei Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de in ihrem Charakter jedoch immer noch sehr deutlich zum Vorschein.Sainte-Marthe, Scévole dePoemata10

Diese Beobachtungen lassen sich auch auf die anderen Pindarischen Oden Sainte-MarthesSainte-Marthe, Scévole de übertragen. An dieser Stelle kann nur exempli gratia auf die Ode In tumulum P. Ronsardi ad Abelem filium verwiesen werden, bei der in der EpodosEpode sogar komplexere Versmaße in voller Form einander folgen: IambenIambus, HemiepesDactylusHemiepes, PherekrateusPherecrateus, SapphicusSapphicus minor, AdoneusAdoneus:11



Festzuhalten ist, dass Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de zwar die vom horazischen Pindarbild vorgegebene ‚Gesetzlosigkeit‘ für sein Dichten in Anspruch nimmt und in der Praxis umsetzt. Die sich ihm ergebende Freiheit füllt er jedoch in der Weise aus, dass er sehr unterschiedliche Typen von Metren zusammenfügt (colligens).freier Vers Letztlich bleiben die Verse noch gut identifizierbar.12 Dieses Programm einer metrischen ‚Anarchie‘ nimmt sich damit noch recht gemäßigt aus.