MUSIK-KONZEPTE 191: Martin Smolka

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From the series: Musik-Konzepte #191
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TOBIAS EDUARD SCHICK

Martin Smolkas Neubelebung durmolltonaler Harmonik durch Neukontextualisierung und mikrotonale Verfremdung

Die Musik des tschechischen Komponisten Martin Smolka, die häufig poetische Stimmungsbilder entstehen lässt, klingt oftmals zugleich fremd und vertraut. Sie beinhaltet altbekannte Klänge, Dur- und noch häufiger Mollakkorde (oft c-Moll und a-Moll), ohne sie aber je auf traditionelle Weise in funktionale oder kadenzharmonische Zusammenhänge einzubinden. Viel eher werden sie auf melancholische Weise beschworen und durch Verfremdung und Neukontextualisierung in ein eigentümliches Licht getaucht. Von zentraler Bedeutung für diese Strategien ist der präzise Einsatz von Mikrotonalität. Anders als manche Protagonisten einer spektralen Ästhetik verfolgt Smolka damit nicht das Programm, die Harmonik seiner Musik in Übereinstimmung zu den natürlichen akustischen Gegebenheiten – so insbesondere dem Aufbau und den Intervallverhältnissen in der Obertonreihe – zu bringen, um dadurch physikalische Gesetzmäßigkeiten für die Begründung ästhetischer Zusammenhänge nutzbar zu machen, was nie ganz den Verdacht einer essenzialistischen Subreption entkräften konnte. Viel eher ist für ihn der Begriff der »Ver-Stimmung, des Unreinen konstitutiv«.1 Anstelle von theoretischen Systemen faszinieren Smolka vielmehr »unabsichtliche oder auch unreflektierte Verzerrungen mikrointervallischer Art … (wie) verstimmte Klaviere und ihre wunderschönen Schwebungen, … Blues, Jazz, Aufnahmen authentischer Volksmusik«, in deren »natürlichen Gebrauch von Mikrotönen (er) ein ungewöhnliches Ausdruckspotential« entdeckt.2 Auch in seiner eigenen Musik entsteht durch mikrotonale Verfremdungen ein reizvolles Oszillieren zwischen verschiedenen Stimmungen, das dazu dient, zugleich Nähe und Distanz zur durmolltonalen Harmonik der europäischen Musiktradition aufzubauen. Seine Musik weist sehr unterschiedlich deutliche Anklänge an konsonante Harmonien auf, die oft geheimnisvoll hinter mikroharmonischen Klangballungen hervorscheinen, bisweilen aber auch ausnehmend direkt beschworen werden. Smolka beschreibt sein Verhältnis zur musikalischen Tradition in einem aufschlussreichen Werkkommentar zu dem im Jahr 2012 im Rahmen der Donaueschinger Musiktage uraufgeführten Orchesterwerk My My Country, der eine pointierte Skizze seines ästhetischen Programms enthält:

»Ich sehe es als einen wesentlichen Teil meiner Arbeit an, den verbrauchten musikalischen Elementen wie Melodie oder konsonanten Harmonien und Intervallen neue Energie zu verleihen – sie zu modulieren, umzubiegen und in einen unerwarteten Zusammenhang zu setzen. Nach dem 20. Jahrhundert mit all seinen faszinierenden Innovationen glaube ich daran, dass es an der Zeit ist, die über Bord geworfenen Schönheiten wieder zu beleben, sie von der Tünche und den Lügen der Pop-Kultur zu reinigen und sie aus dem ausschließlichen Gebiet des Kitsches zu befreien.«3

Der vorliegende Text möchte am Beispiel verschiedener Werke zeigen, mit welchen Mitteln Smolka die Erneuerung tradierter Klänge betreibt, seine diesbezüglichen Strategien analysieren und kritisch diskutieren.

I My My Country für Orchester (2012)

Das Orchesterwerk My My Country (2012),4 das dem Andenken Smolkas im Jahr 2011 verstorbenen Vaters Jaroslav Smolka gewidmet ist, den der Komponist als einen »Musikwissenschaftler und -historiker, Komponisten, Kritiker und (eine) für lange Jahre einflussreiche Persönlichkeit des tschechischen Musiklebens« würdigt, besteht aus drei annähernd gleich langen und attacca gespielten Sätzen5 mit einem jeweils charakteristischen strukturellen und expressiven Profil. Wie in etlichen anderen Werken entsteht dieses durch die teils wörtliche, teils variierte Wiederholung einiger weniger prägnanter und charakteristischer Elemente, die oft blockhafte Strukturen und klare Formen entstehen lassen.

Der 1., mit »maestoso, vivo« überschriebene Satz wird von variiert wiederholten melodischen Gesten eröffnet, die aus weit gespannten, triolisch rhythmisierten Dreiklangsbrechungen bestehen. Zu diesen treten im Verlauf eines Verdichtungsprozesses ab T. 48 begleitende Akkorde, die zum Schluss allein übrigbleiben. Der leise ausklingende Satz beschreibt damit eine Bogenform.


Notenbeispiel 1: Martin Smolka, My My Country für Orchester, Beginn, © 2012 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Der 1. Satz zeigt paradigmatisch einen Großteil der Strategien, die Smolka dazu dienen, konsonanten, durmolltonalen Harmonien durch Verfremdung und Neukontextualisierung ein neues Ausdruckspotenzial zu verleihen. Von zentraler Bedeutung hierfür sind mikrotonale Abweichungen, die zwar die konsonanten Konturen erhalten, deren Eindeutigkeit jedoch ins Feld von schwebender Unschärfe transformieren. Der Beginn des Stückes basiert auf der a-Moll-Tonleiter. Die daraus gebildeten melodischen Phrasen werden jedoch mikroharmonisch verfremdet und aufgefächert. Bereits die eröffnende melodische Geste, ein von einer kleinen Terz gefolgter Oktavsprung, umgrenzt den harmonischen Rahmen des bestimmenden a-Moll-Dreiklangs. Doch ist das avisierte c′′′ wie die meisten melodischen Zieltöne des Satzes einen Viertelton zu tief. Das Intervall der zu tiefen Kleinterz beträgt dadurch rechnerisch nur 250 Cent. Eine temperierte Kleinterz hat hingegen einen Intervallabstand von 300, eine natürliche Kleinterz sogar einen Intervallabstand von 316 Cent. Smolka weicht also noch mehr von der natürlichen Kleinterz ab als die temperierte Stimmung, was belegt, dass seine Intention nicht im Aufbau einer Harmonik nach spektralen Gesichtspunkten, sondern in der Verfremdung der durmolltonalen Klanglichkeit liegt. Eine weitere Strategie besteht in der mikroharmonischen Streuung von Zieltönen, durch die engräumige Cluster entstehen. In T. 7 zielen die bislang unisono spielenden Streicher erstmals auf einen Tonhöhenbereich, der zwischen dis′′ und einem sechsteltönig erniedrigten f′′ acht verschiedene Tonhöhen enthält. Durch die mikrotonale Differenzierung werden die vormals stabilen Tonhöhen zu einem unscharfen, stufenlosen Tonhöhenbereich. Die diatonische Melodik bleibt erkennbar, beginnt jedoch eigentümlich zu schweben.

Die melodischen Gesten des Anfangs vereinen – angesichts des vollen Fortissimo-Klangs und der weiträumigen Sprünge – eine emphatische Expressivität mit einer nüchternen Distanz, die durch die Art ihrer Entfaltung bedingt ist. Denn die aufstrebenden Gesten brechen ständig ab und setzen meist sofort neu an, ohne dieser Tatsache eine allzu große Bedeutung beizumessen. Sie werden variiert, ohne sich doch im eigentlichen Sinne weiterzuentwickeln. Die melodischen Linien bringen dadurch nicht im Stile Schönbergs durch Individualisierung die Innerlichkeit eines kompositorischen Subjekts zum Ausdruck, sondern ihr statischer Charakter rückt sie ästhetisch viel eher in die Nähe der amerikanischen Minimal Music. Mit dieser teilt sie zwar nicht deren kontinuierliche, häufig mechanische Prozesshaftigkeit, wohl aber die Arbeit mit tradierten Sprachmustern bei gleichzeitiger Distanz zu deren expressiven Gehalt. Jörn Peter Hiekel verweist angesichts »der Vorliebe des Komponisten für Einfachheit … (für) undramatische, nicht zielgerichtete Werkkonzepte« auch auf Smolkas Bewunderung für die Musik Morton Feldmans.6

Die in T. 48 vehement einsetzenden, meist mikrotonal glissandierenden Akkorde zeigen weitere Methoden, mit denen Smolka durmolltonale Klänge zugleich andeutet und maskiert. Die Passage erlangt eine enorme harmonische Vielschichtigkeit, indem gleichzeitig Strukturen auftreten, die sowohl in sich als auch untereinander widersprüchlich sind. Fast alle Akkorde weisen klanglich hervortretende konsonante Intervalle auf, die durch mikroharmonische Streuungen und zusätzliche Töne verfremdet werden. Den Klang der tiefen Streicher und der Harfen prägt die oben liegende Quinte da, die durch den Zusatzton cis und die mikroharmonischen Verfremdungen verschleiert wird.7 Die Hörner hingegen spielen zwei miteinander verschränkte Terzen. Auch das Rahmenintervall der Saxofone beträgt eine Quinte (b′ – f′′), die durch zusätzliche Akkordtöne (c′′, es′′) bereichert wird. Im Fall der Flöten 3–6 verfährt Smolka mit dem Rahmenintervall der kleinen Terz g′′ – b′′ analog. Obwohl ein engräumiger, fast clusterartiger Akkord entsteht, wird »die Andeutung einer konsonanten Qualität durch die Stimmung der Kanten gewährleistet, zum Beispiel das Intervall der kleinen Terz, das wie eine auratische Kontur hervortritt«. Anstatt Tonalität konsequent bestimmt zu negieren, schafft Smolka einen Raum für tonale Andeutungen. Aufgrund der blockhaften Instrumentation verschwimmen die bereits in sich schwebenden Akkorde nur partiell zu einem Gesamtklang. Ihre Überlagerung potenziert vielmehr die harmonische Vieldeutigkeit durch das Oszillieren zwischen verschiedenartigen tonalen Allusionen. Die oftmals zu tiefe Intonation, das mikroharmonische Absinken und die unvollständigen Anklänge an a-Moll und d-Moll, die selten zum vollständigen Dreiklang ergänzt werden, führen zur sanften Verschleierung des Gemeinten, die eine eigentümliche Melancholie entstehen lässt, welche in manchem an die Romane von Smolkas berühmtem Landsmann Milan Kundera erinnert.

 

Der 2. Satz wird geprägt von zart schmelzenden Akkorden, die nicht synchron beginnen, sondern durch ein langsames Arpeggio allmählich aufgebaut werden. Vor dem biografischen Hintergrund des Gedenkens an Smolkas verstorbenen Vater lassen sich die langsam in die Höhe entschwebenden Akkorde zwar durchaus mit dem Topos der Verklärung assoziieren, im Mittelpunkt der Konzeption dürfte aber auch hier der klangliche Aspekt, das »faszinierende Zittern, Schauern und Glitzern« der mikrotonal aufgefächerten Akkordkomplexe stehen.

Bis T. 31 wird dieser Gestus insgesamt elf Mal mit drei unterschiedlichen Akkorden wiederholt. In T. 32 ereignet sich ein plötzlicher Einbruch der melodischen Gesten aus dem 1. Satz. Während dort jedoch die Flöten die dominierenden Streicher durch Unisono-Verdopplungen nur sanft einfärben, wechseln sich Streicher und Holzbläser nun blockhaft ab. In T. 45 kehren die sanften Akkordschichtungen zurück, bevor sich ab T. 62 dichte aufsteigende Akkorde mit den melodischen Gesten abwechseln. Der Satz klingt mit dem Topos der ansteigenden, nun jedoch deutlich reduzierten Akkorde aus (T. 131).

Der 3. Satz weist eine ähnlich blockhafte, aber kleingliedrigere Struktur auf. Das nur einmal in der Mitte des Satzes verstummende Tippen auf einer mechanischen Schreibmaschine fungiert als roter Faden und ist das klangliche Symbol für Smolkas »tiefste Erinnerung an die Musik meiner Kindheit …, der ununterbrochene Klang in unserer Wohnung«. Vor diesem Cantus firmus entfalten sich wechselnde, unterschiedlich instrumentierte Akkorde und kurze Reminiszenzen an den 1. Satz, die wie eine Folge aus unterschiedlichen, fast beziehungslosen Erinnerungen aneinandergereiht werden.

Auch im 2. und 3. Satz folgt die Harmonik Smolkas Programm einer Neubelebung tradierter Klänge. Tonale Anklänge erscheinen oftmals unverstellt, werden aber meist unterschiedlich stark verfremdet und dadurch eingetrübt.


Notenbeispiel 2: Martin Smolka, My My Country, 2. Satz, T. 7–12, © 2012 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden


Notenbeispiel 3: Die nacheinander eintretenden Akkordtöne in der Reihenfolge ihres Eintretens (alle Töne werden lang ausgehalten und verbinden sich zu vielstimmigen Akkorden). Die Ziffern über den Noten geben die Abweichung zu den temperierten Tonstufen in Cent an.

Der häufig wiederholte Akkord, der erstmals zu Beginn des 2. Satzes auftritt, entfaltet aufgrund engräumiger mikrotonaler Schichtungen einen »wild flüsternde(n) Tanz« von schillernden Schwebungen. Durch die Skordatur der Harfen und die präzise Ausnutzung der natürlichen Streicher-Flageoletts tritt jede temperierte Tonstufe in mehreren mikrotonalen Varianten auf. Zugleich enthält der Akkord schattenhafte Spuren von e-Moll, die durch seine sukzessive Schichtung verstärkt werden, lassen sich die nicht dreiklangseigenen Töne b und fis doch als Leittöne zu h und g, die Töne c und cis hingegen als zusätzliche Sexten deuten. Die tonalen Anklänge des nächsten Akkords (T. 7) oszillieren zwar ebenfalls in schillernder Weise zwischen D-Dur, h-Moll und fis-Moll. Die Qualität der Allusionen gewinnt aber an Deutlichkeit. Der Grund dafür ist die Zurücknahme des mikrotonalen Unschärfebereichs, die dadurch entsteht, dass es meist nur eine mikrotonale Variante von jeder Tonstufe gibt. In T. 27 f. resultiert ein deutlicher tonaler Anklang durch eine (fast) konsequente Terzschichtung. T. 51 beginnt mit einem mikroharmonisch leicht verfremdeten b-Moll-Akkord, bevor dieser von einem Cluster aus eng beieinander liegenden Zieltönen überlagert wird. Die Terzschichtung in T. 56 beginnt mit einem unverstellten e-Moll-Akkord, bevor die fortgesetzte Überlagerung von Akkordtönen die Deutlichkeit der tonalen Allusionen verwischt. Das immergleiche Strukturprinzip aus langsamen Arpeggien und die überaus sorgsame Modellierung der Akkorde lässt die unterschiedlichen Qualitäten der Anklänge an vertraute Harmonien zum wesentlichen Konstruktionsprinzip und zur zentralen Eigenschaft der Musik werden.

Im 3. Satz werden die sehr unterschiedlichen harmonischen Qualitäten, die zwischen atonalen, mikroharmonischen Clustern und (annähernd) reinen Mollakkorden changieren, noch offener ausgestellt. In den ersten drei Bläserakkorden sind konsonante Strukturmerkmale so stark mit dissonanten verschränkt, dass sie größtenteils neutralisiert werden und die Wirkung von atonalen Gebilden dominiert. Der Flötenakkord in T. 2 besteht aus dem Rahmenintervall der kleinen Terz und ist mit mikroharmonischen Zwischenstufen zu einem engräumigen Cluster aufgefüllt, bei dem allenfalls »die Andeutung einer konsonanten Qualität durch die Stimmung der Kanten gewährleistet (ist), zum Beispiel das Intervall der kleinen Terz, das wie eine auratische Kontur hervortritt«. Später erzeugt ein mikrotonaler Cluster zwischen einem c und einem sechsteltönig erniedrigten es in mehreren Oktaven dichte Schwebungen (T. 24–27). Die zwei ineinander verschränkten Dezimen (T. 1) bzw. Terzen (T. 3) verschmelzen aufgrund der einheitlichen Instrumentation klanglich stark miteinander, sodass deren konsonante Qualitäten weitgehend hinter ihrer Wahrnehmung als chromatische Akkorde bzw. diatonische Cluster verschwinden (vgl. Notenbeispiel 2). Bei einer ganz ähnlichen Konstellation in T. 68 lassen sich die beiden Kleinterzen viel distinkter voneinander unterscheiden, werden sie mit Saxofonen (c′ – es′) und Hörnern (bdes′) doch nach Instrumentengruppen getrennt.


Notenbeispiel 4: Martin Smolka, My My Country, Anfang des 3. Satzes, © 2012 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden


Notenbeispiel 5: Martin Smolka, My My Country, 3. Satz, T. 43–48 (Ausschnitt), © 2012 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

Die tonale Qualität von T. 4–7 hingegen steigt im Vergleich zum Anfang sprunghaft an. In T. 4 spielen die Violinen einen reinen a-Moll-Akkord mit dem oben liegenden, dissonierenden Ton h′′, der den Eindruck eines Nonvorhalts vermittelt. In T. 5–7 wechseln sich Flöten und Streicher mit einer zu kleinen Mollterz g′ – b′ (Verhältnis 7 : 6) ab, zu der in den ersten beiden Flöten die kaum hörbare Quarte c′′ und Quinte d′′ treten. Ähnlich deutliche konsonante Klänge treten auch später auf. In T. 44 spielt die Harfe nacheinander eine pure, wenngleich zu tiefe Mollterz (7 : 6) und einen verfremdeten g-Moll-Akkord, gefolgt von einem Flageolett-Akkord der Streicher, die die Töne c, g und b wiederholen und um eine leere Quinte da ergänzen. Die Stelle entfaltet eine harmonisch mehrdeutige Konstellation. Die Klänge der Harfe – in der Aufnahme der Uraufführung ist der Ton d′′′ kaum hörbar – lassen sich gleichermaßen als Changieren zwischen c-Moll und g-Moll sowie als c-Moll-Septnonakkord interpretieren, der Akkord der Streicher als polytonales Gebilde eines c-Moll-Septakkords mit dissonierender leerer Quinte. Die Deutlichkeit, mit der die Passage durmolltonale Allusionen entfaltet, wird durch diese Mehrdeutigkeit jedoch nur unwesentlich beeinträchtigt.

II Blue Bells or Bell Blues für Orchester (2011)


Notenbeispiel 6: Martin Smolka, Blue Bells or Bell Blues, T. 21–30 (Ausschnitt), © 2011 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden


Notenbeispiel 7: Martin Smolka, Blue Bells or Bell Blues, Strukturtyp der ansteigenden Streicherakkorde, hier T. 94–99 (Ausschnitt), © 2011 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

In charakteristischer Weise gewinnt Smolka auch in Blue Bells or Bell Blues für Orchester (2011) eine Reihe an kompositorischen Strukturen, die sich aufgrund ihrer modellhaften Profilierung und ihrer häufigen Wiederholung klar voneinander unterscheiden lassen und dadurch einen hohen Wiedererkennungswert erlangen. Das Stück beginnt mit einer klanglichen Situation, die sich als »Wechselnoten«-Struktur bezeichnen lässt. Diese setzt sich aus mehreren strukturellen Elementen zusammen, die variiert wiederholt werden: einem kontinuierlichen Tonwechsel zwischen a′′ und gis′′ im Sechzehntelrhythmus, der durchgängig von einer der beiden Harfen gespielt und bisweilen kurzzeitig von anderen Instrumente wie Celesta oder Saxofon unterschiedlich eingefärbt wird, einem melodischen, signalartigen Ruf der Violinen, die ebenfalls beim Ton a′′ beginnen, vom darauffolgenden gis′′ jedoch zum h′′ aufsteigen, sowie einer Schicht aus sanften Akkorden mit unterschiedlich deutlichen tonalen Anklängen. Ähnlich wie in My My Country wird das Ruf-Motiv der Violinen häufig durch die Piccoloflöte fast unhörbar unisono verdoppelt und somit sehr fein eingefärbt.

In T. 38 treten erstmals vollgriffige, aufsteigende Streicherakkorde auf, die sich wie Wellen emporschaukeln. Diese »Akkordanstiegs«-Struktur wechselt sich blockhaft mit der zarten »Wechselnoten«-Struktur ab, bevor in T. 53 ein dritter Texturtyp erstmals auftritt, der aus an- und abschwellenden ausgehaltenen Akkorden besteht, die sich in einzelnen Instrumentengruppen wellenförmig überlagern. Nach einer kurzen Phase der Verdichtung und Beschleunigung kehren in T. 95 die aufsteigenden Akkorde und in T. 106 die Wechselnoten des Anfangs zurück. Letztere werden nun jedoch mikroharmonisch variiert und teils anders instrumentiert. So verschiebt sich die Balance des melodischen Signalmotivs von den Violinen zu den Flöten. In T. 133 erscheinen erneut die aufsteigenden Akkordüberlagerungen, die von einer bis T. 179 reichenden Steigerung und Verdichtung geprägt sind. Die sich in T. 180 ereignende plötzliche Zurücknahme geht mit der Etablierung eines vierten Strukturtyps einher, der aus statischen, mikrotonal changierenden Akkordflächen besteht. Dieser Formteil ist von einer groß angelegten allmählichen Verdichtung (bis etwa T. 256) und anschließenden Zurücknahme (bis T. 303) geprägt. In T. 304 kehrt die variierte »Wechselnoten«-Struktur im schnellen Wechsel mit der »Akkordanstiegs«-Struktur zurück. Eine Steigerung mündet schließlich in einen lang ausgehaltenen Akkord (T. 419–424). Eine rasche Dichtereduktion der Wechselnoten in Verbindung mit glockenähnlichen Akkorden fungiert als Epilog (T. 425–449).

Trotz mancher Variationen und unterschiedlichen Kontextualisierungen der insgesamt vier grundlegenden Strukturtypen ist die großformale Anlage des Werkes sehr klar und deutlich:


TaktStrukturtypus
1–37»Wechselnoten«-Struktur [1]
38–52»Akkordanstiegs«- und »Wechselnoten«-Struktur blockhaft abwechselnd [1/2]
53–94wellenförmige Akkordüberlagerungen [3]
95–105»Akkordanstiegs«-Struktur [2]
106–132»Wechselnoten«-Struktur [1]
133–179»Akkordanstiegs«-Struktur (Steigerung und Verdichtung) [2]
180–303mikroharmonisches Absinken (»Blue Bells«) mit zwischenzeitlichen Verdichtungen und Reduktionen [4]
304–423»Wechselnoten-Struktur« [1] variiert im schnellen blockhaften Wechsel mit »Akkordanstiegs-Struktur« [2] mit Steigerung
424–449Wechselnoten in Verbindung mit Glockenschlägen [3]; schnelle Dichtereduktion und Fade-Out (Epilog)

Die Charakteristik der kompositorischen Strukturen und das bestimmende Entwicklungsprinzip von Verdichtung und Reduktion sind inspiriert von zwei außermusikalischen Phänomenen, auf die sie zugleich klanglich zurückverweisen: das Spiel der Wellen und das akustische Phänomen des mikroharmonischen Schwankens von Glockenklängen. Während des Schaffensprozesses überlagerten und beeinflussten sich die beiden voneinander unabhängigen Erscheinungen, wie Smolka in seinem Werkkommentar schildert:

 

»Eines der erstaunlichsten Phänomene, die man beobachten kann, wenn man Kirchenglocken hört, wird durch ihr Hin- und Herschwingen verursacht. In der Regel sinkt die Tonhöhe nach dem Schlag (wie die Blue Note im Jazz) einen Mikroton ab, um dann allmählich wieder anzusteigen. Ich fand es faszinierend, dieses Tonhöhenverhalten auf Orchesterklänge zu übertragen, vor allem auf Holzbläser.

Als ich an den Skizzen arbeitete, verbrachte ich zwei Monate am Meer. Dort habe ich wie gebannt das Wasser betrachtet. Diese Beobachtung bildete den Cantus firmus des Aufenthalts. Vielleicht haben meine Glocken deshalb eine blaue Farbe angenommen:

Blue Bells Bell Blues. Das ist mehr als nur ein Spiel mit vertauschten Wörtern und Bedeutungsverschiebungen. Es geht vor allem darum, dem Klang dieser Wörter zu lauschen. So viele ls. Der Klang der l ist rund und weich wie die Wellen des Meeres. Das b ist ebenfalls rund und stumpf, aber es kann sich überschlagen und brechen wie die Brandung. Und das lange u(e) klingt wie Wind.«8

Die biografische Konstellation ist also verantwortlich für die Begegnung der beiden Phänomene, die in Smolkas Orchesterwerk in unterschiedlicher Deutlichkeit nachgezeichnet werden. Das vorübergehende mikrotonale Absinken und Wiederansteigen eines Glockenklangs wird insbesondere ab T. 180 nahezu eins zu eins entfaltet, wozu auch der Einsatz von Glocken ab T. 237 entscheidend beiträgt. Die lautmalerische Darstellung ist jedoch nur hin und wieder von solcher Deutlichkeit. Zudem wird die Übertragung der mikrotonalen Schwankung des Glockenklangs allmählich vorbereitet. In der Wiederholung der »Wechselnoten«-Struktur ab T. 106 sinken die Zielnoten des melodischen Ruf-Motivs erstmals sechsteltönig ab, wodurch die Passage nicht nur auf den Formteil ab T. 180 vorausweist, sondern rückblickend auch der Anfang mit seinen chromatischen Wechselnoten und melodischen Rufen als musikalische Adaption des Phänomens der Tonschwankungen erkennbar wird, ohne doch ein klangrealistisches Abbild von diesen darzustellen. In ähnlicher Weise erwecken die an- und abschwellenden Akkorde ab T. 52 oder die häufig wiederholten, kurzen Steigerungszüge der ansteigenden Akkorde zwischen T. 304 und 424 ungleich stärker die Assoziation von machtvoll am Ufer anbrandenden Wellen als derselbe Strukturtyp an anderer Stelle. Ab T. 38 etwa erscheint das Bild sich überschlagender Wellen zwar alles andere als unplausibel, aufgrund der längeren Steigerungszüge, der anderen Instrumentation und der geringeren Dichte jedoch viel weniger zwingend.

Es zeigt sich also, dass Smolka die nur zwischenzeitlich in der Wahrnehmung dominierenden außermusikalischen Verweise in die strukturellen und dramaturgischen Gesetzmäßigkeiten seines Werkes einbettet. Er geht damit einen völlig anderen Weg als etwa Peter Ablinger, dessen Strategie einer instrumentalmusikalischen Abbildung außermusikalischer Klänge wie Sprache oder Alltagsgeräusche ihren Reiz gerade aus dem bewussten Ignorieren von tradierten ästhetischen Normen bezieht.9 Blue Bells or Bell Blues ist hingegen von einer friedlichen Koexistenz von musikimmanenter Logik und tonmalerischen Verweisen auf außermusikalische Realität gekennzeichnet, da die lautmalerische Nachzeichnung unverkennbar ist und doch zugleich musikalisch eigenlogischen und dramaturgischen Erwägungen folgt. Smolka verfolgt also nicht die Strategie einer naturalistischen Abbildung, sondern nähert sich vielmehr einer Herangehensweise an, der bereits Antonio Vivaldi folgte. In dessen berühmten Konzertzyklus »Die vier Jahreszeiten« aus Il cimento dell’armonia e dell’inventione op. 810 sind die tonmalerischen Elemente klar erkennbar, weisen aber zugleich einen hohen Grad an Künstlichkeit auf, insofern sie von einer wirklichkeitsgetreuen Nachahmung abweichen, um bruchlos in das musikalische Sprachsystem eingebettet werden zu können. Dadurch nehmen sie eine Mittelstellung zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen ein.

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