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Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie

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Literatur

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Wissenschaftliche, bildungspolitische und schulpraktische Ansprüche an Sprachunterricht in Internationalen Vorbereitungsklassen zu Pandemiezeiten

Elisabeth Barakos/Simone Plöger

In Internationalen Vorbereitungsklassen (IVK) werden neu zugewanderte Schüler*innen in Hamburg für ein Jahr beschult, bevor sie ins Regelsystem übergehen. Im Rahmen des bundesweiten Lockdowns musste auch der IVK-Unterricht auf virtuelle Unterrichtsformate umgestellt werden. Im Beitrag erörtern wir anhand von Daten einer Schulethnographie einer Hamburger Stadtteilschule, welche Ansprüche Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis bezüglich des veränderten Sprachunterrichts in IVKs aneinander formulieren. Mittels Stellungnahmen öffentlicher Bildungseinrichtungen, offizieller Verlautbarungen der Bildungspolitik und reflektierender Interviews mit einem Referatsleiter der Schulbehörde und IVK-Lehrkräften diskutieren wir diese diversen Ansprüche und die Herausforderungen, die in Bezug auf die Umstellung des Sprachunterrichts in der Corona-Pandemie entstanden sind. Im Beitrag relationieren wir die drei Perspektiven, die wir mittels der Reflexiven Grounded Theory nach Breuer et al. (2019) analysieren, und betten unsere Analysen in die Debatte um Bildungsgerechtigkeit (Giesinger 2012) und die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) ein.

1 Einführung

The COVID-19 pandemic has created the largest disruption of education systems in history, affecting nearly 1.6 billion learners in more than 190 countries and all continents. Closures of schools and other learning spaces have impacted 94 per cent of the world’s student population, up to 99 per cent in low and lower-middle income countries. (United Nations Policy Brief 2020)

Die derzeitige Pandemie, die durch die weltweite Verbreitung von COVID-19 verursacht wurde, wird als beispiellose globale Krise beschrieben. In Zeiten von Corona zeigt sich für das deutsche Bildungssystem eine Verschärfung bestehender Probleme an Schulen. In diesem Zusammenhang ist Bildungsungleichheit im Kontext von sprachlicher und kultureller Vielfalt kein neues Thema, hat jedoch aufgrund der coronabedingten Schulschließungen deutlich an Brisanz gewonnen. Kinder, die aufgrund sprachlicher, sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in alltäglicher Prekarität und Verwundbarkeit leben (wie in unserem Bespiel neu zugewanderte Schüler*innen), sind am schlimmsten von der Pandemie betroffen (BERA 2020). In diesem Moment der Pandemiepolitik, in der auf verschiedenen Ebenen der Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis um die Bewältigung und Lösung der Krise gekämpft wird, hat Fernunterricht für politische Behörden, Schulen, Lehrkräfte und Schüler*innen neue Bedeutung erlangt. Wir erachten es als notwendig, die verschiedenen Perspektiven und Ansprüche der genannten Akteursgruppen aufeinander zu beziehen und zu vergleichen, um das Gemeinsame, aber auch Differenzen aufzuzeigen und produktiv für das Unterrichten (nicht nur) zu Pandemiezeiten fruchtbar zu machen (vgl. auch Piller 2020: 512).

Daher erörtern wir im vorliegenden Beitrag, welche Ansprüche Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis bezüglich des Sprachunterrichts in Internationalen Vorbereitungsklassen (IVKs) aneinander formulieren. In IVKs werden neu zugewanderte Schüler*innen in Hamburg für ein Jahr beschult, bevor sie ins Regelsystem übergehen. Im Rahmen des bundesweiten Lockdowns musste auch der IVK-Unterricht auf virtuelle Unterrichtsformate umgestellt werden. Die Corona-Pandemie hat nicht nur die Schul-, sondern auch unsere Forschungspraxis vor neue Herausforderungen gestellt. Anstelle von teilnehmenden Beobachtungen im Unterricht, die auf die didaktische Ausgestaltung des Sprachunterrichts fokussieren, mussten wir auf Formate der virtuellen Ethnographie umsteigen (Hine 2017). Ausgehend von Interviews mit IVK-Lehrerinnen wurde deutlich, dass zunächst eine praxisorientierte Diskussion über die strukturellen Bedingungen der Pandemie im IVK-Bereich geführt werden muss, um daran anschließend über didaktische Maßnahmen im Fernunterricht sprechen zu können.

Im Beitrag rekonstruieren wir anhand von reflektierenden Interviews mit IVK-Lehrerinnen die Herausforderungen, die sie in Bezug auf die Umstellung ihres Sprachunterrichts fokussieren. Mittels einer reflexiven institutionellen Ethnographie (Plöger/Barakos 2021), die wir digital durchführen mussten (vgl. Hine 2017), zeigen wir, dass die Lehrerinnen vor allem auf strukturelle Ungleichheiten wie z.B. die Nichterreichbarkeit durch fehlende Endgeräte hinweisen. Die bildungspolitische Perspektive nehmen wir durch offizielle Verlautbarungen sowie anhand eines Interviews mit dem zuständigen Referatsleiter für die Beschulung neu zugewanderter Schüler*innen in den Blick. Auch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive problematisieren wir die Frage nach struktureller Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit (vgl. z.B. DivER 2020), indem wir auf die Prekarität der digitalen Unterrichtssituation insbesondere für Neuzugewanderte, die die deutsche Sprache erst lernen, hinweisen (Plöger/Barakos 2020). Im Beitrag relationieren wir die drei Perspektiven und betten unsere Analysen in die Debatte um Bildungsgerechtigkeit (Giesinger 2012), die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) und digitale Prekarität (Bourdieu 2004 [1997]) ein. Ausgehend von diesem theoretischen Rahmen zeigen wir auf, welche Ansprüche Schulpraxis, Bildungspolitik und Wissenschaft mit Blick auf die Frage nach Bildungsgerechtigkeit von neu zugewanderten Schüler*innen aneinander stellen und welche Implikationen sich daraus für Veränderungen auf institutionell-organisatorischer Ebene ergeben.

2 Theoretischer Rahmen

Wir möchten im Folgenden die Themen Bildungsgerechtigkeit, Chancengleichheit sowie digitale und sprachliche Prekarität im Kontext der coronabedingt verändernden Lernsituation neu zugewanderter Schüler*innen mit geringen Deutschkenntnissen einordnen.

„Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen“ (Rawls 1975, zitiert nach Giesinger 2012: 1). Nicht nur zu Pandemiezeiten stellt sich die Frage, inwiefern Bildungsinstitutionen in Deutschland dieser Tugend nachkommen. In Zeiten von Schulschließungen wirft die These aber in besonderer Weise die Frage danach auf, wie Institutionen Gerechtigkeit nachkommen können, wenn doch das Konstitutive für Bildung in sozialen Institutionen die Interaktionsebene des Unterrichts ist, die auf der Anwesenheit der Teilnehmenden beruht.

Zunächst ist aufzeigen, wie wir Bildungsgerechtigkeit in Anlehnung an Giesinger verstehen und auf die Frage nach der Verteilung von Bildung beziehen (vgl. Giesinger 2012). Giesinger, der sich auf Rawls Ausführungen stützt, führt an, „Gerechtigkeit habe stets mit der fairen Berücksichtigung individueller Ansprüche zu tun“ (2012: 2). Für den Unterricht mit neu zugewanderten Schüler*innen wirft das die Frage auf, wie ihre individuellen sprachlichen, sozialen und kognitiven Ansprüche fair berücksichtigt werden können. Giesinger differenziert seine Konzeption des Begriffs Bildungsgerechtigkeit in drei Prinzipien aus, die wir für unseren Blick auf die Ansprüche aus Wissenschaft, Bildungspolitik und Schulpraxis weiterdenken:

1 „Grundbildung“ – Allen Schüler*innen soll ermöglicht werden, die Kenntnisse zu erwerben, die „für das Leben als Staatsbürger mit vollwertigen [sic!] Status nötig sind“ (Giesinger 2012: 17). Da diese Kenntnisse in der monolingualen Schule auf Deutsch vermittelt werden, muss es zu einer Grundbildung gehören, die Schüler*innen zunächst mit der Bildungssprache Deutsch auszustatten.

2 „Fairer Wettbewerb um soziale Positionen“ – Ein Zugang zu Bildung darf weder durch „finanzielle Hürden“ noch durch „Diskriminierung“ (Giesinger 2012: 17) behindert werden. Beides ist insbesondere für neu zugewanderte Schüler*innen kritisch zu prüfen (vgl. zur institutionellen Diskriminierung und IVKs Plöger in Vorb.).

3 „Unterschiedsprinzip“ – Wenn Schüler*innen ungleich behandelt werden, müssen sich ungleiche Maßnahmen „zum Vorteil der am wenigsten Bevorzugten auswirken“ (Giesinger 2012: 18). Mit Blick auf die Schulschließungen stellt sich hier die Frage danach, welche Klassen prioritär bei Schulöffnungen berücksichtigt werden sollten.

Diese Prinzipien weisen auf soziale Ordnungen und Systemlogiken hin, die von Bildungssystemen reproduziert werden und sich in Ungleichheiten von Bildungschancen, insbesondere in Bildungsbiographien Neuzugewanderter mit keinen bis geringen Deutschkenntnissen manifestieren.

In diesem Kontext weisen, unabhängig von globalen Krisenzeiten, Bourdieu und Passeron bereits in den 70er Jahren auf die „Illusion der Chancengleichheit“ im französischen Bildungssystem hin. Diese zeigt sich in der Reproduktion von Ungleichheiten innerhalb des Bildungssystems. Bezogen auf Sprache erreichen solche Lernende bessere Leistungen, die die Sprache der Schule bereits in ihrer familiären Umwelt erwerben, da die Schule zwar „ein bestimmtes sprachliches und kulturelles Kapital […] voraussetzt und anerkennt, ohne es je ausdrücklich zu verlangen oder methodisch zu vermitteln“ (Bourdieu/Passeron 1971: 157; vgl. für den deutschen Kontext in Bezug auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit auch Gogolin/Lange 2011; Tracy 2014). Bourdieu und Passeron sprechen von „sozialen Klassen“ und konstatieren, dass die „Beziehungen zwischen dem Bildungssystem und den sozialen Klassen als einfache Kommunikationsbeziehungen“ (1971: 160) zu verstehen seien. Daraus ergibt sich, dass durch die Art und Weise der Kommunikation Ungleichheiten zwischen Schüler*innen reproduziert werden. Dies gilt für alle Schüler*innen unabhängig ihrer sprachlichen Sozialisation; in besonderer Weise aber für solche, die mehrsprachig sozialisiert sind, worauf wir im Folgenden schauen.

Prekarität ist überall, hat Bourdieu konstatiert. Bekannt geworden ist dieses Konzept vor allem in seinen soziologischen Arbeiten (Bourdieu 2004 [1997]). Prekarität ist im 21. Jahrhundert zu einem Schlüsselbegriff in der wissenschaftlichen Forschung geworden, vorwiegend als Reaktion auf politische Mobilisierungen gegen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung (Kasmir 2018). Obwohl wir hier nicht auf die komplexe Begriffsgeschichte dieses Konzepts eingehen können (vgl. Spitzmüller et al. 2020), möchten wir den Begriff im Folgenden nach Bourdieu einordnen.

Bourdieu rahmt Prekarität vor allem ökonomisch als Folge neoliberaler Wirtschaftsordnungen und Gesellschaftsentwicklungen und als Kritik unsicherer Arbeits- und Lebensumstände. Für ihn bedeutet es „Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt“ (Bourdieu 2004 [1997]: 108, 111). Prekarität ist somit stark an Unsicherheit gekoppelt und findet sich im privaten als auch öffentlich Bereich wieder, z.B. in Beschäftigungsverhältnissen sowie dem Bildungswesen und dem Zugang zu und Umgang mit Medien.

In Bezugnahme auf die Illusion der Chancengleichheit im Bildungsbereich Schule und vor allem der IVKs in Pandemiezeiten manifestiert sich Prekarität vor allem in zwei Feldern: einerseits die digitale Prekarität und andererseits die Prekarität der Mehrsprachigkeit. Digitale Prekarität drückt sich in der Umstellung auf Online- und digitale Bildungsformate als Folge der Massenschließung von Schulen (vgl. Williamson et al. 2020; Bremm/Racherbäumer 2020) aus. Wie wir in unserem Beitrag aufzeigen, äußert sich die digitale Prekarität der Unterrichtssituation für Neuzugewanderte vor allem in der Nicht-Erreichbarkeit der Schüler*innen durch fehlende Endgeräte, die fehlende Infrastruktur zuhause (Internetanschluss, Computer oder Druckgeräte) sowie das erschwerte Arbeiten mit digitalen Medien im Fernunterricht (vgl. Frohn 2020). Van Ackeren et al. (2020: 246) sprechen hier auch von einer „Facette des digital gap, der digitalen Kluft innerhalb unserer Gesellschaft“.

IVKs-Klassen sind aber auch Orte prekärer Mehrsprachigkeit. Arabisch, Farsi, Kroatisch oder Kurdisch sind nur einige von vielen Herkunftssprachen neu zugewanderter Schüler*innen in Hamburg (vgl. Fürstenau et al. 2003 zu herkunftssprachlichem Unterricht in Hamburger Grundschulen). Das existierende sprachliche Repertoire wird gegenüber Deutsch (als Sprache der Integration) und anderen dominanten Sprachen Westeuropas (z.B. Englisch, Französisch oder Spanisch) stratifiziert und (de)valorisiert. Dies führt zu einer Hierarchie von Sprachen und Sprecher*innen im Sinne einer elitären oder einer prekären Art der Mehrsprachigkeit (Barakos/Selleck 2019), die Defizitperspektiven und breitere strukturelle Ungleichheiten im Zusammenhang mit Migration hervorhebt und fördert. Neuzugewanderte befinden sich in gleichzeitigen Sprach- und Fachlernprozessen. Sie werden in getrennten Klassen unterrichtet, in denen sie einen additiven Deutschunterricht erhalten, da das einsprachige reguläre Schulsystem, vielfach unter dem monolingualen Habitus der Schule kritisiert (vgl. Gogolin 1994), noch immer nicht auf die (sprachliche) Vielfalt der Schüler*innen ausgerichtet ist. Panagiotopoulou und Rosen (2018: 394) sprechen von einer „Denied inclusion of migration-related multilingualism“, wo Herkunftssprachen im Unterricht weder berücksichtigt noch sozial wertgeschätzt werden (für Möglichkeiten eines wertschätzenden Umgangs vgl. Dlugaj/Fürstenau 2019). Solche „linguistic inequalities“ (Piller 2020) werden im Rahmen der COVID-19-Pandemie besonders deutlich, wie wir noch zeigen werden.

 

Diese hier skizzierten Ungleichheiten und Prekaritäten gelten in besonderem Maße für neu zugewanderte Schüler*innen mit geringen Deutschkenntnissen, die durch die Pandemie in ihrem Zweitspracherwerb verstärkt ausgebremst und benachteiligt werden. Wenngleich wir es ebenso wie Gamper et al. (2020) als problematisch erachten, dass Vorbereitungsklassen „als geschlossenes Klassensystem eine Homogenität der Schülerschaft suggerieren, die in der Realität kaum vorzufinden ist“, erachten wir es für notwendig, die Schüler*innen in diesem Kontext als eine Gruppe zu betrachten, die gleichermaßen von digitaler Prekarität und einer prekären Mehrsprachigkeit betroffen ist.