Handbuch des Strafrechts

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3. Straffähigkeit

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Von der traditionellen Auffassung[261] wird die Straffähigkeit von Verbänden bestritten, da diese nicht strafempfänglich und damit nicht straffähig seien. Eine Strafe als sozialethisches Unwerturteil müsse vom Verurteilten als „Übel“ empfunden werden können, um seine Sühne und Resozialisierung zu erreichen und für Genugtuung beim Opfer zu sorgen. Zu menschlichen Empfindungen und Entscheidungen sei ein Verband als „seelenloses Gebilde“ jedoch nicht fähig, so dass die mit einer Strafe verfolgten Strafzwecke nicht erreichbar seien.[262] Prägnant hatte diesen Mangel bereits Lord Chancellor Edward Thurlow (1731–1806) formuliert: „No soul to be damned, no body to be kicked“.[263] Im Übrigen wäre eine Verbandsgeldstrafe im Falle der Uneinbringlichkeit ohnehin nicht durchsetzbar, da die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe nicht möglich sei.[264]

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Die Gegenauffassung[265] geht dagegen zu Recht davon aus, dass Verbände strafempfänglich und damit straffähig sind. Denn Verbände sind nicht nur ansprechbar für den mit einer Verbandsstrafe verbundenen finanziellen Eingriff, sondern ebenso für das in der Strafe zum Ausdruck kommende sozialethische Unwerturteil. Verbände werden durch Menschen mit Leben erfüllt, die eine Verbandsstrafe als „Übel“ empfinden können. Die Verbandsstrafe kann damit nicht nur dazu beitragen, dass die in dem sanktionierten Verband tätigen Menschen sich künftig rechtstreu verhalten, sondern sie kann Menschen, die in anderen Verbänden tätig sind, verdeutlichen, welche Folgen Taten haben.[266] Damit entfaltet die Verbandsstrafe mittelbar nicht nur repressive, sondern auch spezial- und generalpräventive Wirkung. Weder ist das Leidensempfinden ein konstituierendes Merkmal der Strafe, da sonst besonders skrupellose Täter straffrei zu stellen wären,[267] noch Sühne ein zwingendes Element, da sie bei Menschen ebenfalls nicht erzwingbar ist.[268] Außerdem ist bei Verbänden eine Resozialisierung durch den Austausch von straffällig gewordenen Leitungspersonen oder die Einsetzung eines Kurators denkbar.[269] Einer drohenden Uneinbringlichkeit einer Verbandsgeldstrafe kann der Gesetzgeber durch Sicherungsmaßnahmen entgegensteuern.[270] Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass durch § 30 OWiG jedenfalls die Ahndungsfähigkeit von Verbänden bereits normativ anerkannt ist, da die Geldbuße den betreffenden Verbänden ein „Übel“ zufügt und in ihr ein schwaches sozialethisches Unwerturteil (Rn. 26) zum Ausdruck gelangt.

4. Doppelbestrafung

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Nach der traditionellen Auffassung[271] kann die Verbandsstrafe eine unzulässige Doppelbestrafung darstellen und damit gegen den Grundsatz „ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) verstoßen. Eine Leitungsperson könne sowohl durch die Individual- als auch durch die Verbandsstrafe beschwert sein. Offensichtlich sei dies nicht nur bei der Einmann-GmbH, sondern auch bei Familienunternehmen. Zudem könne es bei einer wirtschaftlichen bzw. rechtlichen Verflechtung zu einem Nebeneinander der Strafbarkeit mehrerer Verbände kommen.[272]

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Die Gegenauffassung[273] verneint mit Recht eine Doppelbestrafung, da die Leitungsperson und der Verband jeweils eigene Rechtspersönlichkeiten haben und der Grundsatz „ne bis in idem“ es nicht verbietet, gegen verschiedene Personen Sanktionen bzw. gegen eine Person mehrere Sanktionen auszusprechen. Dasselbe gilt im Verhältnis mehrerer Verbände zueinander. Daher muss es zulässig sein, neben einer Individual- eine Verbandsstrafe zu verhängen bzw. gegen zwei Verbände jeweils eine Verbandsstrafe. Im Übrigen besteht diese Problematik bereits bei § 30 OWiG. Wenn die natürliche und die juristische Person wirtschaftlich gesehen weitgehend oder völlig identisch sind, ist dieser besonderen Konstellation im Rahmen des Opportunitätsprinzips oder bei der Rechtsfolgenbemessung durch die Abstimmung der Sanktionen Rechnung zu tragen.[274] Entsprechend kann in einem Verbandsstrafrecht durch prozessuale Regelungen bzw. bei der Strafzumessung sichergestellt werden, dass im Ergebnis keine Doppelbestrafung stattfindet.[275]

5. Kollektivbestrafung

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Schließlich bewertet die traditionelle Auffassung[276] die Anordnung einer Verbandsstrafe als Mitbestrafung Unschuldiger und damit als Verstoß gegen den Schuldgrundsatz. Die Verbandsstrafe treffe alle Menschen, die dem Verband angehören, und sei deshalb eine Kollektivstrafe. Die Mitbestrafung der Verbandsangehörigen sei gerade keine unerwünschte, sondern eine „überaus erwünschte“ Folge, da sie veranlasst werden sollen, Veränderungen vorzunehmen.[277] Hinzu komme, dass ein Einzelner i.d.R. keine Möglichkeit der Einflussnahme habe.[278] Und schließlich bestimme sich das Maß der Mitbestrafung eines Anteilseigners nach seiner finanziellen Beteiligung und nicht nach seiner persönlichen Verantwortung für die Tat.[279]

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Die Gegenauffassung[280] hält dem zu Recht entgegen, dass allein dem Verband ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht wird. Die Menschen, die dem Verband angehören, sind weder angeklagt noch wird gegen sie eine Strafe ausgesprochen noch sind sie im Fall einer Verurteilung vorbestraft. Daher liegt keine „Mitbestrafung“, sondern nur ein „Mitbetroffensein“ vor. Wenn Anteilseigner Einbußen hinnehmen müssen oder Mitarbeiter den Arbeitsplatz verlieren, sind dies lediglich mittelbare Wirkungen. Auch von Individualstrafen sind i.d.R. Menschen mitbetroffen, zu denen enge familiäre und persönliche Bindungen bestehen.[281] Die Verbandsstrafe trifft dagegen eine freiwillig eingegangene „Risikogemeinschaft“, bei der die Mitglieder nicht nur die Vorteile, sondern ebenso die Nachteile tragen müssen.[282] Das ist zulässig und hält sich auch bei Unternehmen im Rahmen der Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG),[283] da die Anteilseigner diejenigen sind, die den Betrieb veranlasst haben und sich die Verbandsstrafe nur als Schmälerung ihrer Gewinnerwartungen darstellt. Es handelt sich also nicht um eine „Kollektivstrafe“, sondern allenfalls um eine „Kollektivhaftung“.[284] Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Verbandsgeldbuße des § 30 OWiG finanziell vergleichbare Auswirkungen hat, sondern bereits heute deutsche Aktionäre durch ausländische Verbandsstrafen mitbetroffen sind.[285]

II. Rechts- und kriminalpolitische Aspekte

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Äußerst umstritten ist, ob für die Einführung eines Verbandsstrafrechts ein rechts- und kriminalpolitisches Bedürfnis besteht. Während dies traditionell[286] verneint wird, fordert die Gegenauffassung[287] schon seit langem ein Verbandsstrafrecht. Die komplexe Diskussion wird unter vielen Aspekten geführt:

1. Internationales und europäisches Recht

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Einigkeit[288] besteht, dass die Einführung eines Verbandsstrafrechts nach den Vorgaben des internationalen und europäischen Rechts nicht verpflichtend ist. Vorschriften zur Verantwortlichkeit juristischer Personen gehören heute zwar zum „Standardrepertoire“,[289] jedoch sind stets nichtstrafrechtliche Lösungen zulässig. Hierin spiegelt sich wider, dass zahlreiche Rechtsordnungen die Strafbarkeit juristischer Personen früher nicht vorsahen und trotz des Trends in den Auslandsrechten zur Einführung von Verbands- bzw. Unternehmensstrafrechten (Rn. 92) eine derartige rechtliche Verpflichtung bislang nicht konsensfähig ist.

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Auf der internationalen Ebene lassen es das „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität“ vom 15. November 2000 und das „Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption“ vom 31. Oktober 2003 ausreichen, dass die Verantwortlichkeit juristischer Personen „strafrechtlicher, zivilrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Art“ ist (Art. 10 Abs. 2 bzw. Art. 26 Abs. 2). Offen bleibt hierbei zudem, an wessen Straftaten angeknüpft wird (Art. 10 Abs. 1: „Teilnahme“, „Begehung“ durch die juristische Person; Art. 26 Abs. 1: „Beteiligung“). Ebenso genügen nach den Empfehlungen der Financial Action Task Force (FATF) vom Februar 2012[290] straf-, zivil- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen (Nr. 35). Nach dem „Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr“ der OECD vom 17. Dezember 1997 ist dagegen weitergehend sicherzustellen, dass juristische Personen – sofern sie in einer Rechtsordnung nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können – „wirksamen, angemessenen und abschreckenden nichtstrafrechtlichen Sanktionen einschließlich Geldsanktionen“ unterliegen (Art. 3 Abs. 2).

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Der Europarat appellierte in seiner „Empfehlung Nr. R (88) 18“ vom 20. Oktober 1988[291] zwar an die Mitgliedstaaten, eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen vorzusehen, hob aber zugleich hervor, dies sei nicht das einzige Mittel. Das spiegelt sich in den Konventionen wider. So muss z.B. nach dem „Übereinkommen über die Computerkriminalität“ vom 23. November 2001 nur sichergestellt werden, dass juristische Personen „wirksamen, verhältnismäßigen und abschreckenden strafrechtlichen oder nichtstrafrechtlichen Sanktionen oder Maßnahmen, einschließlich Geldsanktionen“, unterliegen (Art. 13 Abs. 2). Die Verantwortlichkeit knüpft gemäß dem Zurechnungs- oder Repräsentationsmodell (Rn. 124) an die Straftat einer natürlichen Person in einer „Führungsposition“ bzw. die „mangelnde Überwachung oder Kontrolle“ seitens einer natürlichen Person in einer Führungsposition an, welche die Begehung einer Straftat zugunsten der juristischen Person „durch eine ihr unterstellte natürliche Person“ ermöglicht hat (Art. 12 Abs. 1 und 2).

 

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Auch in der EU mussten bereits nach dem vom Rat ausgearbeiteten „Zweiten Protokoll zum Übereinkommen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften“ vom 19. Juli 1997 die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass gegen juristische Personen Sanktionen verhängt werden, zu denen „strafrechtliche oder nichtstrafrechtliche Geldsanktionen gehören und andere Sanktionen gehören können“ (Art. 4).[292] Wiederum ist eine Verantwortlichkeit der juristischen Person für ihre Führungspersonen gemäß dem Zurechnungs- oder Repräsentationsmodell (Rn. 124) festgelegt. Entsprechende Regelungen enthalten die nachfolgenden Rahmenbeschlüsse und Richtlinien.[293] Auch die neue Richtlinie (EU) 2017/1371 „über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug“ verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu sicherzustellen, dass gegen eine juristische Person „wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängt werden können, zu denen Geldstrafen oder Geldbußen gehören und die andere Sanktionen einschließen können“.

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Eine Strafbarkeit „juristischer Personen und Vereinigungen“ sah bislang nur das auf eine Initiative der Europäischen Kommission in den 1990er Jahren zurückgehende, damals mangels Strafrechtskompetenzen der EU nicht umgesetzte Projekt eines „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU“ vor (Art. 14 in der Fassung von 1998[294]; Art. 13 in der Endfassung von 2000[295] – sog. Corpus Juris Florenz). Die Verantwortlichkeit sollte auch hier gemäß dem Zurechnungs- oder Repräsentationsmodell (Rn. 124) an die Begehung von Straftaten durch Organe, Vertreter oder andere Personen „mit Entscheidungsbefugnis“ anknüpfen.

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Allerdings ist in den letzten Jahren der rechtspolitische Druck auf Deutschland gewachsen. So empfahl z.B. die OECD im Frühjahr 2011,[296] den deutschen Gerichten weitere Sanktionen gegen juristische Personen zur Verfügung zu stellen. In einer Mitteilung zur europäischen Strafrechtspolitik vom 20. September 2011[297] führte die EU-Kommission aus, die geltenden Rechtsvorschriften hätten bisher „die Wahl der Art der Haftung juristischer Personen für begangene strafrechtliche Handlungen immer den Mitgliedstaaten überlassen“. Angekündigt wurde, die „Effizienz des Sanktionssystems“ ebenso zu prüfen wie „die Frage, in welchem Ausmaß und aus welchem Grund es mit bestehenden Sanktionen nicht gelingt, die gewünschte Umsetzung zu erreichen“. Es ist daher zu erwarten, dass die Anforderungen an das Verbandssanktionenrecht wachsen werden.

2. Auslandsrechte

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In den Auslandsrechten[298] werden seit vielen Jahren sukzessive Verbands- bzw. Unternehmensstrafrechte eingeführt. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis ist die Strafbarkeit von Unternehmen bereits seit den 1840er Jahren in England[299] und seit 1909 in den USA[300] anerkannt. Anlass war neben der zunehmenden Bedeutung von Unternehmen infolge der Industrialisierung und ihrem hieraus resultierenden starken Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft auch deren Verwicklung in große Katastrophen.[301] In Asien kennt z.B. seit 1932 Japan[302] die Strafbarkeit juristischer Personen, China seit 1987[303]. 1991 wurden in den USA „Sentencing Guidelines“ erlassen, die Compliance-Programme und eine verstärkte Kooperation mit den Ermittlungsbehörden als Strafzumessungsfaktoren vorsahen und zu einer weltweiten Neubewertung führten.[304] Seitdem haben Verbands- bzw. Unternehmensstrafrechte in unterschiedlichen Formen verstärkt auch in Europa Einzug gehalten:[305] Island (1972), Niederlande (1976), Portugal (1984), Schweden (1986), Norwegen (1991), Frankreich (1994), Finnland (1995), Dänemark (1996), Slowenien (1996), Belgien (1999), Estland (2001), Italien (2001), Malta (2002), Kroatien (2003), Litauen (2003), Polen (2003), Schweiz (2003), Mazedonien (2004), Ungarn (2004), Lettland (2005), Österreich (2006), Rumänien (2006), Luxemburg (2010), Slowakei (2010), Spanien (2010), Liechtenstein (2011), Tschechien (2012). Dagegen ist neben Deutschland u.a. auch in Griechenland und Russland[306] eine Strafbarkeit weiterhin ausgeschlossen. Mit Blick hierauf wird angeführt, die deutsche Sicht sei eine „eher altmodisch anmutende Ausnahme“,[307] „bloße Bußgelder“ seien für einen internationalen Wirtschaftsstandort „nicht mehr zeitgemäß“.[308] Gefordert wird, den „deutschen Sonderweg“ zu verlassen.[309]

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Die Entwicklung in den Auslandsrechten kann freilich die Notwendigkeit der Einführung eines Verbands- bzw. Unternehmensstrafrechts nicht begründen,[310] zumal die im deutschen Recht bereits seit langem bestehende Verbandsverantwortlichkeit dem Strafrecht „im weiteren Sinne“ zuzuordnen ist (Rn. 26). Im Übrigen ist der „Konvergenzdruck“ auch deshalb gering, weil die dogmatischen und konzeptionellen Unterschiede groß sind. So haben zwar einige Rechtsordnungen (etwa Frankreich, Belgien, Schweiz, Portugal, Niederlande, Ungarn) ein „stringent strafrechtliches Modell“ etabliert, andere (etwa Italien[311]) sind aber einem „verwaltungsrechtlichen Modell“ gefolgt.[312] Die Unterschiede werden verbreitet damit erklärt, dass in vielen Auslandsrechten ein „pragmatisches“ oder „instrumentelles“ Verständnis des Strafrechts herrsche,[313] der Begriff Strafe „naiv und unsystematisch“[314] verwandt und häufig zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht nicht unterschieden werde. Insgesamt sei die Entwicklung durch „Uneinheitlichkeit, fehlende Systematisierung und Prinzipienlosigkeit“ gekennzeichnet.[315] Aber auch der Blick auf die praktische Bedeutung lässt keinen starken „Konvergenzdruck“ erkennen, da sich die ausländische Rechtspraxis de facto nicht wesentlich von der deutschen unterscheiden dürfte.[316] Hierfür werden zahlreiche Gründe genannt:[317] subsidiäre Ausgestaltung; Beschränkung auf bestimmte Straftaten; Geltung des Opportunitätsprinzips; mangelnde Praxistauglichkeit der Vorschriften; fehlende Ermittlungsbereitschaft der Behörden. Von der BRAK wurde sogar angeführt, die Verantwortlichkeit juristischer Personen im deutschen Recht sei im internationalen Vergleich „besonders streng und scharf“.[318] Die sog. „Schlusslichtthese“ erscheint unter diesem Blickwinkel kaum haltbar.[319]

3. Individualverantwortung

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Kontrovers wurde und wird diskutiert, ob das Individualstrafrecht zur effektiven Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität in der Rechtspraxis heute noch ausreichend ist.

a) Beweisnot und Verschleierung

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Angeführt wird von den Befürwortern eines Verbandsstrafrechts, dass in der Praxis bei Arbeitsteilungsprozessen große Aufklärungs- und Nachweisschwierigkeiten bestünden.[320] In modernen Unternehmensstrukturen würden Ausführungstätigkeit, Informationsbesitz und Entscheidungsmacht auseinander fallen. Komplexe und intransparente Strukturen, dezentrale Organisation und Lücken im Kommunikations- und Informationssystem würden die Aufklärung erschweren, zumal die Neigung bestehe, Probleme intern zu regeln und nach außen hin zu verbergen. Verstärkt werde dies dadurch, dass gruppendynamische Prozesse die Vorstellungen von Recht und Unrecht überlagern, Verhaltensweisen durch Druck „von oben“ und Loyalität zur Gemeinschaft „legitimiert“ werden könnten. Es drohe die „Verwischung“[321] der Individualverantwortung, „organisierte Unverantwortlichkeit“[322] bzw. „desorganisierte Unverantwortlichkeit“[323]. Selbst wenn ein Individualtäter identifiziert werde, sei der Vorwurf, der ihm gemacht werden könne, häufig gering. Zudem könne die Identifikation nicht nur etwas Zufälliges an sich haben („Pechvogel“), sondern dahinter könne sich auch eine gezielte Verschleierung verbergen („Bauernopfer“), um die tatsächlich Verantwortlichen zu schützen.[324]

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Dieser Argumentation ist jedoch entgegenzuhalten, dass die befürchtete Beweisnot durch „organisierte Unverantwortlichkeit“ mit empirischen Daten bislang nicht belegt ist und allenfalls sehr selten auftreten dürfte.[325] Im Regelfall sind klare Organisationsstrukturen und geordnete interne Kommunikations- und Informationssysteme vorhanden, werden Entscheidungen und Tätigkeiten fortlaufend dokumentiert.[326] Die Verantwortlichen werden daher ermittelt, auch und gerade in der Führungsebene.[327] Hierzu trägt vor allem § 130 OWiG bei, der die Leitungspersonen zur sorgfältigen Auswahl von Mitarbeitern, sachgerechten Aufgabenverteilung und Instruktion, ausreichenden Überwachung und zum Eingreifen bei Verstößen anhält. Gerade in Großunternehmen, aber auch in vielen anderen Unternehmen, wurden in den letzten Jahren verstärkt Compliance-Organisationen etabliert, die – worauf eine neuere empirische Studie[328] hindeutet – dort zu einem signifikanten Rückgang der Wirtschaftskriminalität geführt haben. In bestimmten Bereichen, wie bei Kredit- und Finanzdienstleistungsinstituten, ist die Einrichtung von Compliance-Organisationen sogar gesetzlich vorgeschrieben. Im Übrigen ist die Lösung von Beweisproblemen nicht die Aufgabe des materiellen Strafrechts, sondern des Prozessrechts.[329] Eine gezielte Verschleierung der wahren Verantwortung lässt sich auch durch die Einführung eines Verbandsstrafrechts nicht ausschließen.[330] Diesbezüglich wird auf die Erfahrungen in den USA verwiesen, wo von Unternehmen eine „Kooperation“ in Form der Belastung der für die Tat verantwortlichen Mitarbeiter erwartet wird, um die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu demonstrieren und damit eine Strafmilderung oder gar Verfahrenseinstellung zu erreichen.[331] Daher könnte auch in Deutschland der Druck auf die Unternehmen zunehmen, wenn nicht mehr bloße Geldbußen, sondern Geldstrafen drohen.[332]

b) Pflichten von Individualtätern und Zurechnungsstrukturen

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Für die Einführung eines Verbandsstrafrechts wird weiter angeführt, der Versuch, die Unternehmenskriminalität zu bewältigen, habe in der Rechtsprechung zu einer Überdehnung des Individualstrafrechts geführt.[333] Leitungspersonen seien immer strengere und häufig kaum noch erfüllbare Pflichten auferlegt worden (z.B. die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung), um zu einer Bestrafung zu gelangen. Auch Strafvorschriften, die an die Verletzung von Pflichten anknüpfen (z.B. § 266 StGB), seien so weit ausgedehnt worden, dass sie kaum noch dem Bestimmtheitsgebot genügen. Zudem seien bedenkliche Zurechnungsstrukturen anerkannt worden, wie die mittelbare Täterschaft kraft Organisationsherrschaft („Täter hinter dem Täter“) und die Mittäterschaft bei Leitungsgremien.[334] Ein Verbandsstrafrecht könne „Druck“ herausnehmen und bewirken, dass die Pflichten auf ein angemessenes Maß zurückgeführt und die Zurechnungsstrukturen auf ihren Kernbestand reduziert werden.

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Gegen diese Argumentation wird zu Recht eingewandt, dass die Rechtsprechung zwar in Einzelfällen zu weit gegangen sein mag, insgesamt aber keine Überdehnung festzustellen ist.[335] So lässt sich die „strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung“, wonach Leitungspersonen für die Nichthinderung von Straftaten untergeordneter Personen als Garanten einstehen müssen, auf Verkehrssicherungspflichten stützen; außerdem bereitet der notwendige Nachweis der strafrechtlichen Beteiligung einer Leitungsperson in der Praxis angesichts der Anforderungen an Kausalität und subjektive Tatseite regelmäßig große Schwierigkeiten, weshalb regelmäßig auf § 130 OWiG ausgewichen wird.[336] Im Übrigen ist anzunehmen, dass die Rechtsprechung auch nach der Einführung eines Verbandsstrafrechts an bereits etablierten Zurechnungsstrukturen festhalten wird.[337]