Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Zwischen Dienstleistung und Kritik

Mit dem Bildungsauftrag, auch zeitgenössische Kunst allen zugänglich zu machen, etablierte sich eine Ausstellungspraxis, die vermehrt auf Vermittlung Wert legt. Ausgangspunkt der methodischen Überlegungen für die Praxis war das Szenario des „Erstkontaktes“ zwischen Kunst und BetrachterIn. Der freie, individuelle und assoziative Zugang zu den Inhalten und der Einsatz von alltäglichen Dingen als Werkzeug der Vermittlung hatten in diesem Zusammenhang eine wichtige Funktion. Damit sollten der Einstieg in die jeweiligen Ausstellungsinhalte erleichtert und ein Raum für eigene Meinungen geschaffen werden. Die BesucherInnen „dort abzuholen, wo sie stehen“, entwickelte sich dabei zu einem standardisierten Vermittlungsansatz. Doch wo stehen die Beteiligten, und welche – vielleicht konfliktreichen – Themen bleiben unausgesprochen? 47 Die Reflexion über die Herkunft und die Funktion der mitgebrachten Bilder und Klischees, die Stereotypen und Machtverhältnisse auch reproduzieren, wurde im Laufe der 1990er-Jahre wichtiger Bestandteil für eine kritische und reflexive Arbeit, die nicht mehr unabhängig von der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen stattfinden kann. Vereinzelt findet sich diese institutionskritische Setzung schon in der Namensgebung selbst. So haben die VermittlerInnen vom StörDienst (bis 1991 Kolibri flieg) mit ihrer Umbenennung die Unmöglichkeit des „Geliebt-Werdens“, in einer Institution zum Programm gemacht (Karin Schneider 2002). Die Künstlerin Andrea Fraser beschreibt diesen reflexiven Anspruch als kritisch, das „[…] heißt, dass er nicht darauf abzielt, einen Ort oder unser Verhältnis zu ihm zu affirmieren, zu erweitern oder zu bekräftigen, sondern ihn zu problematisieren und zu verändern“.48 Ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre intensivierte sich die Reflexionsarbeit darüber, welche Rolle die VermittlerInnen selbst in ihrer Praxis einnehmen. Vermehrt gerieten in einschlägigen Medien, Vernetzungstreffen und Ausbildungsangeboten die Kommunikationsprozesse im Museum in den Blick. Eva Sturm untersucht in ihrem Buch Im Engpass der Worte (1996) die Funktion von Sprache und die in der Vermittlung zugeschriebenen Rollen „als sprechende und zuhörende, als fragende, befragte und antwortende, als erklärende, belehrende

<41|

und belehrte Subjekte“.49 Sie spricht über die „Unmöglichkeit“ des Sprechens über Kunst und die unterschiedlichen Sprechweisen, die in der Vermittlung von Kunst im Museum zusammentreffen.

Reflexivität und Wissensproduktion

In den 2000er-Jahren wurden vor allem Tagungen, Workshops und Publikationen, welche AkteurInnen aus den Bereichen Vermittlung, Kunst, Theorie und Aktivismus zusammenführen, wichtig für den Austausch über die jeweils eigenen Fragen. In der Debatte um die Positionierung und die damit verbundenen Strategien erhielt die Schnittstelle Vermittlung und Kunstproduktion eine wichtige Stellung. Die von Eva Sturm und Stella Rollig herausgegebene Tagungspublikation Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum (2002) befasst sich mit kollektiven, partizipatorischen und aktivistischen Arbeitsweisen in der Gegenwartskunst und ihren Überschneidungen mit Kultur- sowie Sozialarbeit und Kunstvermittlung. Die Vermittlung, davon wird ausgegangen, ist als besondere Form der Kommunikation für die Kunst zentral geworden und verändert sich damit selbst – sie kann selbst kunsthafte Züge entwickeln (Pierangelo Maset 2002). Die Grenzen zwischen vermittlerischer und künstlerischer Praxis, die in politische Verhältnisse eingreifen will, verschwinden und reichen über die Institution hinaus. Der gesellschaftspolitische Kontext wird in die Überlegungen zur Praxis einbezogen. Ein Projekt wie das Familienstudio Kotti 2001 von Kunstcoop© verbindet diese Ansätze und versucht, den durch Machtverhältnisse konstituierten sozialen Raum in „Un-Ordnung“ (Bill Masuch 2002) zu bringen. In diesem Zusammenhang gewinnt die eigene Positionierung im Verhältnis zu Museen und Ausstellungen als pädagogische Institutionen (Oliver Marchart 2005) an Bedeutung. Das heißt, die eigene Involviertheit in die Institution als Ort der Distinktion, Exklusion und Kanonisierung wird Thema. Mit dem 2005 erschienenen schnittpunkt-Sammelband Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen werden schließlich in einer Zusammenschau von Theorie und Praxis die Definitionsmacht in Ausstellungen analysiert und die Möglichkeiten und Grenzen einer kritischen und emanzipatorischen Praxis reflektiert.

<42|

Und jetzt? Kunstvermittlung als kritische Praxis, Handlungsmacht und Veränderung

In der Auseinandersetzung mit Hierarchien in Bezug auf Sprechen, Zeigen, Handeln und den unterschiedlichen Facetten der Teilhabe kommen vertraute Verhältnisse ins Wanken. Partizipation, die über die bloße Teilnahme hinausgeht, wird ein oft zitiertes Postulat im Ausstellungsfeld. Vermehrt finden Vermittlungs- und Ausstellungsprojekte Platz, die nicht mehr nur über oder für jemanden gedacht sind, sondern mit den Beteiligten eine Veränderung der Bedingungen, der „Spielregeln“ selbst (Nora Sternfeld 2007), zulassen. Transdisziplinarität, kollaboratives Arbeiten sowie das Aushalten von Konflikten nimmt eine immer wichtigere Rolle für die Praxis ein, die nicht danach fragt, woher die AkteurInnen kommen, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit darauf richtet, welches Verhältnis sie zueinander haben und wie sich dieses in einer offenen Form der Wissensproduktion verortet. Die Frage nach Handlungsräumen wird zentral. Das Centre for Possible Studies – ein von Janna Graham geleiteter Vermittlungsraum der Serpentine Gallery im Londoner Viertel Edgware Road – involviert die lokale Nachbarschaft in interdisziplinäre Projekte. Es geht darum, die Stadt und ihre Veränderungsprozesse zu reflektieren und aktiv an diesen teilzunehmen. Auch finden in der Vermittlungsarbeit vermehrt künstlerische Strategien in kunstfernen Feldern ihre Anwendung. So zum Beispiel in dem von 2009 – 2011 durchgeführten Projekt von trafo.K „Und was hat das mit mir zu tun?“ Transnationale Geschichtsbilder zur NS-Vergangenheit, das in den Kontexten Vermittlung, Schule, Sozialwissenschaften, Geschichtspolitik und Forschung agierte.

Was tun?, eines der drei thematischen Leitmotive der documenta 12, erhob 2007 die Bedeutung von Kunstvermittlung für Bildung schließlich in den Stand einer kuratorischen Fragestellung (Carmen Mörsch 2009). Damit erhielt die Vermittlung eine deutliche Aufwertung. Erstmals gab es eine wissenschaftliche Begleitung der Kunstvermittlung. Es wurde auch ein Beirat aus BewohnerInnen Kassels eingerichtet, der das Großereignis an lokale AkteurInnen und Themen anbinden sollte. Die anlässlich der Vermittlungsarbeit publizierten Forschungsbände geben Einblick in die vielen Facetten und Erfahrungen, die sich mit Handlungsräumen einer kritischen Praxis und deren künstlerischen, performativen, politischen, aktivistischen und theoretischen Ansätzen auseinandersetzen. Die vier von Carmen Mörsch benannten Zugänge einer affirmativen, reproduktiven, dekonstruktiven und transformativen Vermittlung bieten eine wichtige Orientierung für die Reflexionsarbeit im Feld. Das aktuelle Modellprojekt Kunstvermittlung in Transformation vom Institute for Art Education legt einen Schwerpunkt auf eine „systematische Begleitforschung“, mit der eine Qualitätssteigerung in der Praxis erwirkt werden

<43|

soll. Die Kunstvermittlung selbst wird zugleich Gegenstand und Handlungsfeld der Forschung.50

Museen und Ausstellungen werden als Orte der Wissensproduktion und der Bildung neu gedacht. Partizipation, gemeint als die tatsächliche Bereitschaft, Strukturen aufzubrechen und Definitionsmacht und Ressourcen abzugeben, erfordert die Transformation der Institutionen und damit der Bedingungen für Wissensproduktion selbst. Irit Rogoff spricht in diesem Zusammenhang von einem „educational turn in ­curating“ (2011). Sie schlägt einen Perspektivenwechsel in Bezug auf die herkömmlichen Logiken der Wissensproduktion vor. Die Vermittlung nimmt unter diesem Aspekt einen völlig neuen Stellenwert ein. Die Verhandlung darüber, wer Wissen produziert und welche Bildungsentwürfe realisiert werden, waren auch virulente Fragestellungen in der von schnittpunkt initiierten Veranstaltungsreihe educational turn in Wien (2010/11). In der Ausstellung Utopie und Alltäglichkeit. Zwischen Kunst und Pädagogik (2009) von microsillons in Genf wurden die Bildungsprozesse an der Schnittstelle von Kunst, Bildung und Erziehung selbst zum Ausstellungsgegenstand.

<44|


Abb 2 „Und was hat das mit mir zu tun?“ Transnationale Geschichtsbilder zur NS-Vergangenheit, Wien, 2009 – 2011, Büro trafo.K, Ein Projekt durchgeführt im Rahmen des Förderprogramms Sparkling Science, gefördert vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung.

<45|


Abb 3 Utopie und Alltäglichkeit. Zwischen Kunst und Pädagogik, Centre d’ Art Contemporain Genève, 27.11.2009 – 14.2.2010.

 

Angekommen oder immer noch Dazwischen?

Heute lässt sich durch ein steigendes Angebot von Zertifikatskursen und Masterlehrgängen, die in unterschiedlichen Zusammenhängen Vermittlung als wesentlichen Bestandteil der Ausbildung fokussieren, eine Implementierung des Faches an Hochschulen und Universitäten und damit eine voranschreitende Professionalisierung des Berufsfelds ausmachen. Zusätzlich spiegelt die hohe Anzahl von Web-Plattformen 51

<46|

zu Theorie, Praxis und Ausbildung die regen Debatten über die Rollen und Aufgaben von Kunst- und Kulturvermittlung wider.

Die anfangs erwähnte Forderung, Vermittlungsarbeit in die Museums- und Ausstellungslandschaft als fixen Bestandteil zu integrieren, ist weitgehend erfüllt. In der Praxis selbst ist jedoch eine kritische Vermittlung weiterhin mit der Anforderung konfrontiert, BesucherInnenzahlen im Sinne der Institution zu steigern. Damit geht eine Kategorisierung von sogenannten Zielgruppen einher, die meist in marginalisierten Publikumsschichten und Positionen verortet werden. Kunst- und Kulturvermittlung wird oft als Instrument zur „Lösung“ von gesellschaftlichen „Konfliktfeldern“ imaginiert. Themenfelder wie Migration, soziale und strukturelle Diskriminierung von Gruppen und im Rahmen von Pisa-Studien konstatierte Bildungsschwächen werden als Aufgabenfeld an die VermittlerInnen herangetragen. Es bleibt die Frage nach den Auswirkungen dieser Konstellation auf die Handlungsräume einer reflexiven und kritischen Vermittlung, nach den Potenzialen der Transformation von Institutionen und den Verhältnissen selbst. Nimmt die kritische Vermittlungspraxis ihren Anspruch ernst, geht es weiterhin darum, im Beziehungsgeflecht von Bildung, Kunst, Kultur und Politik in Verhandlung zu bleiben; ein Prozess, der immer neue Fragen nach dem Handlungsfeld des „Dazwischen“ aufwirft – auf der Suche nach immer neuen Strategien für die Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen.

<47|

Aktuelle Literaturauswahl

Mörsch, Carmen / Forschungsteam documenta 12 Vermittlung (Hg.), Kunstvermittlung 2, Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12, Zürich / Berlin 2009.

Rollig, Stella / Sturm, Eva (Hg.), Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum, Art / Education / Cultural Work / Communities, Museum zum Quadrat Bd. 13, Wien 2002.

schnittpunkt – Jaschke, Beatrice / Martinz-Turek, Charlotte / Sternfeld, Nora (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien 2005.

schnittpunkt – Jaschke, Beatrice / Sternfeld, Nora (Hg.), Educational turn. Handlungsräume der Kunst- und Kulturvermittlung, Wien 2012.

Seiter, Josef (Hg.), Auf dem Weg. Von der Museumspädagogik zur Kunst- und Kulturvermittlung, Schulheft 111, Wien 2003.

<48|

Anmerkungen

43 Maßnahmenkatalog der Sozialdemokratischen Regierung in Österreich, 1975. Siehe: Stöger, Gabriele, Museen. Orte für Kommunikation. Einige Aspekte aus der Geschichte der Bildungsarbeit von Museen, in: Josef Seiter (Hg.), Auf dem Weg. Von der Museumspädagogik zur Kunst- und Kulturvermittlung, Schulheft 111 (2003), S. 14 – 28, S. 23.

44 Aus Betrachten wurde Aktion. KURIER-Gespräch mit Direktor Alfred Schmeller über die abgelaufene Veranstaltung „Kinder zeichnen, malen, formen“ im Museum des 20. Jahrhunderts, in: Kurier, 5. Jänner 1971.

45 Heute als Mediamus Schweiz. Verband der Fachleute für Bildung und Vermittlung im Museum tätig.

46 Das Büro für Kulturvermittlung wurde 1993 aus dem Museumspädagogischen Dienst gegründet und 2004 im Rahmen der ministeriellen Umstrukturierung mit dem Österreichischen Kulturservice (ÖKS) und KulturKontakt Austria (KKA) unter letzterer Bezeichnung zusammengelegt und gemeinsam weitergeführt.

47 Vgl. Sternfeld, Nora, Der Taxispielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbst­ermächtigung, in: schnittpunkt – Beatrice Jaschke Charlotte Martinz-Turek / Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen, Wien 2005, S. 15 – 33.

48 Fraser, Andrea, Was ist Institutionskritik?, in: Institutionskritik, Texte zur Kunst, 15. Jahrgang, Heft 59, September 2005, S. 86 – 89, S. 89.

49 Sturm, Eva, Im Engpass der Worte. Sprechen über moderne und zeitgenössische Kunst, Berlin 1996, S. 14.

50 Vgl. Art Education Research 4/2011, Auf die Plätze. Kunstvermittlung und das Forschen in Verhältnissen, http://iae-journal.zhdk.ch/no-4-2/, (20.2.2012).

51 Beispielweise Kuverum.Kulturvermittlung, ein 2000 initiiertes praxisorientiertes Netzwerk von (Fach-)Hochschulen, Museums- und Berufsverbänden zur Kulturvermittlung und Museumspädagogik, http://kuverum.ch/, (20.2.2012); kunstvermittlung & kunstdialoge – praxis, theorie und diskurs wurde von Kunst- und Kulturvermittler_innen im Umfeld der Universität für angewandte Kunst Wien 2010 gestartet, http://www.kunstdialoge.at, (20.2.2012); Kunstvermittlung-Blog Museumspädagogik in der Praxis in Österreich 2008, http://kunstvermittlung.twoday.net/, (20.2.2012); ein sich mit der Zukunft der Kulturvermittlung im Web 2.0. befassender Blog, http://zukunftkulturvermittlung.wordpress.com/, (20.2.2012); die Plattform von Kulturvermittlung Schweiz ist eine Initiative der pädagogischen Hochschule PHBern, der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und der Schweizerischen UNESCO-Kommission. http://www.kultur-vermittlung.ch/, (20.2.2012).


1.4 Postkoloniale Ausstellungen im Kunstfeld
Christian Kravagna

Eine Ausstellung kann als postkolonial gelten, wenn ihre Konzeption das historische Herrschaftsverhältnis des Kolonialismus zum Ausgangspunkt einer kritischen Perspektive auf Machtverhältnisse und Unterdrückungsmechanismen nimmt, die auf der expliziten oder impliziten Vorstellung von grundsätzlichen Differenzen beruhen, welche meist über die Kategorien von Race und „Kultur“ organisiert sind. Nicht jede Ausstellung, die sich mit bestimmten Aspekten des Kolonialismus befasst, ist als postkolonial zu bezeichnen. Umgekehrt können Ausstellungen auch dann postkolonialen Charakter haben, wenn sie nicht vorrangig den historischen Kolonialismus adressieren. Entscheidend ist eine Perspektive der Veränderung von Machtverhältnissen, sowohl auf materieller als auch auf symbolischer Ebene, welche ihre historische Grundlegung in den Jahrhunderten kolonialer Herrschaft des Westens und den sie stützenden Diskursen und Repräsentationen haben. Wie vonseiten des postkolonialen Diskurses mehrfach betont wurde, bezeichnet das „post-“ in Postkolonialismus nicht einfach ein zeitliches Danach in Bezug auf die koloniale Herrschaft, sondern in erster Linie eine oppositionelle Kraft mit dem Ziel der Überwindung kolonialer Herrschaftsverhältnisse. Letztere sind mit dem offiziellen Status der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien nicht automatisch beseitigt. Denn der Kolonialismus hat ein Nachleben in neokolonialen Abhängigkeits-, Ausgrenzungs- und Ausbeutungsstrukturen, sowohl entlang der Machtachse von ehemaligen Kolonisatoren und Kolonisierten als auch innerhalb der politischen und ökonomischen Ordnungen der ehemaligen Kolonien und der westlichen Gesellschaften.

In den 1990er-Jahren erfährt die postkoloniale Theorie, vertreten durch AutorInnen wie Edward W. Said, Homi K. Bhabha, Gayatri Chakravorty Spivak und Stuart Hall, breitere Rezeption in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Zur selben Zeit ist erstmals auch eine größere Dichte an Ausstellungen festzustellen, die von einer postkolonialen Perspektive geleitet sind. Als wichtiges Datum für eine postkoloniale Wende in der Ausstellungsgeschichte des 20. Jahrhunderts kann das Jahr 1989 genannt werden. In Paris (Centre Pompidou und Grande Halle de la Villette) findet eine Großausstellung statt, die auf Jahre hinaus als kritischer Referenzpunkt zahlreicher Ausstellungen, aber

<51| Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

auch künstlerischer und theoretischer Formulierungen zur Revision tradierter Vorstellungen von moderner und zeitgenössischer Kunst im globalen Maßstab fungieren wird. Magiciens de la Terre, kuratiert von Jean-Hubert Martin, war konzipiert als „erste wahrhaft internationale Ausstellung weltweiter zeitgenössischer Kunst“ 52 und verfolgte dieses Ziel mit der Präsentation von fünfzig westlichen und fünfzig nicht-westlichen KünstlerInnen. Die Ausstellung verstand sich auch als Antwort auf die umstrittene Ausstellung Primitivism in 20th Century Art: Affinities of the Tribal and the Modern 1984 im Museum of Modern Art in New York, die – mitten in der intensiven Phase der Debatten um Postmoderne und Multikulturalismus und ihre neuen politisierten Ansätze zur Artikulation von Identität und Differenz – noch einmal das modernistische Bild von den radikalen Innovationen der künstlerischen Moderne und dem Nachweis ihrer universalen Geltung durch die „Verwandtschaft“ ihrer Formfindungen und konzeptuellen Grundlagen mit den künstlerischen Produktionen der „primitiven Kulturen“ bekräftigte. Magiciens de la Terre reagierte unter anderem auf die Kritik an dem in Primitivism verfolgten Modell der Gegenüberstellung moderner Kunstwerke, die als Schöpfungen autonomer Künstlersubjekte dargestellt wurden, mit nicht-westlichen Kunstgegenständen als anonymen Repräsentanten ihrer jeweiligen Kultur, indem die Ausstellung von einer Vorstellung der Zeitgenossenschaft von Gegenwartskunst aus allen Regionen der Welt ausging. Selbst wenn die meisten der ausgestellten Werke nun wie ihre Pendants aus der westlichen Kunstwelt mit Namen und Daten versehen waren, tat Magiciens, wie viele KritikerInnen feststellten, lediglich den Schritt vom Primitivismus der Moderne zu einem Neo-Exotismus der Postmoderne. Dieser manifestierte sich darin, dass die Kuratoren in Afrika, Asien und Lateinamerika mit Grabplastiken, Schildermalereien und Karnevalsfiguren vor allem handwerkliche und in religiöse Kulte und soziale Rituale integrierte Objekte auffanden, ganz im Gegensatz zu den konzeptuellen, diskursiv orientierten und oft technisch produzierten Werken der in Magiciens vertretenen westlichen KünstlerInnen.

<52|


Abb 4 „Magiciens de la Terre“, Paris 1989. Richard Long (an der Wand) und Yuendumu-­Gemeinschaft (am Boden). Foto: K. Ignatiadis. Courtesy Centre Georges Pompidou, Paris. Quelle: Kunstforum International, Bd. 118, 1992, S. 198.

Wurde Magiciens de la Terre von einigen als neuer „postkolonialistischer Weg der gemeinsamen Präsentation von Objekten aus der ersten und dritten Welt“ 53 gefeiert, richtete sich die Kritik an dieser neuen Inklusivität auf die Voraussetzungen, unter denen sie hier (und in zahlreichen ähnlich strukturierten Projekten der 1990er-Jahre) auftrat. Neben der neo-exotistischen Einstellung gegenüber nicht-westlicher Kunst stand die Identifikation solcher Werke und ihrer AutorInnen als repräsentativ für ihre jeweiligen regionalen Kulturen (der Mythos der Authentizität) im Zentrum der Auseinandersetzungen. Vor allem aber warf die Tatsache, dass Magiciens mit einem rein europäischen Kuratorenteam die Kunst der Welt selektierte, die Frage nach den maßgeblichen AkteurInnen solcher Ausstellungen auf. Jeder Versuch, die eurozen­trische Exklusivität der Moderne durch eine globale Perspektive auf Gegenwartskunst aufzubrechen, musste notgedrungen an der Weigerung scheitern, als selbstverständlich empfundene kuratorische Privilegien aufzugeben, die von KritikerInnen als Spiegel der ökonomischen und geopolitischen Dominanz des Westens verstanden wurden.

 

<53|


Abb 5 „The Other Story: Afro-Asian Artists in Post-war Britain“, London, Hayward Gallery, 1989. Katalogcover.

<54|


Abb 6 3. Havanna Biennale, Havanna 1989. Katalogcover.

<55|

1989 fanden aber noch zwei weitere wichtige Ausstellungen statt, die in der Historie postkolonialer Ausstellungen im Allgemeinen nicht dieselbe Berücksichtigung erfahren wie Magiciens. Rasheed Araeen, britischer Künstler pakistanischer Herkunft und selbst in Magiciens vertreten, organisierte in der Londoner Hayward Gallery die Ausstellung The Other Story: Afro-Asian Artists in Post-war Britain. Araeen, der seit den frühen 1960er-Jahren in England lebte, kämpfte über Jahrzehnte gegen das britische Kunstestablishment und dessen Weigerung, die Kunst der postkolonialen MigrantInnen jenseits zweifelhafter Sonderkategorien wie „ethnic arts“ als Teil der Nachkriegsmoderne anzuerkennen. Mit The Other Story lieferte Araeen den eindrucksvollen Nachweis einer auf der politischen und ökonomischen Grundlage der Einwanderung entwickelten Internationalität der „asiatischen“ und „afrikanischen“ KünstlerInnen der 1960er- bis 1980er-Jahre in England, die den Mainstream der engen, fast provinziellen britischen Kunstwelt weit überstieg, und verwies auf die Mechanismen, mit denen die etablierten Institutionen und die Kunstkritik diese Entwicklungen systematisch unsichtbar machten. Der politische Gehalt von The Other Story lag unter anderem in Araeens Parallelisierung des Ausschlusses „Schwarzer“ (als strategischer Terminus) Kunst in England mit der rassistischen Diskriminierung der migrantischen Arbeiterklasse.

Bereits 1984 war die Biennale von Havanna gegründet worden, um Kuba als (kulturelles) Zentrum der „Dritten Welt“ zu etablieren. Die 1989 ausgerichtete 3. Havanna Biennale unter der kuratorischen Leitung von Gerardo Mosquera gilt als Meilenstein der Entwicklung zu einer neuen globalen Ordnung der Kultur. Anstatt wie ­Magiciens in Paris in paternalistischer Geste einigen KünstlerInnen des Südens das Tor zum westlichen Kunstmarkt zu öffnen, zielte die Havanna Biennale auf eine „horizontale“ Vernetzung der Kunst des Trikont unter weitgehender Umgehung der sonst dominanten „vertikalen“ Machtachse zwischen dem Süden und dem kapitalistischen westlichen Kunstbetrieb. Bei aller politischen Allianzbildung verfing sich die Biennale nicht in andernorts fruchtlos unternommenen Bestrebungen, einen anderen Kunstbegriff für die nicht-westliche Welt zu formulieren, sondern ging von einer geteilten oder gemeinsamen Sprache der „zeitgenössischen Kunst“ auf Basis der Erfahrung der Moderne und der modernistischen Kunst aus. Sie lieferte damit eine strategische Antwort auf das „Othering“ zeitgleicher Projekte im Westen, rückte aber als eine der ersten Biennalen, die ein solches Format als zentralen Bestandteil ihrer Identität begriffen, mit Symposien den Diskurs über die Problematik des Kunstbegriffs in den Mittelpunkt des Zusammentreffens von KünstlerInnen und TheoretikerInnen aus den „Peripherien“ der (Kunst-)Welt. Die 3. Havanna Biennale organisierte neben der Hauptausstellung Tres Mundos eine Reihe kleinerer Projekte, die unter anderem auch die Bedeutung populärer Kunst für ihre jeweiligen sozialen Kontexte und die komplexen Beziehungen

<56|

zwischen kulturellen Traditionen und der Idee von Zeitgenossenschaft thematisierten. Dass die Havanna Biennale kurz darauf durch zunehmende Repressionen des kubanischen Regimes und den gleichzeitigen Ausverkauf an westliches Kapital – für den Sammler Peter Ludwig wurde vor Eröffnung der Biennale 1991 ein „Private Sale“ organisiert – ihren Stellenwert als unabhängige Plattform der „Dritten Welt“ verlor, ist auch Teil dieser post- und neokolonialen Ausstellungsgeschichte.

Wenn die genannten Ausstellungen von 1989 einen Wendepunkt markieren (der mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Niederschlagung der Aufstände auf dem Tian’anmen Platz in Beijing und der Entstehung des World Wide Web zusammenfällt), so kann dieses Datum dennoch nicht für den Nullpunkt der postkolonialen Ausstellungsgeschichte stehen. Es sollen hier zumindest zwei Ereignisse genannt werden, die sich in unterschiedlicher Weise als postkoloniale Ausstellungen avant la lettre lesen lassen. 1966 veranstaltete Léopold Sédar Senghor, Schriftsteller und erster Präsident des unabhängigen Senegal, in Dakar das Premier Festival Mondial des Arts Nègres, mit dem die durch Jahrhunderte der Sklaverei und des Kolonialismus in die Welt verstreute Schwarze Kunst und Kultur zur Feier von Dekolonisation, „Négritude“ und „Black Power“ an einem Ort zusammengeführt wurde. Afrikanische, karibische, afrobrasilianische, afroamerikanische und afro-europäische KünstlerInnen reflektierten in Ausstellungen, Symposien und diversen Events die Geschichte und den zeitgenössischen Status quo der Schwarzen Diaspora vor dem Hintergrund weiterhin bestehender rassistischer Gesellschaftsordnungen u. a. in Südafrika und den USA.

Eine der ersten in die Geschichte eingegangenen Ausstellungen, die besser als anti-kolonial denn als postkolonial zu bezeichnen ist, war La Vérité sur les Colonies. Oft als „Gegenausstellung der Surrealisten” zur Kolonialausstellung 1931 in Paris beschrieben – einem propagandistischen Unternehmen zur Einschwörung der französischen Nation auf das (zunehmend mit Widerstand konfrontierte) koloniale Projekt – ist La Vérité sur les Colonies das bemerkenswerte Beispiel einer Allianz von kolonialkritischen Kräften mit ihren je eigenen Motivationen. Tatsächlich war die surrealistische Gruppe um Louis Aragon und André Breton mit einer Gegeninformationskampagne im Stile späterer „Guerilla Communication“ aktiv geworden und wurde von der zwar ideologisch präparierten, aber ausstellungstechnisch unerfahrenen kommunistischen Anti-Imperialistischen Liga zur Kooperation an einer Ausstellung im Palais de Soviets eingeladen, die dann unter Beteiligung der panafrikanischen Organisation Ligue de Defense de la Race Nègre die Verbrechen des Kolonialismus thematisierte und die von der Kolonialausstellung angebotenen Zerrbilder der Kolonien kritisierte.

Mit der Zunahme postkolonialer Ausstellungen in den letzten zwei Jahrzehnten wird es schwieriger, einzelne Projekte exemplarisch herauszugreifen. Zugleich lässt

<57|

sich aber eine Ausdifferenzierung von thematischen Schwerpunktbildungen und unterschiedlichen Ausstellungsformaten feststellen. Von besonderer Signifikanz für den Stellenwert postkolonialer Ansätze in einem breiteren Kunstdiskurs sind zweifellos museale Großausstellungen und etablierte Biennalen. Intensive Debatten löste die 1993 Biennial Exhibition (kuratorische Leitung: Elisabeth Sussman) des Whitney Museum of American Art in New York aus, die sich den Problemen der „Cultural Politics of Identity“ und der Dekonstruktion von „Whiteness“ widmete. Keineswegs die erste Ausstellung in den USA zu diesen Fragen, die schon in den 1980er-Jahren diskutiert wurden, provozierte die offensive Artikulation des Themenkomplexes Sex, Race, Gender, kulturelle und religiöse Orientierung in einer nationalen Institution wie der vom Whitney Museum regelmäßig ausgerichteten Überblicksausstellung amerikanischer Gegenwartskunst heftige Kontroversen. Die Bedeutung von Großprojekten dieser Art liegt unter anderem darin, dass virulente, aber unterdrückte politische und gesellschaftliche Fragen nicht mehr einfach marginalisiert werden können, da sie in das „Herz“ der Nation beziehungsweise der Kunstwelt eingedrungen sind, auch wenn der dadurch ausgelöste Diskurs häufig – man könnte hier auf die erste „postkoloniale“ Documenta (Direktor: Okwui Enwezor) von 2002 verweisen – von einem konstruierten Kunst vs. Politik-Gegensatz geprägt ist, dessen Funktion auch als Technik der Repression des an die Oberfläche gekehrten Verdrängten gedeutet werden kann.

Die durch die Whitney Biennale repräsentierte Verschränkung von Postkolonialität mit Geschlechter- und Identitätspolitiken ist signifikant für Projekte der frühen 1990er-Jahre, konnte aber diverse Formen annehmen. So ging Mirage: Enigmas of Race, Difference and Desire, 1995 im Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA), von der zentralen Bedeutung Frantz Fanons für postkoloniales Denken und künstlerische Praxis aus, interessierte sich aber ausgehend von Werk und Persönlichkeit des Autors und antikolonialen Widerstandskämpfers auch für die nicht seltenen Konflikte zwischen postkolonialen, feministischen und queeren Politiken. Ein Jahrzehnt später adressierten zwei von KünstlerInnen initiierte Ausstellungen (Harem Fantasies and New Scheherazades in Barcelona, konzipiert von Fatema Mernissi sowie Veil: ­Veiling, Representation and Contemporary Art, Walsall, UK, entwickelt von Jananne Al-Ani und Zineb Sedira) die verschränkten Machtachsen von (Post-)Kolonialität und Geschlechterverhältnissen vor dem Hintergrund von Kopftuchdebatten und neuer Islamfeindlichkeit in Europa. Sie setzten die visuelle Kultur des historischen Orientalismus als für das Kolonialzeitalter zentrale Form der Differenzproduktion kritisch mit aktuellen medialen Bildproduktionen und politischen Diskursen in Beziehung, denen die Arbeiten der GegenwartskünstlerInnen die nötige Differenzierung (etwa zu den Semantiken des Schleiers) entgegensetzten.

You have finished the free preview. Would you like to read more?