Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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3. Integration: das ‚dreinamige Volk‘ und seine Literatur

Dass die jugoslawische Integration als Mission zur Konsolidierung des ‚geistigen Raums der Nation‘ erscheint und in Abhandlungen mit Titeln wie Nationalphilosophie oder Unser Jugoslawien-Ideal im Modus abstrakter kulturphilosophischer Spekulation elaboriert wird, hat neben kontextuellen auch immanente Gründe. In der Perspektive der jugoslawischen Nationalisten bedurfte der befreite und geeinte Volkskörper nach Jahrhunderten gewaltsamer Trennung und nach Jahren erzwungener Selbstzerfleischung an den Fronten des Weltkriegs in der Tat nicht nur politischer Akte und Akteure (denen man mit guten Gründen skeptisch entgegen sah), sondern vor allem der „wahre[n] und einzige[n] Aristokratie des Geistes“, um „unser Volk für den finalen Akt der jugoslawischen Revolution durch den Aufbau der ethischen Einheit der jugoslawischen Seele“ vorzubereiten.1 Mit anderen Worten: Es bedurfte geeinter Anstrengungen der kulturellen Elite zur Entwicklung des Zusammengehörigkeitsgefühls der ‚imaginierten Gemeinschaft‘ und ihrer Legitimation im Rahmen möglichst weit ausgreifender Einheitsnarrative.

Wenn auf der Suche nach der Nationalspezifik der jugoslawischen Kultur ein „angeborener Sinn für Gleichheit“ oder eine „Philosophie des Heroismus als jugoslawische Philosophie“ detektiert wird,2 oder wenn „der Glaube an die moralische Kraft und den Schaffensgeist der ganzen jugoslawischen Rasse“3 beschworen wird, dann scheinen zeittypische Denk- und Sprachmuster auf, die von der geistesgeschichtlichen und volkspsychologischen Spekulation bis zum völkischen Gedankengut in der Art von Josef Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften reichen.4 Die Forderung der Stunde bestand offenbar darin, aktuelle Diskurse für die Entdifferenzierung und Homogenisierung der endlich vereinten jugoslawischen ‚Stämme und Landschaften‘ fruchtbar zu machen.

Der Homogenitätsstiftung mit den Mitteln spekulativer Einheitsnarrative stehen im „Literarischen Süden“ freilich konkrete Maßnahmen und Vorschläge zur Integration des Kulturbetriebs zur Seite, wobei der Zeitschrift selbst aufgrund ihres gesamtjugoslawischen Bezugs- und Resonanzraums eine wichtige Rolle zukommt. Der Umfang des Projekts zur Konstituierung einer einheitlichen jugoslawischen Literatur mit geeintem Literaturbetrieb, dem sich die Zeitschrift seit ihrer Gründung zu Beginn des letzten Kriegsjahres dezidiert widmete, wird im einleitenden programmatischen Text nüchtern umrissen: „Hier harren unser hundert praktische Aufgaben: die Frage einer einheitlichen Literatur, einer einheitlichen Sprachvariante mit einer Schrift und einer Rechtschreibung; die Frage gemeinsamer literarischer Betriebe, literarischer Gesellschaften und Zeitschriften, die Organisation unseres Buchhandels usw.“5 Die Liste der Desiderata ist freilich noch länger; in weiteren Beiträgen wird auch die Zusammenarbeit in der Wissenschaftskultur, das Zusammenwachsen des Übersetzungsbetriebs, Aufgaben der Schulbildung u.a. genannt.6

Die größte, bereits im Februar 1918 in Angriff genommene Herausforderung des integralistischen Programms war die Initiative zur Fusion der Sprachen und Schriften. Während die Außengrenzen der postulierten Nationalliteratur aufgrund der Integrationsbemühungen seit dem 19. Jahrhundert auch vor der staatspolitischen Rekonstruktion vom Herbst 1918 keiner Diskussion mehr bedurften, war die „Invisibilisierung der Binnendifferenzen“7 im südslawischen Rahmen eine komplexe Herausforderung. Im Mittelpunkt der Debatte stand die Integration der standardsprachlichen Varianten des dominanten ‚Serbokroatischen‘, während die marginalisierten (slawischen, deutschen u.a.) Komponenten der Kultur mit der Selbstverständlichkeit der zunehmend gefestigten und 1918 auch staatspolitisch gekrönten Dominanzverhältnisse übergangen wurden. Die Initiative zur Fusion der serbokroatischen Sprachvarianten knüpfte an serbische Initiativen von 1913 und 1914 an: Die Kroaten sollten ihre ‚ijekawische‘ Sprachvariante, die Serben ihre kyrillische Schrift aufgeben. Die angestrebte Lösung, 1918/19 offenbar unterstützt von einer gewachsenen Zahl von Schriftstellern ‚aller drei Stämme‘, war also die nur noch in lateinischer Schrift geschriebene ‚ekawische‘ Variante des Serbokroatischen.8 Die programmatischen Texte und andere Beiträge im „Literarischen Süden“ machten allerdings deutlich, dass der Umsetzung des ambitionierten Projekts – auf Anhieb erkennbar an der Durchmischung der Sprachvarianten und Schriften unter den Beiträgern der Zeitschrift, vor allem an der Umstellung auf die ekawische Variante bei kroatischen Schriftstellern – klare Grenzen gezogen waren. Zum einen musste der „uniformierende Prozess der gegenseitigen Verschmelzung“9 im Falle des eindeutig differenten Slowenischen dem Prinzip einer „spontanen, gewaltlosen und somit organischen“10 Entwicklung im Sinne einer mehr oder weniger spontanen Assimilation überlassen werden.11 Zum anderen musste von der Abschaffung der kyrillischen Schrift vorerst Abstand genommen werden, war diese doch für die Serben ein „Leidensgenosse“ im Krieg und „graphisches Symbol unseres Kampfes um Selbsterhaltung“12 geworden. So konnte auch die kyrillische Schrift, neben der Wahl der ekawischen Variante, vor allem bei kroatischen Schriftstellern als Zeichen der integralistischen Gesinnung fungieren.13

Sprache und Schrift stehen im Dienste der Nationalliteratur, des zentralen Mediums nationaler Integration auch in der Spielart des integralen Jugoslawismus. Auch in dieser Spielart kommen die charakteristischen Muster organizistischer und zirkulärer Funktionsbestimmung der Literatur zum Einsatz: Bleibt sie volks- und lebensnah, ist sie genuiner Ausdruck des nationalen Bewusstseins – zu dessen Konsolidierung und Ausbau wiederum gerade sie, die Nationalliteratur, maßgeblich beitragen soll.14 Zwischen der organizistischen Perspektive und den – gerade auf den Seiten der Zeitschrift mit besonderer Kühnheit erbrachten – Aufbauleistungen im Bereich von Sprache, Schrift, Kanonisierungsprozessen u.a. wird kein Widerspruch wahrgenommen, da in dieser Perspektive jede Aufbauleistung als Freilegung, Revitalisierung oder Ausbau nationaler Substrate in der Regie der entsprechenden Avantgarde ausgelegt wird.

So kann auch für die Behauptung, dass „die literarische Einheit kein Phantom, sondern Tatsache ist“,15 in Ermangelung literatursoziologischer Argumente auf die literarische Avantgarde verwiesen werden: auf die jugoslawische Orientierung der literarischen „Pioniere“ und die grenzüberschreitenden Leseinteressen des „intelligenten Lesepublikums“. Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik, so der Literaturhistoriker Antun Barac, hinken der Entwicklung allerdings nach, indem sie innerjugoslawische, also stammesbezogene „Unterschiede hervorheben, die winzig sind, die nichts zu bedeuten haben“, und somit den „Fortschritt verhindern“. Für die Offenlegung der jugoslawischen Einheit in Vergangenheit und Gegenwart sei die übliche Faktenhuberei denkbar ungeeignet; gefragt seien „künstlerischer Instinkt“ und „Intuition“. Antun Barac selbst lieferte in der Zeitschrift Prolegomena für ein entsprechendes literaturhistorisches Narrativ.

4. Rückprojektion: die Integration der Vergangenheit

Geschichte ist bekanntlich die Rekonstruktion der Vergangenheit nach Maßgabe aktueller Interessenlagen. Nichts illustriert diesen Befund besser als der Paradigmenwechsel nach historischen Umbrüchen, wie ihn „Der literarische Süden“ auch in diesem Bereich auf eindrückliche Weise dokumentiert. Während in der aktuellen Produktion der zahlreichen MitarbeiterInnen der Zeitschrift die integralistische Vision der Vergangenheit hier und da im Gewand patriotischer Gesinnungslyrik aufscheint, so wird in den programmatischen Texten die Vergangenheit insgesamt in teleologischer Perspektive als Vorgeschichte der jugoslawischen Einigung neu aufgewickelt. Mit der Kurzschaltung von Gesinnung und Wertung, d.h. mit der Erhebung der jugoslawischen Gesinnung zum Kanonisierungsprinzip, erscheint nun als „Tatsache“, „dass alle unsere besten Wissenschaftler, alle unsere besten Dichter, ob Serben, Kroaten oder Slowenen, seit den Anfängen unseres kulturellen Erwachens, begeistertste und überzeugendste Jugoslawen sind“, während umgekehrt gelten dürfe, „dass kein irgend bedeutender Kulturarbeiter im slawischen Süden Separatist gewesen“ sei.1 Literarischen Größen, deren patriotische Gesinnung mit mehr oder weniger Gewalt auf den integralistischen Rahmen gespannt werden kann, werden ganze Themenhefte gewidmet: so dem Illyristen Petar Preradović zum 100. Geburtsjubiläum und dem Modernisten Silvije Strahimir Kranjčević zum 10. Todestag.2

Das Programm einer integralistischen Gesamtrevision der literarischen Vergangenheit lieferte der erwähnte Antun Barac (1894–1955), der sich in den kommenden Jahrzehnten einen Namen als Literaturhistoriker und Kritiker machen sollte. Am Ende seiner Karriere als führende Persönlichkeit der Zagreber Südslawistik legte Barac übrigens eine Geschichte der jugoslawischen Literatur (1954) vor, deren Anlage und internationale Rezeption die schrittweise Distanzierung vom integralistischen Paradigma im sozialistischen Jugoslawien dokumentiert.3 Am Anfang der Karriere, in der Euphorie der großen Wende von 1918/19, machte sich der frisch promovierte Slawist für eine überfällige Modernisierung der Literaturgeschichtsschreibung im Sinne einer jugoslawischen Nationalliteratur stark.4

Den Paradigmenwechsel leitet Barac mit der Kritik an der dominanten Literaturgeschichtsschreibung ein, deren Leitprinzipien in seiner Sicht lauter Widersprüche und Unstimmigkeiten produzieren: Das territoriale Prinzip spalte die Literatur entlang historisch kontingenter Verwaltungsgrenzen; die inkonsequente Anwendung des ästhetischen Prinzips ergäbe weder eine kohärente Literaturgeschichte, noch eine Geschichte der Schriftlichkeit; und das philologische Prinzip, worunter Barac positivistische Faktenhuberei versteht, führe die analytischen Ergebnisse keiner Synthese zu. Die verfehlten Perspektiven, so Barac, nehmen ephemere Differenzen wie territoriale, religiöse oder orthographische Besonderheiten in den Blick und etablieren Korpora, hinter denen keine zusammenhängende Entwicklung zu erkennen ist.

 

Die scharfsichtige Kritik an der fehlenden Kohärenz literaturgeschichtlicher Narrative wird Barac in seiner späteren Entwicklung zu unterschiedlichen, auch literatursoziologischen Kontextualisierungen der Literatur führen. Jetzt wird der übergreifende Zusammenhang noch abstrakt als „Wesen der Nation“5 bezeichnet und wird dieses in der „Volksseele“ und im „Volksleben“ erblickt,6 die nur im jugoslawischen Rahmen betrachtet eine zusammenhängende Entwicklung offenbaren. Die organizistische Perspektive lässt den gesamtjugoslawischen Beobachtungsrahmen als zwingend, jede getrennte Beobachtung hingegen als ‚Zerstückelung‘ erscheinen, denn: „Das Volk ist ein Organismus, der geboren wird, der wächst und der stirbt.“7 Entsprechend gilt: „Unsere Volksliteratur wird zu einer sinnvollen, organischen Einheit, wenn alle drei Teile zusammen genommen werden, so dass von den ältesten Anfängen bis heute eine kontinuierliche Entwicklung beobachtet werden kann.“8

Die Einheit der jugoslawischen Literatur sei nicht das Ergebnis einer „Deduktion“, sondern literaturgeschichtliche „Tatsache“.9 Dabei seien die eindeutigen regionalen Verflechtungen (Barac nennt die Bereiche: liturgische und apokryphe Literatur, Ragusaner Literatur, kajkawische und protestantische Literatur, Literatur in Bosnien) sowie die Parallelen der Stilepochen (Barac erwähnt Romantik, Realismus, Naturalismus) zu einem Gesamtnarrativ zu ergänzen, indem die temporären Entflechtungen und Entwicklungslücken mit dem Substrat der Volksdichtung geschlossen werden. Denn diese, die Volksdichtung, führe ein Leben, dass auch in scheinbar ertraglosen Zeiten gleichsam „im Untergrund gedieh“.10 Nur so: überregional betrachtet und mit dem Kitt der Volksdichtung verbunden, offenbare sich „unsere Literatur“ als „einheitlicher, lebendiger Organismus, existierend ohne Unterbrechung von der Geburt bis heute“,11 vergleichbar mit einem „unterirdischen Fluss“, der schlussendlich „in voller Kraft zum Vorschein kommt“, oder mit den „Schlägen eines einzigen Herzens, die nicht überall zu hören sind, und doch niemals verschwinden“.12

5. Ausblick

Die Zeitschrift „Književni Jug“, radikales Organ des kulturpolitischen Jugoslawismus, geriet trotz konsequenter Zurückhaltung in realpolitischen Fragen in den Strudel der politischen Umbrüche. Die im realpolitischen Feld ausgetragenen Konkurrenzen um die Ausrichtung der südslawischen Monarchie im Spannungsfeld von Zentralismus und Föderalismus (deren entscheidende Frontlinie sich zunehmend zwischen den serbischen und den kroatischen politischen Parteien verfestigte), lassen auch manche Beiträge in dem integren integralistischen Organ im Zwielicht eines „Pseudo-Jugoslawismus“1 erscheinen. Diesen Eindruck konnten etwa literarische Beiträge vermitteln, in denen die erzählende Darstellung oder die lyrische Evokation serbischer Kriegserfahrung an jenen heroisch-märtyrologischen Mythenkomplex gemahnen, der auch in der Legitimation der semi-imperialen Ansprüche der zentralistischen Regierung eine wichtige Rolle spielte.2 Wenn im Beitrag eines jugoslawischen Patrioten aus Kroatien ein zentrales Element dieses Mythenkomplexes – die Sankt-Veits-Feier, die seit den Balkan-Kriegen Teil der offiziösen Erinnerungspolitik in Serbien war und als Teil des Kosovo-Mythos mit dem Anspruch auf eine Erneuerung des serbischen Reiches assoziiert wurde3 – in diffusen patriotischen Volten zu „unserer nationalen Religion, unserer jugoslawischen Religion“ erklärt wird,4 dann geht es um die Stilblüten eines längst bekannten Diskurses, der in dem aktuellen politischen Kontext allerdings neue Konnotationen entfaltete.

Als die Redaktion im letzten Heft der Zeitschrift in einem knappen Schlusswort5 ihre Aufgabe – nämlich „den Weg zu unserer endgültigen Vereinigung und Freiheit aufzuzeigen“ und darüber hinaus „in der Praxis den Grundstein zu legen für die zukünftige jugoslawische Literatur“ – für erfüllt und damit eine „hohe Mission“ für realisiert erklärte,6 verdeckte die optimistische Bilanz das personelle Auseinanderdriften im Schatten der politischen Entwicklung und ihrer zentripetalen und zentrifugalen Tendenzen. Exemplarisch hierfür ist das Verhältnis zweier exponierter Mitarbeiter der Zeitschrift:7 Der Herausgeber Ivo Andrić zog mit den meisten übrigen Redaktionsmitgliedern in die Hauptstadt des neuen Staates und begründete dort seine Karriere in staatlichen Diensten, während Miroslav Krleža – der seine projugoslawische Orientierung und seine intensive Zusammenarbeit mit Belgrader Autoren niemals aufgeben wird, der zentralistischen und royalistischen Gesinnung jedoch äußerst kritisch gegenüber stand und 1919 eine Abrechnung mit der diesbezüglichen Orientierung des Schriftstellerkreises um den „Literarischen Süden“ geplant haben soll – quasi demonstrativ in Zagreb blieb. Hier kehrten die Schriftsteller früher oder später auch zu der kroatischen Variante von Sprache und Schrift zurück: War die Unifizierung zeitgemäße Solidaritätsbekundung und antiprovinzieller Gestus gewesen, so wurde ihre Zurücknahme nun zum Signal der Distanzierung von unitaristischen Übergriffen und vom Pseudo-Jugoslawismus.

Die Konstellation aber, in der die skizzierte Programmatik einer integralen jugoslawischen Literatur das ‚Wesen der Nation‘ zu erfassen und die ‚jugoslawische Revolution‘ geistig zu fundieren versprach, blieb historisch einmalig. Nur hier bildeten eine ergebnisoffene politische Wende, der Grundkonsens der kulturellen Eliten und eine experimentierfreudige literarische Praxis zusammen genommen den Horizont einer realisierten Utopie.

„Kreuzritter des 20. Jahrhunderts. Kreuzritter des Sozialismus“

Das imperiale Erbe der Roten Armee: Joseph Roths Perspektiven auf den Polnisch-Sowjetischen Krieg im historischen und medialen Kontext

Johann Georg Lughofer (Ljubljana)

1. Einleitung und Kontextualisierung

„Noch ist Polen nicht verloren.“ Der im deutschen Sprachgebiet sicher zweitbekannteste Textbeginn einer Nationalhymne wurde zum gängigen Sprichwort, was nicht sofort nach der Textentstehung geschehen konnte, denn Polen blieb danach noch für Jahrzehnte von der Landkarte getilgt: Als Józef Wybicki (1747–1822), der am Aufstand gegen die dritte Teilung Polens teilgenommen hatte, die Verse im Jahr 1797 schrieb, setzten er und der polnische Befreiungskampf auf französische Schützenhilfe. Die zwei Jahre zuvor von General Jan Dąbrowski (1755–1818) aufgestellte polnische Legion kämpfte auf Seiten Napoleons (1769–1821) gegen die Österreicher in Norditalien und erhoffte sich durch dieses Engagement die Rückgabe des Königreiches, was doppelt enttäuscht wurde: Napoleon selbst sollte während seiner Siege nur das übersichtliche Herzogtum Warschau schaffen. Nach seiner Niederlage kam auf dem Wiener Kongress 1815 das Gebiet als „Königreich Polen“, auch Kongress-Polen genannt, unter russische Aufsicht. Der Rest Polens ging als „Großherzogtum Posen“ an Preußen; Galizien wurde erneut Österreich zugesprochen.

Das international bekannte Sprichwort im Sinne von „Noch ist nicht alles verloren“ konnte der Vers logisch stimmig also erst im 20. Jahrhundert werden, als Polen sich nach dem Waffenstillstand am 11. November 1918 unabhängig erklärte und die Pariser Vorortverträge dies anerkannten – aber ohne fixierte Grenzregelung mit Sowjetrussland, da dieses bei den Verhandlungen nicht teilgenommen hatte. Provisorisch wurde die Curzon-Linie vorgeschlagen, benannt nach dem damaligen britischen Außenminister George Curzon (1859–1925). Dieses Konzept versuchte, auf die Muttersprache der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung Rücksicht zu nehmen; viele Polen blieben dabei außerhalb ihres Nationalstaats.

Polen wurde zwar wiederhergestellt, der Friede aber keineswegs. Polnische Truppen kämpften unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg an mehreren Fronten: Sie standen in den Abstimmungsgebieten Schlesiens deutschen Freikorps gegenüber, kämpften gegen die Tschechoslowakei um Cieszyn/Teschen und gegen die Ukraine um Galizien. Den größten Spielraum sah die polnische Regierung im Osten; polnische Truppen besetzten dann auch weite Landstriche der Ukraine und selbst Kiew. Das wiederhergestellte Polen bzw. das Staatsoberhaupt Marschall Józef Piłsudski (1867–1935) versuchte, den Grenzverlauf möglichst weit östlich verlaufen zu lassen und eine osteuropäische Konföderation unter polnischer Führung zu schaffen. Diesem geplanten „Zwischenmeerland“ diente die polnisch-litauische Realunion, die immerhin bis 1791 bestanden hatte, als historisches Vorbild. Solche Pläne schienen möglich, denn Sowjetrussland befand sich noch im Bürgerkrieg. In der Ukraine unterstützten nationalistische Kräfte Polens Plan, da sie zuvor von den Sowjets von der Macht vertrieben worden waren.

Im Februar 1919 trafen einzelne polnische Kompanien erstmals unkoordiniert kämpfend auf die Rote Armee – und zwar auf weißrussischem Gebiet. Im darauffolgenden Monat nahm die Rote Armee die formell zu Litauen gehörigen, ethnisch mehrheitlich polnischen Städte Vilnius und Hrodna ein. Die Polen griffen ihrerseits Weißrussland an; ein polnischer Vorstoß nach Vilnius vertrieb die Sowjetarmee aus der Hauptstadt der neu installierten weißrussisch-litauischen Republik. Danach ging der polnische Vormarsch nach Osten weiter – nach Weißrussland, nach Lettland und in die Ukraine. Die Sowjets konnten aufgrund der Offensiven mehrerer bedeutender weißer Armeen – so in Südrussland, Sibirien und im Baltikum – sowie aufgrund der Revolten und Hungersnöte im russischen Reich nicht entschlossen reagieren und Lenin (Wladimir Iljitsch Uljanow, 1870–1924) beschwichtigte die polnische Regierung mit großzügigen Gebietszugeständnissen, die nahezu ganz Weißrussland Polen unterstellten.

Bei diesem Polnisch-Sowjetischen Krieg, der übrigens genauso andere Benennungen erfahren hatte,1 wurde sogar der Beginn verschieden festgelegt: ein Grenzkonflikt herrschte eben bereits 1919. Die historische Wertung variiert auch extrem: Der damalige britische Sonderbotschafter in Warschau Lord d’Abernon sollte später die Kämpfe um die polnische Hauptstadt unter den entscheidenden Schlachten der Weltgeschichte einreihen.2 Die bescheidenen militärischen Kräfte und die Absenz bedeutender Kämpfe ermöglichten es, diesen Krieg ebenso als „Schlägerei“ einzuordnen, wie es selbst Józef Piłsudski tat.3 Im Juli 1920 standen den zwanzig sowjetischen Divisionen polnischerseits rund zwölf Divisionen und vier Brigaden gegenüber. Beide Seiten führten rund 200.000 Mann kämpfende Truppen an die Front. 1917 hatten sich an der vergleichbaren Front etwa 75 österreichisch-ungarische und deutsche und rund 90 russische Divisionen gegenübergestanden. Die Divisionsstärken waren im Ersten Weltkrieg dazu noch größer.4

Darum war auch im Polnisch-Sowjetischen Krieg jede Strategie zum Scheitern verurteilt, mit der sich eine Seite bei so geringen Truppenstärken zu weit ins andere Gebiet vorwagte, so wie die Polen sich nicht in Kiew halten konnten, galt es als unwahrscheinlich, dass die Russen je Warschau erobern hätten können.5 Gerhard Wagner betont:

Die polnisch-sowjetischen Kämpfe der Jahre 1919 und 1920 wurden von Staaten geführt, die vom Weltkrieg gezeichnet waren. Unsichere Grenzen, schlecht oder gar nicht funktionierende Wirtschaft, trostlose Verkehrsverhältnisse und zerrüttete Staatsfinanzen kennzeichnen beide Staaten mehr als Euphorie über die zurückgewonnene eigene Staatlichkeit die Situation in Polen und Erfolge an den Fronten des Bürgerkriegs diejenige in Sowjetrußland. Hier herrschte wie dort die gleiche Desorganisation, und diese Zustände bestimmen auch die Dimensionen des polnisch-sowjetischen Krieges. Sie zwangen zur Einschränkung auf beiden Seiten und machten die Improvisation zum obersten Feldherrn und nicht selten den Zufall zum Schiedsrichter.6

Zu Beginn des Jahres 1920 hatten die Sowjettruppen die meisten großen weißen Armeen zerschlagen. Des Weiteren sorgten Friedensverträge mit Estland und Litauen für eine militärische Entlastung Russlands. 1920 sah vorerst noch ein polnisches Vorankommen gegen die Rote Armee in Lettland, in Weißrussland und nach Kiew, das am 7. Mai erobert wurde – mit Hilfe der Truppen ukrainischer Nationalisten, denen der Erfolg aber dort nicht den erhofften Rekrutierungszustrom brachte. Weniger die heute erneut betonte nationale Indifferenz7 zeigte sich im ungehörten Verklingen der Appelle an den ukrainischen Patriotismus, sondern das Misstrauen gegen den Nationalistenführer Symon Petljura (1879–1926) und gegen eine Kooperation mit den Polen, die als Großgrundbesitzer ein Feindbild des ukrainischen Nationalismus darstellten. Die Bevölkerung des jahrelangen Kriegsschauplatzes hatte außerdem nur sehr bedingt Lust am Soldatendasein.

 

Polen hatte in Kiew damit einen Pyrrhussieg errungen; ernsthafte ukrainische Unterstützung blieb aus; die Rote Armee hatte sich intakt zurückgezogen und stand nun der besetzenden polnischen Armee in dem großen Land gegenüber. Noch dazu konnten die Sowjets erfolgreich auf internationaler Ebene Polen als Aggressor darstellen und den russischen Patriotismus verstärkt instrumentalisieren. Am 15. Mai startete die Rote Armee ihre Gegenoffensive und nahm am 12. Juni erneut Kiew ein. Verstärkte Angriffe folgten im Juli; am 11. dieses Monats wurde Minsk eingenommen; die polnischen Truppen bewegten sich in dieser Zeit durchschnittlich täglich 30 Kilometer auf das polnische Kernland zu. Die Sowjettruppen standen bald nur noch 100 Kilometer vor Warschau.

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