Europa im Schatten des Ersten Weltkriegs

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5. Close Reading 2: Joseph Roths Das Spinnennetz

Den gleichen Zeitraum behandelt auch Joseph Roths erster Roman Das Spinnennetz, der zunächst, der Germanistik lange unbekannt, in der Wiener „Arbeiterzeitung“, dem Zentralorgan der österreichischen Sozialdemokratie erschien, dessen Handlung indes in Berlin angesiedelt ist, auch wenn mit der Familie Ephrussi/Efrussi eine Spur nach Wien gelegt wird. Wie im Sladek spielt hier das Thema männlicher Marginalität im Gefolge von Krieg und Inflation, sowie der Bekämpfung durch Rechtsradikalismus und die schwarze Reichswehr eine maßgebliche Rolle.

Roths Figur des Theodor Lohse ist freilich aus gänzlich anderem Holz geschnitzt als jene des Sladek, der sich in die völkische Welt ebenso verirrt wie in die der Frauen. Seine Ausgangssituation ist erbärmlich und unerfreulich. Sein männlicher Wert als Soldat, ja sogar als Leutnant des wilhelminischen Heeres, ist – wie die Geldwerte in der Inflation – auf ein Nichts zusammengeschrumpft. In der von Frauen, der Mutter und Schwestern, dominierten Nachkriegs-Familie, ist er ein geduldeter, nicht wohlgelittener Gast,1 was der Erzähler sarkastisch kommentiert:

Die Mutter kränkelte, die Schwestern gilbten, sie wurden alt und konnten es Theodor nicht verzeihen, daß er nicht seine Pflicht, als Leutnant und zweimal im Heeresbericht genannter Held zu fallen, erfüllt hatte. Ein toter Sohn wäre immer der Stolz der Familie geblieben. Ein abgerüsteter Leutnant und ein Opfer der Revolution war den Frauen lästig. Es lebte Theodor mit den Seinigen wie ein alter Großvater, den man geehrt hätte, wenn er tot gewesen wäre, den man geringschätzt, weil er am Leben bleibt.2

Dass er nach 1918 nichts mehr wert ist und dass er gleichsam vor der Zeit ein Pensionistendasein in der bürgerlichen Gesellschaft führt – sozialer Tod statt heroischen Untergangs – führt eben jene Entwertung des Mannes herbei, gegen die sich Lohse, der sich als Hauslehrer bei der reichen Familie Efrussi verdingt, aufbäumt. Marginalität und Identitätsverlust treiben ihn in die Arme rechter Kreise, die wissen, wen sie für die „neuen Situationen“ verantwortlich machen können, den Sozialismus, den neuen demokratischen Staat, die Vaterlandslosigkeit, den Pazifismus und die „Liebe für den Feind“, das angebliche Streben der Juden nach Weltherrschaft. Ganz besonders aber die Juden. Diese Weisheiten beziehen die damals neuen Rechten aus den Protokollen der Weisen von Zion, die, wie es im Roman heißt, „alle Mitglieder des Reserveoffiziersverbandes zu den Hülsenfrüchten am Freitag“ bekamen. Diese symbolische Ernährung macht sie bereit für den Aufstand gegen jene Welt, in der sie keinen Platz finden und in der sie sich – Parallele zu Horváths Stück – als deren Opfer sehen.

Lohses Antisemitismus speist sich auch aus dem Neid des Verlierers, der sich von allen Reichtümern und von jedweder Anerkennung ausgeschlossen sieht. Auf Grund seines Statusverlustes hat er in seiner Interpretation auch sein sexuelles Kapital eingebüßt, das es ihm in besseren Zeiten ermöglich hätte, etwa der Liebhaber der schönen Frau Efrussi zu werden. Lohse träumt einem Liebesabenteuer mit einer Berliner Dame nach, die – Ausdruck bürgerlicher Distinguiertheit – ein „lila Unterhöschen“3 trug. Zur Marginalisierung gesellt sich das Kastrationsphantasma, das sich auch nicht durch kurzlebige sexuelle Affären mit sogenannten leichten Mädchen aus der Unterschicht oder Halbweltdamen kompensieren lässt.

Was Sladek in Grübelei und Melancholie treibt, das löst bei Lohse Willen zum Handeln aus: „Bald wird er aus seinem ruhmlosen Winkel treten, ein Sieger, nicht mehr gefangen in der Zeit, nicht mehr unter das Joch seiner Tage gedrückt.“4 Roth entwirft das Soziopsychogramm eines Typus, der den eigenen Stolz wiederaufrichten möchte und der sich dem Traum von Superiorität und Anerkennung hingibt. Lohse ist keineswegs ein Ideologe, das symbolische Mobiliar seines postsoldatischen völkischen Milieus ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck, sich Geltung zu verschaffen.

Durch die Vermittlung von Doktor Trebitsch gerät Theodor alsbald in rechtsradikale Kreise. Dieser Name besitzt eine historische Referenz, war doch ein Arthur Trebitsch (der Vorname ist im Roman einem Onkel vorbehalten, der nach dem Ersten Weltkrieg in die USA emigriert ist) nach und neben Otto Weiniger der prominenteste jüdische Antisemit. Ihm, dem reichen Seidenhändler und autodidaktischen Philosophen, der 1925 unter dem Einfluss des Verdikts gegen die „Sklavenmoral“ eine „Arische Wirtschaftsordnung“ vorlegte, hat Theodor Lessing in seinem Buch Der jüdische Selbsthass ein ganzes Kapitel gewidmet.5 Dieses Paradox, Jude und Antisemit zu sein, wird im Roman Roths nicht angesprochen oder gar geklärt. Überhaupt bleibt es rätselhaft, warum sich in Das Spinnennetz so viele Menschen jüdischer Herkunft im Milieu von Spionage, verbotener Reichswehrkontingente oder völkischer Parteien tummeln.

Durch Trebitschs Vermittlung lernt Lohse das ganz rechte Milieu Berlins und danach auch Münchens kennen, er gerät in die Nähe des dubiosen Prinzen Heinrich, der ihn für seine homosexuellen Neigungen instrumentalisiert, er lernt die Hintermänner der verbotenen Aufrüstung, aber auch die Führer der neuen völkischen Gruppierungen kennen. Er verrichtet die niederen Arbeiten, die Erledigung kommunistischer Gruppen, die Niederschlagungen eines Aufstandes von Landarbeitern oder die Beseitigung von Gesinnungsgenossen, die seinem Aufstieg im Wege stehen. Er ist auch aktiv an der Beteiligung eines Putsches beteiligt, der im Roman mit dem Datum des 2. Novembers (statt wie historisch korrekt mit dem des 9. Novembers) versehen wird – zusammen mit der Feier für Ludendorff –, eine ganz normale völkische Karriere. Seine Mordgeschäfte bringen ihm Geld ein, die sein ökonomisches Vorankommen gewährleisten. Aber was ihm fehlt, ist der Bekanntheitsgrad eines Hitlers, denn Lohse arbeitet mit seinen geheimen Missionen, schwarze Reichswehrkontingente aufzustellen, zumeist im Verborgenen. Er agiert dabei so mechanisch und professionell so wie zu den Zeiten, als er als Schüler komplette ‚fremde‘ Sätze auswendig gelernt hatte:

Er wollte Führer sein, Abgeordneter, Minister, Diktator: Noch kannte man ihn nicht außerhalb seiner Kreise. Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. […] Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte.6

Dann trifft er auf einen zweiten jüdischen Geheim- und Doppelagenten, Benjamin Lenz, einen Nihilisten durch und durch, dessen ideologische Verankerung sehr locker ist:

Seine Idee hieß: Benjamin Lenz. Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. Er haßte die europäische Dummheit. Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen […], er freute sich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte […].7

Lenz ist ein früher Vertreter von Falschmeldungen und ein Propagandist sinnloser Grausamkeit, ein geschickter Segler in der Intransparenz eines Netzes von Geheimdiensten, Verschwörergruppen, sinisteren Parteien und Terroristen. Er durchschaut Lohse, der für ihn weder ein Gesinnungstäter noch ein „geborener Mörder“ ist:

Sie sind auch kein Politiker. Sie wurden von ihrem Beruf überfallen. Sie haben ihn sich nicht gewählt. Sie waren unzufrieden mit ihrem Leben, Ihren Einnahmen, ihrer sozialen Stellung. Sie hätten versuchen sollen, im Rahmen Ihrer Persönlichkeit mehr zu erlangen, niemals aber ein Leben, das Ihrer Begabung, Ihrer Konstitution zuwiderläuft.8

Ob das nun ehrlich gemeint ist oder ob es sich um einen Trick handelt, den Ehrgeiz Theodors anzustacheln, bleibt an dieser Stelle offen. Für ihn ist der umtriebige, leicht zu lenkende Weltkriegsleutnant Instrument und Mittel zugleich, um Geld und Einfluss zu maximieren. Er fädelt eine Hochzeit von Theodor mit einer preußischen Aristokratin ein und verschafft ihm einen einflussreichen Job knapp unterhalb der Minister-Ebene. Während Lohse einem unaufhaltsamen sozialen und politischen Aufstieg entgegenstrebt, kommen seine beiden jüdischen Förderer, zunächst Trebitsch, der sich mit seinem Onkel nach Amerika absetzt, und Lenz, der sich spontan entscheidet, mit seinem Bruder Lazar in den Zug nach Paris einzusteigen, der Bewegung abhanden. Sang- und klanglos verschwinden sie aus dem narrativen Raum des Romans. Für beide war es ein Spiel, das sich vor allem für Lenz, der sich rührend um seine ostjüdische Familie kümmert, finanziell ausgezahlt hat und das wie jedes Spiel einmal an ein Ende kommt.

So verschieden die Figuren bei Horváth und Roth sich unterscheiden mögen, hier der erfolgreiche Politiker, dort der einsame Melancholiker in der braunen Masse, beide sind sie getragen von jenem politischen Dispositiv, das man einmal als braune Revolution bezeichnet hat. Von ihr versprechen sie sich einen dynamischen Effekt, der ihre mehrfache Marginalisierung kompensieren soll. Oder anders gesagt: Die erfahrene und erlittene soziale, geschlechtliche und ökonomische Deplacierung und die daraus erwachsene Selbstkränkung und Identitätskrise des Mannes und Soldaten nach 1918 bilden die entscheidende Bedingung der Möglichkeit für den so überraschenden wie rapiden Aufstieg der Voraussetzungen für den rechtsradikalen Aufstand gegen die liberale Demokratie. Hier gibt es, über die unleugbare ökonomische Krisensituation, Inflation und Massenarbeitslosigkeit, einen symbolischen Überschuss. Männer, die auch in den eigenen Augen ein überflüssiges Nichts sind, laden sich durch ein Programm auf, das ihnen verspricht, wieder etwas zu werden. Den hohen Preis sind sie bereit zu zahlen, eben weil sie wahre Männer sein wollen, die sich vor Gewalt und Grausamkeit nicht fürchten, sondern diese als Medizin für ihre prekär gewordene Männlichkeit sehen. Sie bringen die Gewissensbisse im Hinblick auf die gemeinen Taten zum Verstummen:

 

Er stand auf dem Podium, und der Schall seiner Stimme hob ihn empor. Seine Frau saß in der ersten Reihe. Gesichert waren die Eingänge, die Türen, die Fenster, hier vergaß er jede Gefahr und sogar den Feind, den lauernden, den unbekannten. „Ich muß zu dir aufschaun!“ sagte Elsa, und sie saß in der ersten Reihe und sah zu ihrem Mann empor, dem Erwachsenen und Wachsenden, Chef der Sicherheit – dachte sie –, Präsident des Reiches, Platzhalter für den kommenden Kaiser.9

Ein solcher Befund anno 1923 ist erstaunlich und prophetisch, nimmt er doch den Habitus all jener vorweg, die es im Gefolge der Machtergreifung von 1933 nach Oben spülen sollte. Man muss mit historischen Vergleichen vorsichtig sein, aber einige der psychischen Dynamiken, die Roth und Horváth in ihren literarischen Werken herausarbeiten, sind auch im gegenwärtigen Kontext hundert Jahre danach durchaus wirksam.

1918, Untergang der Habsburgermonarchie und ihre Historiker

Eine unendliche Geschichte vom Fall und Ende

Filip Šimetin Šegvić (Zagreb)

Das große Erinnerungs- und Gedenkjahr 1918 wurde auf globaler Ebene als hundertstes Jubiläumsjahr mehrerer wichtiger Ereignisse ‚konsumiert‘, unter anderem hat man den Untergang der Habsburgermonarchie sowie Gründung sämtlicher neuen Staaten, so auch des SHS-Staats, der Republik Österreich oder der Tschechoslowakei mit verschiedenen Veranstaltungen bedacht. Auf Tagungen und in wissenschaftlichen Publikationen wurde das Jahr 1918 als Umbruchsjahr oder als „Stunde null“ dargestellt. Das Themenspektrum eines Sammelbands versuchte zum Beispiel 1918 nicht als eine strikte Demarkierung vorzustellen, sondern auf übergreifende politische, soziale und kulturelle Strukturen hinzuweisen und somit klassische Spaltungen zu vermeiden.1 Ernsthafte wissenschaftliche, aber auch politische bzw. öffentliche Debatten wurden darüber in ganz Mittel- und Südosteuropa geführt. Dabei kam heraus, dass die meisten Debatten unabhängig voneinander, also ohne jegliche komparativgeschichtliche Perspektive, nicht im Dialog, sondern als monologische Einzelbestandteile geführt wurden. Man konnte auch feststellen, dass bei den Historikern in Mittel- und Südosteuropa nicht nur Kontroversen und größere Fragenkomplexe offen geblieben sind, sondern dass man sich auch auf anderen Ebenen nicht ergänzen konnte, beispielsweise bei einer Suche nach den kroatisch-serbischen oder habsburgisch-patriotischen sowie jugoslawischen Erinnerungsorten, den lieux de memoire.2

Der Begriff ‚konsumiert‘ wurde absichtlich verwendet, weil Historiker, die noch 2014 auf einen neuen bzw. methodologisch differenzierten Erfahrungsraum vorbereitet waren, sich bis 2018 wahrscheinlich ernüchtert haben. Auch Christopher Clarks literarisch gelungene „Master-Darstellung“, die auf der Suche nach den Ursachen des Ersten Weltkriegs neue Debatten hervorrief, mangelte an wirklich neuen Interpretationen und Ideen; dennoch bleiben Die Schlafwandler ein multiperspektives Meisterwerk der neuesten Geschichtsschreibung.3 Eine propulsive Bereicherung und Erneuerung der Habsburgerstudien, mit allen zugehörigen modernen methodologischen und theoretischen Ansätzen in der Geschichtsschreibung, lässt allerdings immer noch auf sich warten, trotz einer Überproduktion von re-traditionalisierten und klassisch politisch-historischen Beiträgen. Es wurden zahlreiche Konferenzen und Tagungen abgehalten, die einen neuen Blickwinkel oder aber einen Blick aus der Vogelperspektive auf die letzten Jahre der Habsburgermonarchie und anderer europäischer Imperien geboten haben, ohne dabei traditionelle Fragestellungen zu erweitern, manche wurden sogar aufgegeben. Viel häufiger rückten aber alte Argumente und sogar alte Einstellungen in den Vordergrund.

Das Jahr 1918 als das große Bruchjahr bezeichnet in der Geschichtsschreibung unter anderem auch den endgültigen Untergang der Habsburgermonarchie. Bis heute erhält sich in zahlreichen Werken die alte Perspektive von der geschwächten „alten“ Donaumonarchie, die als ein Anachronismus dargestellt wird und daher nicht überraschend ihr Ende 1918 erfährt – zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang insbesondere zahlreiche Beiträge der kroatischen Historiographie, die sich auf 1918 und die darauffolgenden Jahre konzentrieren. Mehrere dieser Beiträge, die sich mit diesem Thema in der neueren Zeit beschäftigen, bleiben in erster Linie auf Ereignisse, also auf die von Fernand Braudel benannte „Zeit der Geschichte“ und den „mechanischen Zeitlauf“, auf die histoire événementielle („Ereignisgeschichte“) konzentriert.4 Gerade diese Ebene der historischen Prozesse wurde bereits im heute vergessenen, aber nichtdestotrotz wichtigen Werk Raspad Austro-Ugarske i stvaranje južnoslavenske države (Der Untergang Österreich-Ungarns und die Gründung eines jugoslawischen Staates) des kroatischen Historikers Bogdan Krizman (1913–1994) aus dem Jahr 1977 untersucht.5 Und gerade für die kroatische Situation um 1918 ist die Perspektive der langen Dauer gut geeignet: nicht die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien oder Österreich, sondern gerade Kroatien bzw. Jugoslawien.6 Es handelt sich dabei um einen Sonderfall, der tatsächlich für die Durchführung einer transepochalen komparativen Studie geeignet wäre. Kroatien fügte sich nach jahrhundertelanger Dominanz der Dynastie Habsburg als einziges mitteleuropäisches Land in ein neues multinationales, multikulturelles und multikonfessionelles Imperium bzw. Königreich ein. Doch außer der hervorragenden Arbeit des Historikers Ivo Banac, dem Buch The National Question in Yugoslavia: Origins, History, Politics hat die kroatische Geschichtsschreibung bis heute kaum solche übergreifenden Studien hervorgebracht.7

Wichtige Ansätze dazu gibt es schon seit einiger Zeit in der österreichischen und deutschen, aber vor allen in der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung: die Sektion „Habsburgia“ – ein Begriff des Historikers Tony Judt8 (1948–2010) – gab es auch schon vor 1918 in der britischen Geschichtsschreibung, was auf keinen Fall eigenartig vorkommen sollte. Das Thema „Untergang der Monarchie“ ermöglichte vorerst den Historikern nach 1918 Zuflucht ins sogenannte „grand narrative“. Britische Historiker der Zwischenkriegszeit, zumal Emigranten aus dem mitteleuropäischen Raum wie Lewis B. Namier oder Alfred F. Přibram, knüpften an die Geschichtsschreibung von Edward Gibbon aus dem 18. Jahrhundert an. Sein Werk über den Fall des Römischen Imperiums popularisierte eine Geschichte des decline and fall – des „Verfalls und Untergangs“.9 Die frühe britische Geschichtsschreibung zum Thema Donaumonarchie wurde auch durch die späten Ansätze der Macauley’schen sogenannten whig-history beeinflusst. Schilderungen politisch aktiver Historiker und Journalisten wie Henry Wickham Steed (1871–1956) und Robert William Seton-Watson (1879–1951), insbesondere auf die Lage der Südslawen konzentriert, prägten dabei ein politisch motiviertes Bild der Donaumonarchie als „Völkerkerker“.10 Die Habsburgermonarchie zu untersuchen, war in vielerlei Hinsicht eine zeitgemäße Angelegenheit: Die politische Krise und die Nationalitätenkämpfe in der Habsburgermonarchie haben den Kontext zu den jüngsten politischen Entwicklungen in Mittel- und Südosteuropa in den 1920er und 1930er Jahren sowie auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg geboten. Dabei sollte man sich an die zahlreichen Werke der anglo-amerikanischen Geschichtsschreibung erinnern: vom ausschlaggebenden Essay über den Zerfall der Monarchie in 41 Punkten von Lewis B. Namier (1888–1960)11 bis zu den synthetischen Werken von Arthur J. May, Robert A. Kann, A. J. P. Taylor, C. A. Macartney und zahlreichen anderen Historikern.

Natürlich hatten politische Umstände früher wie auch heute einen bestimmten Einfluss auf die Geschichtsschreibung. Nach 1918 war es nicht nur wichtig, den Zerfall großer europäischer Imperien zu analysieren, sondern gewiss auch neue „grand narratives“ für Nachfolgestaaten zu gestalten; der Habsburger „Völkerkerker“ spielte dabei eine wichtige Rolle. Anderseits wurde im Kalten Krieg wieder vieles umgedacht: der „Eiserne Vorhang“ und die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas und Osteuropas ließ schnell den „Völkerkerker“ vergessen. Heute werden wiederum in Bezug auf die Europäische Union Parallelen mit dem Habsburger Vielvölkerstaat gezogen, wobei sich diverse Kolumnisten und Journalisten fragen, ob man von Franz Joseph und der Doppelmonarchie noch etwas lernen könnte.12 Diesbezüglich sind Historiker aber vorsichtiger geworden, als dies der Fall nach 1918 oder nach 1945 war.

Zusammen mit den Arbeiten österreichischer und deutscher Historiker bieten diese synthetischen Werke eine Fülle von Thesen und Argumenten über den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie. Dabei fallen mindestens zwei oder drei miteinander verbundene, aber grundsätzlich unterschiedliche Denkrichtungen auf. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang vor allem auf die mehrbändige österreichische Edition Die Habsburgermonarchie 1848–1918, die seit 1973 erscheint und verschiedene Historiker aus Österreich und anderen Ländern verbindet; dieses Werk bietet zwar keine Synthese, stattdessen werden aber in seinen voluminösen Bänden diverse Themen vertieft.

Die erste historiographische Richtung bringt einen detaillierten Überblick der inneren politischen Situation in der Habsburgermonarchie und rückt dabei die Analyse der Reform- und Reorganisationsbestrebungen in den Vordergrund. Nach dieser Interpretation sei die Donaumonarchie von inneren Faktoren, vor allem von miteinander zerstrittenen Nationalitäten, die niemals „von oben“ befriedigt wurden, geschwächt und endgültig im Krieg zertrümmert worden. Oftmals kommen dabei Magyaren oder Slawen als überwiegend destabilisierende Faktoren vor. Vereinfacht gesagt, würde das eine Geschichte der „verpassten Chancen und Gelegenheiten“ zur Reform des Staatswesens der Dynastie Habsburg und somit zur Rettung der immer mehr anachronistischen Habsburgermonarchie bedeuten. Der ungarische Soziologe und Historiker Oszkár Jászi (1875–1957), selbst in der letzten Periode der Monarchie politisch aktiv und nach 1925 in den USA tätig, befürwortete diesen Zugang in seinem einflussreichen Werk The Dissolution of the Habsburg Monarchy (1929).13 Ein ebenso analytisches Panorama der konstitutionellen und politischen Probleme der Donaumonarchie bietet das Buch Das österreichische Staats- und Reichsproblem des Juristen und Historikers Josef Redlich (1869–1936).14 Diese Ausrichtung erreichte ihren wissenschaftlichen Höhepunkt mit den Werken des US-Historiker Robert A. Kann (1906–1981).

Einen anderen Blickwinkel bieten Synthesen, die die Dominanz der Außenpolitik zu unterstreichen versuchen: Damit wird die These aufgestellt, dass die innere Nationalitätenfrage – vor dem Ausbruch des Weltkrieges sekundär – eigentlich von Außenfaktoren beeinflusst und durch die Inkompetenz der Habsburger bzw. Kaiser Franz Josephs sowie seiner politischen Ratgeber verschärft worden sei. Solche Ansätze können bei A. J. P. Taylors (1906–1990) Werk über die Habsburgermonarchie gefunden werden: Für Taylor ist die Monarchie ein merkwürdig anachronistisches System für die Außenpolitik und im Grunde ein Werkzeug des europäischen Kräftegleichgewichts gewesen. Taylors „grand narrative“ wird in den Arbeiten von Roy Bridge mit analytischer Quellenkritik der diplomatischen Dokumente ersetzt.15 Aber dieser Blickwinkel gipfelt erst in der Synthese des britischen Historikers Alan Sked unter dem Titel Decline and Fall of the Habsburg Empire (1989),16 wobei auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle spielen: besonders ergiebig waren in dieser Hinsicht die Werke von Richard Rudolph, David F. Good, John Komlos, usw., in denen eine äußerst differenzierte Perspektive auf die ökonomische Lage der Habsburgermonarchie durchgesetzt wurde.17 Zwar direkt mit der früheren britischen Schule der Habsburgerstudien (mit A. J. P. Taylor als Schlüsselfigur) eng verbunden, präsentierte diese Synthese von Alan Sked dennoch neue Perspektiven und ergänzte dabei eine Reihe von neuen Ansätzen. Die deutsche Version des Buchs unter dem Titel Der Fall des Hauses Habsburg. Der unzeitige Tod eines Kaiserreichs schildert vielleicht besser die Intention des Autors, der von einem „Fall ohne Niedergang“ (fall without decline) spricht und dabei noch behauptet, dass die lokalen Formen des Nationalismus bis 1914 keine ernstere Bedrohung für die Donaumonarchie dargestellt haben.18 Also stellte gerade Sked in seiner provokativen, aber gut argumentierten Interpretation fest, dass die Existenz der Habsburgermonarchie zwischen dem Ausgleich von 1867 und 1914 keiner größeren Gefahr ausgesetzt war.

 

Einen dritten und sehr spezifischen Ansatz bietet das äußerst interessante, 1968 veröffentlichte Werk The Habsburg Empire von C. A. Macartney (1895–1978). Es analysiert extensiv innenpolitische Wandlungsprozesse im österreichischen wie auch im ungarischen Teil der Donaumonarchie, darüber hinaus auch diplomatische und außenpolitische Faktoren im „langen 19. Jahrhundert“.19 Macartneys Antwort auf die Frage vom Zerfall der Habsburgermonarchie ist zweiseitig: zum einen stellt er strukturelle Fehler und Probleme fest, die bis 1914 immer mehr Wirbel auslösten, auf der anderen Seite sieht er auch die außenpolitische Lage vor 1914 als problematisch an. Macartney schreibt:

The Austo-Hungarian Monarchy did not survive the conflict which it unleashed when it declared war on Serbia. The end of the war was also the end of the Monarchy. Many is the book which has been written on the question whether this consummation was forced on it, unnaturally, by foreign enemies, some of which have become so only by accident, or whether it was the natural and inevitable result of the forces of decay within its own organism.20

Hinsichtlich der analytischen Breite und des periodenübergreifenden Ansatzes ist der Arbeit Macartneys eine weitere Studie verwandt: die Synthese des britischen Historikers Robin Okey, die einen politisch- und gesellschaftshistorischen Überblick der Geschichte der Habsburgermonarchie von 1765 bis 1918 bietet.21 Dabei verweist Okey auf langfristige Strukturen, die desintegrativ wirkten (Nationalismus) oder einen Zerfall unvermeidlich machten (Modernisierungsprozesse der Aufklärung), darüber hinaus auch auf andere strukturelle Fehler. Aber auch kurzfristige Ereignisse (Weltkrieg) zählen bei Okey zu den Schlüsselfaktoren des Umbruchs:

In the case of the Habsburg Monarchy and the First World War the big issues concern the outbreak and conduct of the war but above all the break-up of the old state at its end. What is the balance between individual and structural factors, and between shorter- and longer-term ones, in shaping what came about?22

Nachfolgende Generationen von Historikern hatten durch diese Bücher ihre ersten Begegnungen mit der Geschichte der Donaumonarchie. Sie entwickelten jedoch auch eine kritisch differenzierte Perspektive. Der sogenannte cultural turn fand auch in den Habsburgerstudien statt: William M. Johnston, Carl Schorske, Edward Timms, Allan Janik, Steven Beller sowie österreichische Historiker wie Moritz Csáky, Wolfgang Maderthaner und viele andere beleuchteten mit ihren Werken kulturelle, intellektuelle, gesellschaftliche und geistesgeschichtliche Aspekte. Gerade kultur- und geistesgeschichtliche Beiträge von Johnston und Schorske (1915–2015) oder Péter Hanák (1921–1997)23 erinnerten nicht nur an eine Fülle von Kreativität und Innovation in Wien (und anderen urbanen Zentren der Monarchie) um die Jahrhundertwende, sondern trugen dazu bei, die Habsburgermonarchie umzudenken, das heißt, sie nicht als Anachronismus, sondern als ein „Laboratorium der Moderne“24 zu betrachten, darüber hinaus auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene.

Die Werke von David F. Good und John Komlos eröffneten neue Ansätze in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung der Donaumonarchie. Seit den 1980er Jahren kamen parallel dazu auch die Beiträge von Gary B. Cohen und anderen, wieder zumeist US-amerikanischen Historikern, die den Weg für eine neue Generation von Forschern freigemacht hatten. Anknüpfend an Benedict Anderson und seine Imagined Communities,25 suchte diese Generation neue Antworten auf alte Fragen, stieß aber dabei auch auf ganz neue Fragenkomplexe. Nicht nur eine Fülle von wichtigen kulturhistorischen und sozialhistorischen Studien haben bedeutende Durchbrüche ermöglicht. Bald kamen auch Beiträge, die bekannte Themen mit neuen methodologischen Fragenstellungen verbinden, sei es in Bezug auf verschiedene Aspekte des Habsburger Heeres, auf diverse nationale und dynastische Loyalitäten bzw. Loyalismen oder auf andere Ansatzpunkte der „new political history“.26

Der aus der Zwischenkriegszeit datierende historiographische empirische Rahmen, der unter dem Einfluss Oswald Spenglers und Arnold Toynbees sowie ihrer Theorie der historischen Zyklen von Aufstieg oder Fortschritt und Verfall oder Rückschritt stand, wurde nun endgültig gesprengt.27 Auch die Carlyle’sche „Geschichte großer Männer oder Helden“ rückte in den Hintergrund. Der Umstand, dass die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert eben keine Erfolgsgeschichte ist, dass große Männer der Monarchie nicht als Helden angesehen werden und „zum Heroischen in der Geschichte“ gehören, ermöglichte andere Wege. Neue, kleinere Studien machten nun die Erforschung von Verbindungen zwischen lokalen Phänomenen und generellen Transformationen des Habsburgerreichs zum Thema. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde die Habsburgerforschung nicht nur konzeptuell oder durch verschiedene Themen bereichert, erweitert wurde auch unser Wissen über die Peripherie und deren Entwicklung. Carlyle’sche Fragen und Kontroversen, zum Beispiel die Frage, inwiefern die private Welt des Kaisers Franz Joseph dessen politische Entscheidungen beeinflusste oder wie schwer bzw. verloren die Lage für Kaiser Karl gewesen war, werden von nun an mit neuen Fragenkomplexen ersetzt. Vorangeführt werden solche modernen Habsburgerstudien von Laurence Cole, Daniel Unowsky, Tara Zahra, Robert Nemes, Deborah Coen und vielen anderen, dazu auch von ihren europäischen Kollegen wie Heidemarie Uhl, Rok Stergar, Mark Cornwall, Philipp Ther, Tamara Scheer und vielen anderen. Diese neuen Generationen der Historiker der Habsburgermonarchie finden im vereinfachten Sinn unter der Kategorie „New Habsburg History“ ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Als spezifische case-studies wurden diese Ansätze der „New Habsburg History“ schon längere Zeit geprüft. Aber gerade eine Synthese fehlte lange Zeit um all diese scheinend partikularen Fortschritte zu verbinden und schlaggebend eine „Stimme“ der ganzen Generation zu werden.28

Die neue Synthese der Geschichte der Habsburgermonarchie von Pieter Judson, erschienen auf Deutsch 2017 unter den Titel Habsburg: Geschichte eines Imperiums, ist aber in diesem Zusammenhang nicht eine „New History“ (der englische Titel ist The Habsburg Empire. A New History), weil sie erst vor kurzer Zeit publiziert wurde. Sie ist auch auf den methodologischen Ansätzen der Sozialgeschichte und Kulturgeschichte begründet und bietet neue Interpretationen zum Staatswesen und zu dessen Entwicklung im langen 19. Jahrhundert.29 Als jahrelanger Chefredakteur der Zeitschrift „Austrian History Yearbook“ hatte Judson einen klaren Überblick über die meisten neuen Tendenzen der Habsburgerstudien. Dazu wirkt gerade diese Zeitschrift in englischen Wissenschaftsraum als methodologische Werkstatt und Plattform für neue Ansätze nicht nur in der Geschichte der Habsburgermonarchie, sondern auch für die Geschichte(n) der Nachfolgestaaten. Wie wissenschaftliche Diskussionen über das Buch von Pieter Judson bereits gezeigt haben, zeichnet diese Geschichte des Habsburgerreichs ein revisionistisches Bild über dessen Schlussphase.30 Auch andere bekannte historische Eckpfeiler, zum Beispiel die Regierungszeit Maria Theresias und Joseph des II. oder die Metternich-Ära, werden aufs Neue untersucht. Judsons Arbeit ist gleichzeitig provokativ, aber immer noch in „Kommunikation“ mit anderen, älteren Historikern der Geschichte des österreichischen Imperiums. Einige Aspekte werden dennoch vernachlässigt, wie beispielsweise die immer wichtigen außenpolitischen und diplomatischen Ebenen. Dazu kommt auch ein weiteres Problem hinzu, das sich teilweise auch in anderen Synthesen festhalten lässt: Verschiedene Gruppen, Einzelpersonen, Orte oder Beispiele wechseln sich zunehmend ab und werden meistens ungenügend kontextualisiert – ansonsten ein Nachteil mehrerer Synthesen, die die Gesellschaftsgeschichte auf einer Basis der entangled history/histoire croisée also als Verflechtungsgeschichte, darzustellen suchen. Der Historikergeneration, die die „New Habsburg History“ als ihren Forschungsansatz nimmt, bleibt Judsons Synthese zweifelsohne ein deutlicher Wegweiser.