Die Russische Revolution 1917

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Die Russische Revolution 1917
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UTB 2950

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Heiko Haumann (Hrsg.)

Die Russische Revolution 1917

2. überarbeitete und erweiterte Auflage

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2016

Impressum

Heiko Haumann ist Professor em. für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel. Er hat zahlreiche Studien zur Geschichte und Kultur der Juden, zur Geschichte Russlands und Polens, zur Regionalgeschichte sowie zur Lebenswelt einzelner Menschen veröffentlicht.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich

unter www.utb-shop.de.

Umschlagabbildung: Ein Symbol der Revolution: Bauern aus den Komitees der

Dorfarmen nutzen Anfang November 1918 Räume im Winterpalast des Zaren zum Essen.

Fotograf: M. M. Brejtkas.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien

Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Korrektorat: Anja Borkam, Jena

Satz: büro mn, Bielefeld

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier

Printed in Germany

UTB-Band-Nr. 2950 | ISBN 978-3-8252-4530-6 | eISBN 978-3-8463-4530-6

Über dieses eBook

Der Böhlau Verlag steht gleichermaßen für Tradition und Innovation. Wir setzen uns für die Wahrung wissenschaftlicher Standards in unseren Publikationen ein – auch unsere elektronischen Produkte sollen wissenschaftlichen Anforderungen genügen.

Deshalb ist dieses eBook zitierfähig, das Ende einer gedruckten Buchseite wurde in Form von Text-Hinweisen kenntlich gemacht. Inhaltlich entspricht dieses eBook der gedruckten Ausgabe, das Impressum der gedruckten Ausgabe ist vorhanden.

Ein spezielles Editing-Team wirkt gezielt an der Produktion unserer elektronischen Produkte mit – wenn eBooks technische Vorteile bieten, versuchen wir auch diese funktional nutzbar zu machen.

Speziell für dieses eBook wurden die einfarbigen Abbildungen der Printausgabe durch farbige Abbildungen ersetzt. Motiv und Bildausschnitt blieben dabei erhalten.

Begriffe, die im Glossar erläutert werden, sind nur bei ihrem ersten Vorkommen in den Kapiteln verlinkt. Unangenehme Dopplungen wurden so vermieden. Verwenden Sie die Zurück-Taste Ihres Readers um zur ursprünglichen Textstelle zurückzukehren.

Ein verlinktes Register halten wir in diesem Studienbuch für unerlässlich. Es bietet Qualifizierung und Differenzierung gegenüber der Volltextsuche. Anders als bei der Volltextsuche wird jedoch der Suchbegriff, hier Zielstelle, nicht durch den eReader markiert. Die Orientierung findet analog der gedruckten Buchseite im dargestellten Textausschnitt des Readers statt.

Typografie soll dem Leser dienen – diese Regel der Buchkunst ist uns wichtig, auch und gerade in unseren eBooks. So haben alle unsere UTB-Studienbücher ein einheitliches Seitenbild. Wir versuchen dabei bewusst Stilelemente der Print-Ausgaben und des typografischen Reihen-Konzepts aufzugreifen.

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Ihr Böhlau Verlag

Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Über dieses eBook

Vorwort zur ersten Auflage

Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage

Vorbemerkung zur Schreibweise russischer Wörter, zur Datierung, zu den Nachweisen und zum Glossar

Einleitung Heiko Haumann

Lebenswelten im Zarenreich Ursachen der Revolution von 1917 Heiko Haumann

Alternative Entwürfe zu einer Umwälzung der russischen Gesellschaft Anina Schafroth

Die Revolutionäre im Exil Prägungen einer Generation Anina Schafroth/Adrian Hofer/Jörn Happel

Das Jahr 1917 in den Metropolen und in den Dörfern Heiko Haumann

Die Revolution an der Peripherie Jörn Happel

Die Resonanz der Revolution in globaler Perspektive Julia Richers

Das Schicksal der Revolution Sozialismus, Gegenrevolution und der Weg in den Stalinismus Jörn Happel

Veränderungen von Lebenswelten Ideale, Hoffnungen, Enttäuschungen Carmen Scheide

Utopien der Revolution Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums Michael Hagemeister/Julia Richers

Erinnerung an 1917 Sichtweisen der Russischen Revolution Heiko Haumann

Zeittafel Jörn Happel/Adrian Hofer

Glossar Jörn Happel/Adrian Hofer

Literaturhinweise Michael Hagemeister/Adrian Hofer

Abbildungsnachweis

Autorinnen und Autoren

Register Julia Richers

Rückumschlag

Vorwort zur ersten Auflage

Auf dermaßen knappem Raum eine Geschichte der Russischen Revolution von 1917 mit hohem wissenschaftlichem Anspruch und guter Lesbarkeit zu verfassen, ist kein leichtes Unterfangen. Möglich war es nur, weil sich die Autorinnen und Autoren – alles Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Lehrstuhl für Osteuropäische und Neuere Allgemeine Geschichte des Historischen Seminars der Universität Basel – zu einer engen Zusammenarbeit bereitfanden. Unter Hintanstellung anderer Interessen haben sie mit außerordentlichem Einsatz ihre Beiträge geschrieben, zur Diskussion gestellt und überarbeitet. Ihnen allen gebührt deshalb der größte Dank. Für mich war diese Zusammenarbeit wieder einmal eine besonders schöne Erfahrung im Rahmen meiner Tätigkeit. Erleichtert wurde unsere Aufgabe dadurch, dass wir alle – bei einer durchaus vorhandenen Vielfalt von Ansichten und Interpretationen – von einem gemeinsamen wissenschaftlichen Ansatz ausgingen, nämlich den revolutionären Prozess aus der Sicht der betroffenen Menschen, aus einer lebensweltlichen Perspektive darzustellen.

Geholfen haben uns bei diesem Experiment viele Menschen, denen wir hier nicht allen namentlich danken können. Erwähnt seien diejenigen, die uns Rechte und Vorlagen für Abbildungen zur Verfügung stellten – sie sind bei den Bildnachweisen aufgeführt –, darüber hinaus die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Böhlau Verlages – stellvertretend nenne ich unsere Lektorin, Frau Dorothee Rheker-Wunsch –, die es ermöglicht haben, dass aus unserem Manuskript ein schönes Buch geworden ist.

 

Die Russische Revolution hat die Welt verändert, und bis heute wird sie unterschiedlich bewertet. Mit diesem Buch legen wir eine Einführung in dieses Thema vor, die zu einer ersten Urteilsbildung befähigt und zu einer weiteren Beschäftigung anregen soll.

Basel, im April 2007

Heiko Haumann [<<7] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage

Die Neuausgabe unseres Buches erscheint zum 100. Jahrestag der Russischen Revolution. Zehn Jahre sind seit der Erarbeitung der ersten Auflage vergangen. Die damaligen Autorinnen und Autoren sind inzwischen nicht mehr alle an der Universität Basel tätig. Dennoch hat sich unser Team noch einmal zusammengefunden, um die einzelnen Beiträge zu überarbeiten und neue Forschungsergebnisse zu berücksichtigen. Darüber hinaus konnten wir zusätzliche Abbildungen einfügen. Diese können als eigenständige Quellen gelesen werden. Beibehalten wurden unsere Ziele, die wir vor zehn Jahren formuliert haben, und der Ansatz, den revolutionären Prozess aus der Sicht der betroffenen Menschen, aus einer lebensweltlichen Perspektive darzustellen.

Allen, die am Zustandekommen der Neuausgabe beteiligt waren, sei herzlich gedankt. Ein besonderer Dank für die wie immer zuverlässige Betreuung geht an Dorothee Rheker-Wunsch, Julia Beenken und Ralf Kapalla vom Böhlau Verlag. Ebenso danken wir Anja Borkam für das sorgfältige Korrektorat.

Wie schon bei der ersten Auflage hoffen wir, dass das Buch dazu beiträgt, sich mit dem Thema vertieft zu beschäftigen, und eine eigene Urteilsbildung ermöglicht. Auf diese Weise kann die Erinnerung an ein Geschehen wachgehalten werden, das tief in das Leben der Menschen eingriff und bis heute weit über Russland hinaus nachwirkt.

Basel, im April 2016

Heiko Haumann [<<9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe

Vorbemerkung zur Schreibweise russischer Wörter, zur Datierung, zu den Nachweisen und zum Glossar

Russische Wörter werden nach der im deutschsprachigen Raum üblichen wissenschaftlichen Umschrift wiedergegeben, soweit sich nicht eine andere Schreibweise allgemein eingebürgert hat (z. B. Zar, Bolschewiki, Sowjet). Dies gilt auch für Personennamen, es steht also z. B. Trockij statt Trotzki. Dabei sind auszusprechen:

ė wie ein offenes, breites e

c wie z

č wie tsch

š wie sch

šč wie schtsch

v wie w

z wie s in Rose

ž wie g in Passagier

y wie ein dumpfes i

Ein ’ hinter einem Konsonanten bedeutet, dass dieser weich, ein - hinter einem Konsonanten bedeutet, dass dieser hart gesprochen wird.

Der besseren Lesbarkeit halber werden meistens die deutschen und nicht die russischen Bezeichnungen verwendet. Falls russische Begriffe vorkommen, werden sie, soweit sie keine festen Begriffe im Deutschen geworden sind, in der Regel im Text klein und kursiv geschrieben. In wörtlichen Quellenzitaten wird die jeweilige Schreibweise beibehalten.

Die Datierung richtet sich, wenn nicht anders vermerkt, nach dem jeweils gültigen Kalender. In Russland galt bis zum 1./14. Februar 1918 der Julianische Kalender. Für eine Umrechnung auf die Zeitrechnung in den Ländern, die der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 gefolgt waren, muss man den russischen Daten im 19. Jahrhundert 12 und in den Jahren von 1900 bis 1918 13 Tage hinzuzählen. Die Februarrevolution hatte sich nach Julianischem Kalender am 27. Februar 1917 in Petrograd [<<11] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe durchgesetzt, nach Gregorianischem am 12. März. Die Oktoberrevolution fand am 25. Oktober bzw. am 7. November statt.

Aufgrund des knappen Umfangs ist ein ausführlicher Anmerkungsapparat nicht möglich. Nachgewiesen werden lediglich Zitate im Text.

Im Glossar werden häufig wiederkehrende und spezifische Begriffe kurz erklärt. Sie sind im Text – in jedem Kapitel bei ihrer Ersterwähnung – optisch hervorgehoben und werden im Register fett gedruckt. Begriffe, die mindestens an einer Stelle im Text ausführlich erläutert werden, wie etwa Namen und Ziele von Parteien, tauchen nicht unbedingt noch einmal im Glossar auf, sondern sind über das Sachregister leicht aufzufinden. [<<12]

Einleitung
Heiko Haumann

Im Januar 1923 blickte Vladimir I. Lenin, der bereits schwer erkrankte erste sowjetische Regierungschef, noch einmal auf die Oktoberrevolution von 1917 zurück. Dabei setzte er sich mit dem Vorwurf auseinander, die Bolschewiki seien zu überstürzt an den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung herangegangen. Russland sei noch nicht „reif“ für den Sozialismus gewesen, habe noch ein zu niedriges Kulturniveau, eine zu wenig entwickelte Zivilisation gehabt. Dem hielt er entgegen: „Wie aber, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage, wodurch die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfacht wurden, uns die Möglichkeit eines anderen Übergangs eröffnete, um die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen, als in allen übrigen westeuropäischen Staaten? […] Wenn zur Schaffung des Sozialismus ein bestimmtes Kulturniveau notwendig ist (obwohl niemand sagen kann, wie dieses bestimmte ‚Kulturniveau‘ aussieht, denn es ist in jedem westeuropäischen Staat verschieden), warum sollten wir also nicht damit anfangen, auf revolutionärem Wege die Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau zu erringen […].“ Revolutionen würden nicht nach dem Lehrbuch gemacht. Man habe nicht alle Einzelheiten der Entwicklung voraussehen können, aber, wie schon Napoleon geschrieben habe: „On s’engage et puis … on voit. In freier Übersetzung bedeutet das etwa: ‚Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich finden.‘“1

Und auch die deutsche Kommunistin polnisch-jüdischer Herkunft, Rosa Luxemburg, die 1918 von den Bolschewiki eine stärker sozialistisch orientierte Politik und die Freiheit auch „des anders Denkenden“ eingefordert hatte, hob hervor, dass die russischen Kommunisten dem internationalen Proletariat vorangegangen seien und als bis jetzt einzige ausrufen könnten: „Ich hab’s gewagt!“2 Beide Zitate zeigen, welche [<<13] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe weit über Russland hinausreichende Bedeutung der Umsturz im Oktober 1917 hatte. Er war die Folge einer sich radikalisierenden Entwicklung gewesen, ihm hatte kein fest umrissenes Programm für den Aufbau des Sozialismus zur Verfügung gestanden, und es war nicht alles so gelaufen, wie die Kommunisten es sich erhofft und wofür sie so viel gewagt hatten. Bei Lenin spüren wir sogar ein wenig Resignation und das trotzige „Dennoch!“, den Sozialismus doch zu erreichen – eine Erwartung, die spätestens im Terror des Stalinismus versinken sollte.

Dass die Bolschewiki überhaupt in die Lage versetzt wurden, sich zu entscheiden, ob sie den Umsturz wagen sollten, ging auf den Verlauf des Jahres 1917 zurück. Am Anfang stand die Februarrevolution, mit der die Zarenherrschaft gestürzt und eine republikanisch-demokratische Gesellschaftsordnung errichtet wurde. Innerhalb weniger Monate gipfelten die Vorgänge in einer neuen Umwälzung: Zwei Revolutionen verschmolzen in einem Prozess. In diesem Buch sollen die Ursachen dieses revolutionären Prozesses ebenso dargelegt werden wie die wichtigsten Ereignisse des Jahres 1917, seine Folgen und Ergebnisse, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die langfristigen Utopien und die Resonanz in der Welt.

Für viele Menschen in Russland bildete die Revolution zunächst einmal keinen besonderen Einschnitt – das Ernteergebnis oder die Hochzeit waren viel wichtiger. Zahlreiche Beamte und Fachleute arbeiteten in ihren Ämtern, Unternehmen und sonstigen Einrichtungen auch unter den neuen Vorgesetzten weiter, früher entworfene Projekte und Pläne wurden nach wie vor erörtert und teilweise verwirklicht. Die beschleunigte Industrialisierung, die durchgängige Kollektivierung und die Diktatur Iosif V. Stalins seit Ende der 1920er-Jahre verwandelten das Land tiefgreifender als die Revolution von 1917. Trotzdem bedeutete diese einen Bruch, für Russland wie für die Welt.

Die Autorinnen und Autoren dieses Buches haben sich zum Ziel gesetzt, die Kapitel gut lesbar und spannend zu schreiben. Obwohl der Umfang zum Verzicht auf zahlreiche Einzelheiten zwingt, sollen die Vorgänge so nachgezeichnet werden, dass sich die Leserinnen und Leser ein eigenes Urteil bilden können. Die Autorinnen und Autoren wollen deutlich machen, dass eine Vielfalt von Sichtweisen möglich ist, ja sich notwendigerweise aus der Vielfalt der damaligen Anschauungen und der Vielschichtigkeit der Strukturen ergibt. Wir kennen immer nur Fragmente des geschichtlichen Geschehens. Und wir wissen, dass sich nichts zwangsläufig vollzog, dass die Entwicklung offen war und auch ein anderes Ergebnis hätte haben können. Deshalb müssen wir Alternativen in die Untersuchung einbeziehen und danach fragen, warum sie keinen Erfolg hatten.

Um unsere Vorüberlegungen umzusetzen, halten wir den Ansatz für geeignet, aus dem Blickwinkel der Menschen, der historischen Akteurinnen und Akteure, die geschichtlichen Vorgänge zu betrachten, ihre Lebenswelten in den Mittelpunkt zu [<<14] stellen. In diesen bündeln sich individuell-persönliche und übergreifend-strukturelle Faktoren. Die Bedingungen des jeweiligen Handelns werden ebenso fassbar wie Sehnsüchte, Hoffnungen, Erinnerungen. Wahrnehmungen, Erfahrungen, Fühlen, Denken und Handeln werden nachvollziehbar und erhalten einen Bezug zu uns selbst, zu unserem Leben, ermöglichen uns deshalb eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir es mit der Erinnerung an die Geschichte – in diesem Fall an die Russische Revolution – halten und welche Schlüsse wir daraus ziehen.

Das russische Reich bzw. die Sowjetunion in den Grenzen von 1914 und 1923. Der Übersichtlichkeit halber fehlen Teile Sibiriens und die Gebiete des Fernen Ostens. [Bildnachweis]


Immer wieder versuchen die Autorinnen und Autoren, im Sinne dieses Ansatzes die Begebenheiten durch das Handeln einzelner Menschen zu verdeutlichen. Selbstverständlich hätten wir auch andere Akteure und Akteurinnen zu Wort kommen lassen können. Die Auswahl ist im Zusammenhang unserer Forschungen entstanden, in jedem Fall aber vor dem Hintergrund unserer Analysen der Verhältnisse zu verstehen. [<<15]

Unsere Darstellung setzt ein mit den Verhältnissen im Zarenreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und sie endet mit dem Übergang der Sowjetunion in den Stalinismus. Mit dem Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts und mit den damit verbundenen neuen Sozialbeziehungen, mit den Veränderungen auf dem Land, mit der Formierung revolutionärer Bewegungen und den Prägungen, die diese durch das Leben zahlreicher Persönlichkeiten im Exil erhielten, wurden besondere Voraussetzungen geschaffen, die zur Revolution von 1917 führten – auch wenn selbstverständlich noch weiter zurückliegende Faktoren nachwirkten. Das neue Machtsystem des Stalinismus bedeutete das Ende der Versuche, in der Sowjetunion die Ziele der Revolution von 1917 zu verwirklichen. Etwas völlig anderes war Realität geworden, als es sich die Menschen 1917 erhofft und die sozialistischen Revolutionäre erträumt hatten. Von nun an musste man von neuen Bedingungen ausgehen, um eine bessere, eine gerechte Gesellschaft anzustreben – auch wenn viele Menschen noch lange weiter hofften und die Ideen von 1917 bis heute lebendig sind.

Ein hoher Stellenwert kommt im Buch den Hoffnungen, Erwartungen und Utopien zu, die mit der Russischen Revolution verbunden waren. Sie gaben zahlreichen Menschen eine Zukunftsperspektive, brachten diese dazu, die Umwälzungen und die sich anschließende Politik zu unterstützen. Je tiefer dann die Kluft zwischen den Ansprüchen und den tatsächlichen Verhältnissen wurde, desto größer fiel die Enttäuschung aus, aber auch die Versuchung, die Macht mit Gewalt zu sichern, um unter besseren Umständen später einmal zu den ursprünglichen Zielen zurückzukehren. Sie wurden allmählich zu Versprechungen für eine ferne Zukunft, die die Menschen dazu anhalten sollten, sich doch noch mit allen Kräften für die neue Gesellschaft einzusetzen – bis dann sogar behauptet wurde, das Ziel, der Kommunismus, sei greifbar nahe, es brauche nur noch wenige Anstrengungen, um ihn zu erreichen.

 

Die Revolution und ihre Folgen haben unzählige Menschenleben gekostet, und sie haben Bewusstsein und Erinnerung der Menschen in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, ja weit darüber hinaus nachhaltig geprägt. Das kann im Einzelnen nicht Gegenstand dieses Buches sein. Umso wichtiger ist es, sich mit den Ursachen dieses Prozesses zu beschäftigen, die ursprünglichen Zielsetzungen, Hoffnungen, Zukunftsentwürfe und Utopien in ihren konkreten geschichtlichen Rahmenbedingungen wieder ins Gedächtnis zu rufen und zu fragen, wie wir heute damit umgehen. Dazu leistet dieses Buch einen Beitrag. [<<16]

1 W. I. Lenin: Über unsere Revolution. In: ders.: Werke. Bd. 33. Berlin 1962, 462–467, Zitate 464–465, 466.

2 Rosa Luxemburg: Die russische Revolution. In: dies.: Politische Schriften. 3 Bde. Hg. von Ossip K. Flechtheim. Bd. 3. Frankfurt a. M., Wien 1968, 106–141, Zitate 134, 141.