Und ich gab ihm mein Versprechen

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Wieder zu Hause vereinbarten wir sogleich einen Termin bei Christiane B., seiner Hausärztin. Sehr entschlossen und ohne viele Worte teilte mein Vater ihr mit, was er möchte. Dass mein Vater eine Entscheidung getroffen hatte und seine Zuversicht freuten sie. Eine klare Zustimmung fand die Entscheidung gegen eine totale Operation. Eine solche kann ohne weiteres bis zu sechs Stunden in Anspruch nehmen. Während dieser steht der Patient unter Vollnarkose. Aufgrund des Allgemeinzustandes meines Vaters könnte diese Belastung seinen Körper überfordern. Zu der gewünschten Untersuchung gab sie uns weitere Informationen. Unter drei Krankenhäusern konnte mein Vater wählen. Alle entsprechend gut im Fachbereich Urologie. Mein Vater entschied sich für das Krankenhaus am Ort. Mit dieser Wahl stieß er bei meiner Mutter auf absolute Abneigung. War es doch das Krankenhaus, welches sie bisher immer in Trauer verlassen musste. Als Letztes wurde ihr dort der Tod meines Bruders mitgeteilt. Nachts, mit meinem Vater an ihrer Seite, standen sie einsam und allein am Anfang eines langen Ganges. Die Tür der Notaufnahme öffnete sich. Zwei Ärzte kamen auf sie zu. Der Klang der nähernden Schritte löschte sich nie wieder aus ihren Erinnerungen. Geprägt durch diese Erfahrung konnte dieses Krankenhaus ihre Zustimmung nicht mehr finden.

Seinen rationellen Argumenten für dieses Krankenhaus musste meine Mutter letztendlich zustimmen. Weniger als zwanzig Minuten brauchte man selbst mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht. Einer der Ärzte der Urologie war ein Bekannter meines Vaters. Dies und meine Befürwortung ließen keine andere Entscheidung zu. Nach kurzer Rücksprache mit dem Krankenhaus wurde für drei Tage später ein Termin vereinbart. Ich kann nicht sagen, dass meinem Vater die Kurzfristigkeit dieses Termins unangenehm gewesen wäre. Wollte auch er einen schnellen Befund als Grundlage für alles Weitere. Schon am Tag der Aufnahme wurden sämtliche vorbereitenden Untersuchungen vorgenommen. Nach Rücksprache mit dem Anästhesisten ergab sich die Übereinstimmung zur Aussage von Christiane B. Die Auswertungen seiner Untersuchungen zeigten, dass die gesundheitliche Verfassung meines Vaters eine Vollnarkose von sechs Stunden nicht zugelassen hätte. Somit stände die Überlebenschance auf Messers Schneide. Eine Bestätigung mehr für die Entscheidung meines Vaters von der Totaloperation abzusehen. Schon am späten Nachmittag des auf die Operation folgenden Tages fand das Gespräch mit dem Oberarzt statt.

Um eine präzise Diagnose des Karzinoms stellen zu können, war eine erneute Schälung der Prostata erforderlich. Bei dem festgestellten Knoten handelte es sich definitiv um das in der Histologie befundene Karzinom. Im Vergleich zum vorherigen Entlassungsbericht wurde eine Verdoppelung der Größe gemessen. Darin bestätigten sich die Aggressivität und das Schnellwachstum dieser Krebsart. Eine kurzfristige Therapie muss eingeleitet werden. Dazu empfiehlt sich als erste Wahl eine radikale Cystoprostektomie, Totaloperation. Auch der Oberarzt bestätigte noch einmal, dass diese aufgrund der unumgänglichen Vollnarkotisierung über den Zeitraum von ca. sechs Stunden nicht zu empfehlen sei. Alternativ der operativen Therapie besteht eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie.

Ein kurzes und klares Gespräch. Der Befund des Oberarztes glich dem von Professor D., jedoch mit dem dringenden Hinweis, dass Eile geboten sei. Dies war also die Bestätigung die meinem Vater fehlte. Nach diesem Befund stellte er seine Krankheit nicht mehr in Frage. Meine Mutter resignierte in der Hoffnung, dass sich alles als ein Irrtum herausstellen könnte. Mein Befinden in diesem Moment war eher neutral, hatte ich doch genau dieses Ergebnis erwartet. Nachdem der Oberarzt den Raum verlassen hatte, trat Stille ein. Meine Mutter blickte nach unten, schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Mein Vater nahm ihre Hand.

»Jetzt wissen wir es definitiv. Ich habe Krebs.«

Da war sie nun, die Gewissheit. Mein Vater sprach zum ersten Mal aus, was er bis dahin als unausgesprochen dem Unwirklichen gleichsetzte. Mit diesen Worten erkannte mein Vater den Krebs an. Endlich bezog er Position zu diesem Thema. Es war zu erkennen, in ihm erwachte der Wunsch dem Feind nicht nur die Stirn zu bieten, sondern gegen ihn zu kämpfen. Obgleich ihm bewusst war, dass er nicht als Sieger aus diesem Kampf hervor gehen kann. Doch die Möglichkeit der Verlängerung seines Lebens trieb ihn an. Diese Chance wollte er nicht ungenutzt an sich vorüber ziehen lassen.

»Warum du? Was hast du getan? Es trifft immer die Menschen, die es nicht verdient haben. Was sollen wir denn noch alles ertragen? Warum?«

»Mutter, es ist so. Die Frage nach dem Warum wirst du nicht beantwortet bekommen. Wer sollte sie dir beantworten? Fakt ist, der Vater hat Krebs. Wollen wir jetzt den Fragen nach dem Wieso, Weshalb oder Warum nachgehen, verschwenden wir Zeit. Wichtige Zeit, die wir besser in das investieren, was vor uns liegt.«

»Das sagst du so einfach. Dein Vater hat noch nie etwas Schlimmes gemacht. Zu keinem anderen Menschen war er jemals böse. Er war immer ein guter Mensch. Als Dank dafür, wird er nun mit so etwas bestraft. Die haben sich bestimmt wieder geirrt. Hätte es nicht einen anderen treffen können?«

»Zum einen sage ich das nicht einfach so. Zum anderen bist du momentan unfair. Wieso hätte es einen anderen treffen können? Auch ein anderer ist ein Mensch. Die Frage nach einem eventuellen Irrtum der Diagnose haben wir beantwortet. Wie oft soll dein Mann denn noch die Bestätigung bekommen, dass er Krebs hat? Meinst du damit können wir die Tatsache ungeschehen machen?«

Vorwurfsvoll traf mich der Blick meiner Mutter.

Der Mensch. Wie oft befinden wir uns in dem Moment der Hilflosigkeit. Wir werden mit einer für uns unschönen Tatsache konfrontiert. Zack, sie tritt in unser Leben. Völlig unvorbereitet stehen wir ihr gegenüber. Der Mensch zieht Bilanz. Wie leicht ist darin Ungerechtigkeit das Maß aller Dinge. Wir verbuchen nach verdient und unverdient. Unser Blick für die Realität verschleiert sich. Alles, womit wir nichts anfangen können und wollen, verteilen wir. Wir wollen sicher sein, dass es nicht wieder zurückkommen wird. Wir geben dem Ziel keinen eigenen Namen, doch personifizieren wir es. Damit trennen wir die Zuständigkeit von uns ab. Mit allem, womit wir nichts zu tun haben, betrifft uns nicht. Wie einfach können wir uns von dem Ungewollten trennen.

Dass mein Vater Krebs hat war schon nach dem ersten Befund nicht mehr zu leugnen. Keine umstrittenen Untersuchungen haben die Vermutung aufgebracht, dass es Krebs sein könnte. Klar wurde das Karzinom gesehen. Klar war die Tatsache, dass es sich um Krebs handelt. Mein Vater wollte eine Bestätigung dessen. Er hatte sie bekommen. Für ihn war ab diesem Moment der erhoffte Irrtum ausgeschlossen. Meine Mutter wollte die Hoffnung auf einen, für sie, angenehmeren Ausgang nicht aufgeben. Fakten hatte sie keine, um dies zu unterlegen. Also ergab sie sich der Hilflosigkeit. Sie verteilte die Krankheit meines Vaters einfach an andere. Natürlich hätte sie nie einem bestimmten anderen Menschen diese Krankheit gewünscht. Doch wie einfach konnte sie damit die schlimme Problematik von sich abwenden.

Nach ein paar Tagen konnte mein Vater die Klinik verlassen. In einem Gespräch mit Christiane B. klärten wir das weitere Vorgehen. Als nächstes war ein Termin zur Vorbesprechung der anstehenden Therapie erforderlich. Diesen vereinbarte ich für zwei Tage später. Am Tag der Vorbesprechung fühlte sich mein Vater nicht besonders gut. Er schien tief in seinen Gedanken. Ohne weiter darauf einzugehen stiegen wir ins Auto. Kaum hatten wir den Parkplatz verlassen eröffnete mein Vater das Gespräch. Ich verspürte schon die letzten Tage, dass er mit mir über etwas reden möchte, was nichts mit den Vorbereitungen auf den anstehenden Termin zu tun hatte.

»Weißt du, ich kann es immer noch nicht richtig glauben. Wir zwei sitzen hier im Auto und fahren zusammen zu diesem Termin. Mein Vorgespräch zur Krebsbehandlung. Wie schon die ganze letzte Zeit bist du bei mir. Keine Minute bist du von meiner Seite gewichen. Völlig offen hast du alles aufgenommen. Nichts hat dich aus der Ruhe gebracht. Woher hast du nur diese Kraft?«

»Papa, du fragst nach meiner Kraft. Ich kenne da zwei Menschen. Diese haben mir viel, sehr viel, von dem gegeben, über was sie selbst verfügen. Ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, ob sie selbst etwas einbüssen, waren sie immer für mich da. Manchen Weg hatten sie für mich geebnet. Sie sorgten immer dafür, dass es mir an nichts mangeln musste. Ich konnte in Geborgenheit erwachsen werden, die mir viel Platz für mich selbst ließ. Weder du noch die Mutter habt je etwas dafür von mir verlangt. Im letzten Jahr hatte ich viel Zeit über mich und mein Leben nachzudenken. Vieles meines bisherigen Lebens habe ich hinterfragt. Nicht immer war ich voll und ganz zufrieden mit dem, was ich in meiner Erinnerung fand. Auf den einen oder anderen Fehler bin ich gestoßen. Gute, schöne und angenehme Zeiten habe ich erleben können. Auch schlechte, anstrengende und traurige Zeiten habe ich reflektiert. Insgesamt bin ich aber immer wieder auf eines gekommen. Ohne die Vorbereitung auf das Leben, welche ich hatte, wäre ich nie so weit gekommen wie ich heute bin. Ohne den sicheren Halt im Hintergrund wäre manches ganz anders gelaufen. Mir ist klar geworden, wem ich dies zu verdanken habe. Ihr beide habt mir alles gegeben, was nötig war, um das zu erreichen. In diesen letzten zwölf Monaten habe ich abgeschaltet, ausgeruht, Abstand gefunden und Kraft, viel Kraft gesammelt. Mein Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Ich fragte oft, wofür ich dies verdient habe. Als bei dir Krebs befunden wurde, wusste ich den Grund. Nun ist es für mich an der Zeit, etwas zurückzugeben. Ich habe die wohl einmalige Möglichkeit dir und Mutter Danke zu sagen. Danke, für all das, was ihr mir bis heute gegeben habt. Ich habe nicht nur die Chance es in Worten auszudrücken. Ich kann es aktiv zeigen. Du weißt, ich bin ein Mensch der Tat. Ich verbinde meine Worte mit Handlungen. Genau damit kann ich mit dem, was ich mitteilen will, den anderen auch erreichen. Egal, ob mein Gegenüber die gesagten Worte hört, sie in meinen Handlungen sieht oder empfindet, meine Mitteilung kommt an.«

 

»Das stimmt. Ich hatte noch nie Probleme dich zu verstehen. Vielleicht habe ich dir dies nicht immer gezeigt. Viele Worte haben wir zwei sowieso nie über etwas gesprochen. Manches Mal habe ich mich nicht besonders gut damit gefühlt. Doch habe ich dann gesehen, dass es dir gut geht, war ich sehr froh darüber. Welche Worte hätte ich dann noch finden müssen oder können.«

»Manches Mal hast du dich nicht besonders gut damit gefühlt. Sonderbar, manches Mal hätte ich wohl mehr erzählen müssen. Ich weiß nicht, ob wir es an dir oder mir festmachen müssen. Uns beiden wäre es wohl besser gegangen, wenn wir mehr miteinander geredet hätten. Vielleicht wäre da auch die eine oder andere Gemeinsamkeit entstanden. Ich war einfach der zweite Sohn. Dein Erstgeborener war eben vor mir da. Mein großer Bruder. Für deine Mutter, meine Großmutter, war er der erste Sohn des Sohnes. Selbst der früher geborene Sohn deiner Schwester konnte nicht viel an Land gewinnen. Mein Cousin und ich haben uns mit der Zweitrolle abgefunden. In dieser Rolle ging uns beiden nichts verloren. Er hatte die Eltern seines Vaters. Bei ihnen war er der Erstgeborene des Sohnes. Dort hatte er seine Bühne und seinen Wirkungskreis. Ich hatte meine Mutter. Ich denke schon, dass sie gemerkt hat, wer welche Zuwendungen von wem bekommt. Darum schloss sie mich so intensiv in sich. Du warst immer so stolz auf deinen großen Sohn. Warum auch nicht. Ihr zwei hattet die gleichen Hobbys. Viel Zeit habt ihr miteinander verbracht. Eure Interessen hatten einfach mehr Parallelen.«

»Das war mir nie bewusst. Ich dachte immer, dass wir einfach zu unterschiedlich sind. Du warst immer so gefestigt in allem, was du getan hast. Niemals dachte ich, dass dir etwas fehlt. Das tut mir so unendlich leid. Warum habe ich das nie erkannt.«

»Nein Papa. Das muss dir nicht Leid tun. Mir hat doch nichts gefehlt. In meinen Großeltern hatte ich die besten dieser Welt. Nichts war je ein Problem für sie, wenn es um ihre drei Enkel ging. Immer haben sie Alles für uns getan. Dass eine intensivere Zuwendung zu meinem großen Bruder bestand, war zu spüren. Benachteiligt hätten sie mich aber niemals. Die erste Bezugsperson in meinem Leben war schon immer meine Mutter. Doch gab es bei ihr auch Grenzen. Die Dinge, die sie mir nicht mit auf den Weg geben konnte, habe ich doch von dir bekommen. Deine und meine Gespräche waren in einer Zahl ausgedrückt nicht viele. Dass heißt aber nicht, dass sie nicht wichtig und wegweisend waren. Mache dir bitte keine Gedanken darüber, dass du dich falsch oder ungerecht verhalten hättest. Das war nie so gewesen. Nie hätte ich das auch nur im Geringsten so empfunden. Wir hatten einfach zu wenige gemeinsame Themen.«

Eine kurze Pause trat ein. Beide hatten wir das Gesagte erst einmal zu verarbeiten. Ich schaute zu meinem Vater und sprach weiter.

»Es ist halt nur Scheiße, entschuldige bitte diesen Ausdruck, dass wir nun dieses gemeinsame Thema haben. Glaube mir, darauf hätte ich verzichten können. Du bist mein Vater. Wie oft hast du mir gezeigt, dass man stark sein muss. In dir habe ich sehen können, dass man stark sein kann. Nun stehen wir beide vor einem Problem. Dieses hat uns an einem schwachen Punkt getroffen. Das letzte Jahr lebte ich in Amerika. Weit weg von allem, was mir hier meine Kraft geraubt hatte. In dieser Zeit habe ich meine Kraftreserven auffüllen können. Jetzt weiß ich wofür mir dies gelungen ist. Meine Kraft soll nun für uns beide von Nutzen sein. Nimm sie einfach an.«

Tränen standen meinem Vater in den Augen. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Nein.

»Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Mir haben einfach die Worte gefehlt. Jetzt sitzen wir beide hier und reden miteinander. Plötzlich bietest du mir das an, worum ich dich bitten wollte. Lasse mich diesen Kampf nicht alleine bestreiten. Mir gegenüber steht der Krebs. An ihm werde ich sterben. Bis dahin möchte ich alles in Angriff nehmen, was möglich sein wird, um ihn zu bekämpfen. Den Rest meines Lebens werde ich in Etappen verbringen. In jeder dieser muss ich kämpfen. Ich werde es tun. Mit dir zusammen fühle ich mich sicher. Sicher auch darin, dass ich dich an der Seite deiner Mutter weiß. Sie ist verzweifelt. Ich auch. Vor ein paar Tagen habe ich mit ihr gesprochen. Wir sind uns beide darin einig, dass wir den Kampf annehmen. Beide wissen wir aber auch, ohne dich wird uns dies nicht gelingen. Wir brauchen dich und bitten dich um deine Hilfe.«

Niemals zuvor hatte ich diesen Mann solche Worte sagen hören. Sie gingen mir erneut durch den Kopf. »… ohne dich wird uns dies nicht gelingen. Wir brauchen dich und bitten dich um deine Hilfe.«

Hatte ich damals, knapp 15 Monate zuvor, nicht genau wegen dieser Anforderungen alles beendet? War nicht dieses ständige Bitten um meine Hilfe ein Grund dafür, dass ich gegangen war? Das Leisten von Unterstützung und Ich scheinen ein untrennbares Element zu sein. Mein Helfersyndrom ist so leicht zu aktivieren. Auch ohne viele Worte erreicht man mich. Schon immer stellte ich meine eigenen Belange in den Hintergrund. Egal, wer oder was das Unlösbare eines anderen Menschen war, man musste es mir nur sagen. Kaum hatte man dies getan, nahm ich es an. Die Lösungen lieferte ich prompt. Nicht einmal einen Dank habe ich dafür erwartet. Meine letzte Erfahrung aus dieser, meiner Art hatte mich jedoch geheilt. Sollte ich dafür dankbar sein? Meine letzte Partnerschaft begann ebenfalls mit der Aktivierung meines Helfersyndroms. Nur langsam merkte ich, dass die Inanspruchnahme meiner Person ins nahezu uferlose ausartete. Verblenden ließ ich mich durch einen Irrglauben. Ich dachte endlich einen Menschen gefunden zu haben, der mir das gibt, was ich bis dahin dachte, nie gehabt zu haben. Danach sehnte ich mich doch sehr. In meinen Empfindungen gestaltete sich meine Welt plötzlich hell und wunderbar. Nie wieder wollte ich darauf verzichten. Meine Betrachtung wurde getrübt. Mein Vertrauen wurde missbraucht. So lange ich leistete, wurde ich geliebt. Oberflächlich und zweckgebunden, wie sich zum Schluss herausstellte. Ich musste lernen, dass die Liebe auch viele harte Seiten hat. Sobald ich um etwas bat, wurde es mir verweigert. Ich versuchte zu verstehen, warum dem so ist. Auf meine Frage nach dem Warum, ließ man mich ohne Antwort zurück. Mehr noch, mir wurde gezeigt, wie es ist, wenn ich nicht funktioniere. Einen anderen Ausweg als die Klärung dieser Lage sah ich nicht mehr. Ich wollte die Wahrheit wissen. In einem offenen Gespräch schlug mich diese jedoch aus der Bahn. Mit kühlen Worten wurde mir mitgeteilt, was man von mir erwartet. Mehr als meine Unterstützung und Hilfe war es nicht. Ich war getroffen. Wurde mir doch klar, dass ich viele Jahre eigentlich nur benutzt wurde. Die Erkenntnis, dass meine Liebe nur erwidert wird, wenn ich leiste, brannte lange in meiner Seele. Diese Klarheit reinigte mich. Sie und mein Wunsch zu heilen, waren mit die Gründe dafür, dass ich nach Amerika gezogen war. Einige Monate brauchte ich um Abstand zu gewinnen. Vieles habe ich aus der Ferne realistischer betrachten können. Die meisten schönen Momente verblassten. Meine Liebe starb. Eine innere Stille trat ein. In dieser erkannte ich die Erfahrung, die es zu machen galt. Ich sollte lernen, dass auch ich ein Leben habe. Dieses erfordert meine Konzentration und die Unterstützung meiner selbst. Ich nahm sie an, lernte sie und setzte sie um. Um den Grundsatz mich nicht mehr ausnutzen zu lassen wurde ich bereichert. Als ich wieder zurückkam, begann das gleiche Spiel von vorn. Darauf eingelassen, habe ich mich nicht mehr. Meine große Liebe war enttäuscht, drehte den Spiess um und zahlte es mir heim.Zu welch unsinnigen Entscheidungen Menschen in der Lage sind. Von Fairness konnte dabei keine Rede sein. Mit allen Mittel wurde unser gemeinsamer Lebensraum vernichtet. Letztendlich wurde ich persönlich angegriffen, gedemütigt und verletzt. Und alles nur, weil ich erkannt hatte, dass ich nur ausgenutzt wurde und dies beendete. Eine weitere Bestätigung dafür, dass meine, in Amerika getroffene Entscheidung, die richtige war.

Noch einmal gingen mir die Worte meines Vaters durch den Kopf. Sollte ich erneut auf die Probe gestellt werden? Natürlich hatte ich gelernt. Ich habe ein eigenes Leben. Dieses verlangt meine volle Konzentration und Unterstützung meiner selbst. Das war es doch, was ich lernen sollte. Doch in diesem Moment ging es um etwas anderes. Mein Vater und meine Mutter baten mich um meine Hilfe. Eine ganz andere Ebene war erreicht. Hier ging es um die elementare Verbindung zwischen Eltern und Sohn. Damit sollte ich in der Absolution meiner Entscheidung auch die Möglichkeit einer Ausnahme lernen. Ich reflektierte meine Erfahrung und die daraus getroffene Entscheidung. Ich erkannte, der richtige Zeitpunkt für die Ausnahme war gekommen.

Und ich gab ihm mein Versprechen.

»Warum sollte ich euch jetzt alleine lassen? Die letzten Monate habe ich mich ausruhen können. Hatte genug Zeit für mich. Meine innere Kraft ist maximal aufgeladen. Vielleicht auch darum brauchte ich diese Auszeit. Anfänglich unbemerkt hatte ich genau im richtigen Moment die Chance dazu bekommen. Mein Schicksal ist aufmerksam und vorausschauend. Auch ich habe mir meine Gedanken gemacht. Ich sehe in den vor uns liegenden Aufgaben eine einmalige Gelegenheit. Mein ganzes Leben seid ihr an meiner Seite gewesen. Meist still und unaufdringlich. Alles habt ihr für mich getan. Nun kann ich euch danken. Ich kann euch etwas von dem, was ihr mir gegeben habt, zurückgeben. Wer kann diese Chance seine eigene nennen? Alles, was in meiner Macht steht und ich für dich und Mutter tun kann, werde ich tun. Das verspreche ich dir.«

Mein Vater nickte stolz. In seinen Augen konnte ich eine Art Zuversicht erkennen. Hat ihm mein Zuspruch noch gefehlt. Konnte er darum bisher nicht voll und ganz mit seiner Entscheidung zufrieden sein? Ich denke dieses sehr intensive Gespräch auf der Fahrt zur Voruntersuchung gab ihm mehr als alles andere. Sein Vertrauen in die beginnende Zeit wuchs.

Wir betraten die Klinik. Den Namen der Station und den des Arztes wussten wir. Wie wir dorthin kommen allerdings nicht. Ein Arzt und eine Ärztin kamen uns entgegen. Ich sprach sie an und fragte nach dem Weg. Ein kurzer Blick der Ärztin auf meinen Zettel und sie konnte uns helfen. Sie bat uns den Hinweisschildern zu folgen. Sie würden uns den richtigen Weg zeigen. Die Freundlichkeit dieser jungen Frau war bemerkenswert. Vieles hatte ich erwartet. Doch diese liebevolle Art und Weise, wie sie mit uns sprach, übertraf meine Erwartungen. Wir folgten der Beschilderung. Die Freundlichkeit der Ärztin ließ mich nicht los. Sie arbeitet für eine Klinik. Kein einfacher Job. Hohe Leistung wird erwartet. Ständige Bereitschaft, maximaler Einsatz, uneingeschränkte Flexibilität reihen sich ebenso in das Anforderungsprofil ein, wie, fachliches Wissen, Vertrauenswürdigkeit und Ausgeglichenheit. Wäre ich dazu bereit? Ich war mir unsicher und konnte mir diese Frage nicht beantworten. Dachte ich doch an all das, womit man in diesem Beruf täglich konfrontiert wird. War das die Erklärung für die Freundlichkeit mit der sie uns den Weg in die Onkologie zeigte. War das Wort Onkologie der Schlüssel zu allem? Wird man in Verbindung mit diesem Wort schon gleich in ein Raster geschoben? Scheint für jeden Arzt das Ziel schon offensichtlich? Nein, ich merkte, wie ich mich in einem Irrtum verlor. Warum sollte dem so sein? Ihre freundliche Art war echt und mitfühlend. Meine sensible Auffassung hing mehr damit zusammen, dass auch ich eine Angst vor dem anstehenden Gespräch verspürte. Was erwartet uns dort? Ist es ein rein vorbereitendes Gespräch zum organisatorischen Ablauf der Therapie. Bekommen wir Informationen über bestimmte Dinge, die der Patient zu berücksichtigen hat? Oder müssen wir uns mit weiteren unangenehmen Erkenntnissen zum Thema Krebs auseinandersetzen? Ich war unsicher.

Einige Gänge lagen hinter uns. Alle in einem stockenden dunklen Grau. Ein massiver Mangel an Helligkeit. Wir kamen zum Eingang. Ich öffnete die Tür und wir traten ein. Es war wie der Schritt in eine andere Welt. Mein Vater und ich schauten uns verwundert und überrascht an. Durch die großen Glassfronten kam reichlich Licht in den Raum. Die hellen Farben verliehen ihm eine offene Art. Moderne Kunst an den Wänden belebte die Ausstrahlung. Eine richtige Oase des Lichts. Eine Dame mittleren Alters kam auf uns zu. Ohne nach ihm gefragt zu haben, sprach sie meinen Vater mit seinem Namen an. Nicht die geringste Unsicherheit war darin zu erkennen. Sie reichte uns die Hand, begrüßte uns und bat uns herein. Alleine mit diesen wenigen Worten konnte sie einiges unserer Unsicherheit in den Hintergrund stellen. Scheinbar war diese uns anzumerken. Sie nahm uns mit zu ihrem Tisch. Nach ein paar entschuldigenden Worten zum Umbau des Haupthauses wandte sie sich meinem Vater zu. Sie bat ihn um zwei Daten, die in der telefonischen Terminvereinbarung vergessen wurden. Nach ein paar weiteren Sätzen bat sie uns im Nebenraum Platz zu nehmen. Bei den Getränken möchten wir uns bitte selbst bedienen. Der Arzt würde uns dann in etwa 15 Minuten abholen. Um die Zeit zu verkürzen, könnten wir auch auf die Terrasse gehen und die frische Luft genießen. Wie gesagt, würde es noch 15 Minuten dauern. Ich holte uns einen Kaffee. Wir gingen auf die Terrasse. Etwas frische Luft tat uns beiden gut.

 

»Ist doch ganz schön hier. Von mir aus könnte es genau so weitergehen. Was meinst du?«

»Warum nicht. Es ist eine sehr angenehme Atmosphäre.«

»Wie wird das Gespräch mit dem Arzt laufen? Irgendwie bin ich mir unsicher.«

»Keine Ahnung Vater. Allerdings habe ich auch schon darüber nachgedacht. Was erwartest du?«

Mein Vater zuckte mit den Schultern, nahm einen Schluck von seinem Kaffee und schaute auf den Park, der vor uns lag.

»Wir müssen es einfach auf uns zukommen lassen. Ich fühle mich hier allerdings schon viel besser als noch in den dunklen Gängen.«

»Da hast du Recht. Hoffentlich werden diese im Zuge des Umbaus berücksichtigt.«

Nach exakt 15 Minuten kam der Arzt zu uns. Er begrüßte uns und bat uns ihm in sein Zimmer zu folgen.

»Alles, was wir heute besprechen werden, dient der Vorbereitung auf die anstehende Therapie. Im letzten Entlassungsbericht wird als erste Wahl eine radikale Cystoprostektomie empfohlen. Nur bei Ablehnung dieser operativen Therapie stand eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie zur Wahl. Soweit ich aus den Unterlagen entnehmen kann, haben sie sich für eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie entschieden. Welche Fakten haben sie zu dieser Entscheidung gebracht? Ich möchte damit ihren Entschluss nicht bezweifeln, verstehen sie mich bitte nicht falsch. Es ist nur sehr wichtig für mich ihren Gedankenprozess nachvollziehen zu können.«

Mein Vater saß auf seinem Stuhl. Die Hände hatte er auf seinen Beinen liegen. Seine Augen suchten nach einem Punkt, auf den sie sich richten können.

»Eine totale Operation kommt für mich nicht in Frage. Danach wäre ich nicht mehr komplett. Ich hätte einen künstlichen Ausgang. Müsste immer einen Beutel an meiner Seite tragen. Das ist unvorstellbar für mich. Damit könnte ich doch gar nicht mehr raus gehen. Jeder würde das sehen. Nein, das will ich nicht.«

Eine kurze Pause trat ein. Dr. V. machte sich Notizen.

»Diese Angst kann ich nachvollziehen. Alleine schon die Bezeichnung Totaloperation beinhaltet bereits eine ablehnungswürdige Aussage. Allerdings stellt sich dies nicht so negativ dar, wie man es denkt. Doch will ich ihrer Entscheidung nicht widersprechen.«

»Bei der letzten Untersuchung haben die Ärzte auch gesagt, dass es sich dabei um eine lange Operation handelt. Diese würde komplett unter Vollnarkose stattfinden. Aufgrund meines allgemeinen Zustandes besteht die Gefahr, dass ich dies nicht überleben werde.«

»Die Operation könnte bis zu sechs Stunden dauern. Während dieser Zeit stehen sie unter Vollnarkose. Ihr allgemeiner Zustand rät nicht unbedingt dazu. Das ist richtig. Doch besteht darin die größte Erfolgschance.«

Ich merkte, dass mein Vater seine Entscheidung nicht länger erklären wollte.

»Herr Dr. V., meinem Vater ist bewusst, dass es sich um eine seltene Art des Krebses handelt. Natürlich ist es aus medizinischer Sicht wünschenswert, mehr Erkenntnisse über diese Art zu bekommen. Eine totale Operation wäre von Vorteil. Ganz simpel gesagt, man hätte das Karzinom hinterher auf dem Tisch und könnte weitere Untersuchungen vornehmen. Das ist nicht nur zu verstehen. Es ist wünschenswert. Mein Vater würde ihnen gerne diese Möglichkeit geben. Doch kann er sich mit den Begleitumständen nicht anfreunden. Er möchte nicht aufgeschnitten werden. Für ihn ist es ein schlimmer Gedanke. Zu Untersuchungen, die nicht mit einer Operation einhergehen, steht er ihnen zur Verfügung. Bitte verstehen Sie das.«

»Natürlich verstehe ich das. In seiner Betrachtensweise und der Angst ist er nicht der einzige Patient. Was ich zu verstehen geben wollte, war die höhere Erfolgschance. Diese wird bei einer Totaloperation mit 70-80% beziffert. Bei einer kombinierten Radio-Chemo-Therapie mit 60%. Dies sind 10-20% mehr, wobei sie nicht garantiert werden können.«

»Das ist richtig, Herr Dr. V. Mein Sohn hat schon Recht, mit dem was er sagt. Eine Totaloperation möchte ich nicht. Die 10-20% sprechen klar für eine solche. Allerdings ist mir bewusst, dass ich den Kampf gegen den Krebs nicht gewinnen werde. Alles was ich kann, ist mehr Zeit gewinnen. Diese möchte ich angenehm sehen. Ein künstlicher Ausgang würde dies nicht erfüllen. Die damit verbundene Operation ist ein Horror für mich. Meine Angst kann ich nicht begründen. Ich möchte es einfach nicht.«

»Gut, damit tätigen sie eine klare Aussage. Dieses Vorgespräch dient auch dazu, noch einmal alle Möglichkeiten aufzuzeigen. Sie müssen die Transparenz über alles Mögliche bekommen. Es ist sehr wichtig, dass Sie in Ihrer Entscheidung alles wissenswerte berücksichtigen konnten. Ich werde mit Ihnen jetzt die Patientenaufklärung vornehmen. Damit sprechen wir über die Notwendigkeit und Durchführung der geplanten Maßnahme. Naheliegende Risiken und Folgen lernen Sie kennen. Fragen können jederzeit gestellt werden. Ein weiteres Vorgespräch über die Chemo-Therapie wird dann mit dem für Sie zuständigen Onkologen geführt. Danach werden wir einen Termin zum Beginn der Behandlung festlegen.«

»Gut.«

»Kommen wir zu den Basisinformationen zur Strahlenbehandlung. Diese wird bei Ihnen im Beckenbereich vorgenommen. Die ionisierenden Strahlen sollen krankhaft veränderte Zellen gezielt zerstören. Gelingt dies, bildet sich die Geschwulst entweder völlig zurück, verkleinert sich deutlich oder stellt zumindest ihr Wachstum ein. Der Erfolg der Behandlung hängt davon ab, wie empfindlich das kranke Gewebe auf die Strahlen reagiert und wie gut das gesunde Gewebe die Strahlen verträgt. Soweit alles verständlich?«

»Ja.«

Zunächst beurteilt der Arzt die Ausdehnung des Krankheitsherdes durch sorgfältige körperliche Untersuchungen und mit speziellen Untersuchungsmethoden. Danach wird das zu bestrahlende Zielgebiet festgelegt.«

»Welche Untersuchungsmethoden werden das sein?«

»Das sind zum Beispiel Röntgen, Ultraschall, Computer- und Kernspin-Tomographie.«

»O.K., kenne ich.«

»In diesen Untersuchungen werden die günstigen Eintrittspforten für die Bestrahlung gefunden. Für gewöhnlich wird das zu bestrahlende Zielgebiet über verschiedene Strahlrichtungen angegangen um das gesunde Gewebe zu schonen. Ist dann die richtige Einstellung festgelegt, zeichnet der Arzt die Einrittsfelder der Strahlenbündel auf der Haut ein. Diese Hautmarkierungen dürfen auf keinen Fall entfernt werden. Das ist sehr wichtig. Besonders bei der Körperhygiene müssen Sie darauf achten. Die Einzeichnung darf nicht verwischt und schon gar nicht abgewaschen werden. Diese Einzeichnung ist notwendig, um an jedem Bestrahlungstag die exakte Einstellung zu gewährleisten.«

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