Und ich gab ihm mein Versprechen

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Meine Mutter unterlegte die Worte meines Vaters mit einem vorwurfsvollen Blick an mich.

»Du brauchst mich nicht so anzuschauen. Du weißt, dass ich Recht habe und uns nicht unbegrenzte Zeit zur Verfügung steht.«

»Wie soll dein Vater denn eine Entscheidung treffen, wenn er den ganzen Tag nicht zur Ruhe kommt? Selbst jetzt beim Essen reden wir wieder darüber.«

»Genau jetzt haben wir die Zeit dazu. Wir werden in den nächsten Tagen sehr viel darüber reden. Der Krebs ist Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir müssen ihn akzeptieren. Erst wenn wir dies getan haben, erkennen wir ihn an. Es ist nicht nur eine Krankheit. Nichts, was man mit ein paar Tabletten erledigen kann. Ich möchte nur noch einmal ganz klar sagen, es ist eine seltene, aggressive und schnell wuchernde Art des Krebses. Entweder wir beginnen ihn zu bekämpfen oder er überrennt uns. Es gehört zu den Gesetzen der Natur. Wir Menschen sind einfach zu gering um mit der Natur zu spielen. Mein Vater, dein Mann hat Krebs. Dieser Mensch gehört zu uns. Seine Krankheit ebenfalls. Sie ist keine, die nur die jeweilige Person betrifft. Krebs ist eine Familienkrankheit. Wir alle sind daran beteiligt und haben damit zu tun. Lasst uns endlich beginnen unser erworbenes Wissen umzusetzen. Wir sind stark genug.«

Meine Worte saßen. Sie schauten mich an. Meine Mutter begann zu weinen. Die Augen meines Vaters sprachen von Hilflosigkeit.

»Was soll ich denn tun? Hier komme ich nicht zur Ruhe. Schon im Krankhaus gab es nur noch dieses Thema. Jeder der anruft, fragt danach. Wenn ich mal wieder raus gehe, werden mich alle ansprechen. Wie soll ich denn da einen Gedanken finden, wenn ich immer nur über alles berichten muss?«

»Ich mache euch einen Vorschlag. Sobald keine Nachbehandlung zur Prostata-Operation stattfinden muss und Professor D. keine Bedenken hat, fliegt ihr mit mir nach Florida zurück. Dort seid ihr weit weg von hier, raus aus dem täglichen Umfeld. Wir können den ganzen Tag am Strand sitzen. Vater kann in Ruhe nachdenken. Wenn er reden will, sind wir da. Es ist dort niemand, der dir ständig reinreden wird, unaufgefordert Tipps gibt oder nur seinen Senf zu allem beitragen will. Ganz in Ruhe lassen wir es angehen. Sobald der Vater eine Entscheidung getroffen hat, sagt er es uns. Wir packen die Koffer und kommen wieder zurück. Dann haben er und wir einen klaren Weg vor Augen. Wir alle sind danach gefestigt und können uns voll auf die neuen Aufgaben konzentrieren. Das ist keine Flucht. Wir und besonders der Vater brauchen Ruhe. Dort haben wir sie.«

Die Idee war platziert. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass sie entsprechend meinen Erwartungen ankommen würde. Erst sagte keiner etwas, dann sprachen alle gleichzeitig. Meine Mutter warf ein, dass dies nicht gehen würde. Immerhin wäre der Vater krank und hätte eine Operation eben erst hinter sich. Außerdem denke sie, dass Professor D. einer solchen Reise nie zustimmen würde. Ihre letzte Aussage zeigte mir aber schon, dass sie sich bereits mit dem Gedanken angefreundet hatte. Mein Vater meinte nur, dass dort schönes Wetter sei und er gerne ins Roadhouse und zum China-Buffet gehen würde.

Ich war etwas überrascht.

Meine Mutter, da konnte ich mir sicher sein, musste erst einmal etwas dagegen haben. Bei ihr regiert immer erst eine ablehnende Haltung. Sie warf sofort ein, dass Professor D. etwas gegen diese Reise haben könnte. Ihre indirekte Zustimmung war also da. Nur noch anderes könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen. Dass mein Vater weniger über den langen Flug zu schimpfen hatte, als sich mehr auf das Steakhaus und das China-Buffet zu freuen, war seine Zustimmung schlechthin.

War ich mir der Verantwortung bewusst?

Ich erinnerte mich an ein paar Zeilen die ich kurz zuvor gelesen hatte.

Wenn unser Leben unbeschwert ist und alles reibungslos läuft, dann können wir uns leicht etwas vormachen. Wenn wir jedoch wirklich verzweifelten und ausweglosen Situationen gegenüberstehen, gibt es keine Zeit mehr für Heucheleien, und wir müssen uns mit der Wirklichkeit auseinander setzen. Schwierige Zeiten lassen uns Entschlossenheit und innere Stärke entwickeln. Durch sie können wir auch dahin gelangen, die Nutzlosigkeit von Ärger anzuerkennen. Anstatt zornig zu werden, können wir eine tiefe Fürsorge und Respekt für solche Unruhestifter in uns hegen, da sie uns, indem sie unangenehme Umstände schaffen, unschätzbare Gelegenheiten liefern, uns in Geduld und Toleranz zu üben.

Im Allgemeinen war das Leben meines Vaters bisher reibungslos verlaufen. Tief einschneidende Ereignisse hatte er erleben müssen. Die meiste Zeit seines Lebens jedoch hatte er unbeschwert verbringen können. Ohne ihm das Recht auf Empfindung jedes einzelnen Lebensabschnittes abzusprechen, war er nicht auch jemand, der den gegebenen Raum nutzte, um die Dinge etwas anders zu sehen. Sich etwas vormachen, hat immer eine etwas negative Aussage. Doch betrachten wir nicht manches Mal die Dinge so, wie wir sie vor unserem Auge gerne sehen würden? Eine ganz individuelle Eigentherapie. Dies gelingt nicht immer. Das wissen wir alle. Stehen wir Situationen gegenüber, die für uns nicht zu meistern scheinen, müssen wir aktiv werden. Verträumen können wir nichts mehr. Wir setzen uns damit auseinander. Richtig, denn nur dann haben wir eine Chance sie kennen zu lernen. Wir schaffen eine Gleichheit der Kräfte. Unsere innere Stärke wächst. In ihr finden wir Entschlossenheit. In ihr erkennen wir die Zeit, die wir für andere Empfindungen investiert haben. Wir erkennen die Nutzlosigkeit in dieses Invest. Wir erkennen aber auch etwas sehr viel Wertvolleres. Wir nehmen unsere Empfindungen an. Wir verschieben die Mächte. In der neuen Konstellation finden wir Toleranz. In der Toleranz finden wir Geduld. Eine der Stärken, über die wir Menschen verfügen.

Am nächsten Tag sprach ich mit Professor D. Nachdem ich ihm meine Sicht der Dinge aufzeigte, bat ich ihn um seine Meinung zu unserem Vorhaben. Er fragte mich, wie ich zu meiner Sicht der Dinge gekommen sei. Mit meinen ganz eigenen Worten sprach ich von meinen ganz eigenen Empfindungen. Er hörte mir aufmerksam mit. Mit nicht einem Wort oder einer Geste unterbrach er mich darin. Nach einem Moment des Überlegens stimmte er dem Vorhaben zu. Ich war zufrieden. Dies sah er mir an. Er fragte mich, ob er mir eine Frage stellen dürfte. Ich bejahte dies.

»Die Anamnese Ihres Vaters ist mir bekannt. Darin gibt es den Punkt zu Krebskrankheiten in der Familie. Außer der Information über Ihren Großvater ist dort nichts nachzulesen. Entschuldigen Sie die offene Frage. Wurde auch bei Ihnen schon einmal Krebs befunden?«

Diese Frage war offen und kam direkt an. Mit fragendem Blick antwortete ich.

»Nein, wieso fragen Sie danach? Muss ich mich der Familienhistorie fügen? Sollte ich nach meinem Großvater und meinem Vater ebenfalls damit rechnen?«

»Nein, nein, keine Angst. Das wollte ich damit nicht gesagt haben. Als Sie mir eben Ihre Sicht der Dinge geschildert haben, verwunderte mich dies in positiver Weise. Weder eine Verleumdung des Krebses noch die geringste Ablehnung dessen war zu erkennen. Mit keinem Ihrer Worte ignorierten Sie ihn. Nicht einmal die Frage nach dem Warum haben Sie gestellt. Natürlich sind Sie nicht die betroffene Person. Aus meinen bisherigen Erfahrungen in vergleichbaren Fällen, habe ich noch nie jemanden wie Sie kennen gelernt. Für Sie ist der Krebs Ihres Vaters kein Feind. Sie sehen ihn als Fakt. Als eine Sache, die keine Daseinsberechtigung hat. Sie konzentrieren sich auf Ihren Vater. Für Sie gilt es seine Stärke aufzubauen. Das alleine wird ihn in die Lage versetzen die richtige Entscheidung zu treffen. Sie geben ihm Raum.«

»Raum ist das richtige Wort. Für mich stehen die Worte Raum und Leben im Zusammenhang. Ich versuche meinem Vater zu zeigen, dass sein Lebensraum noch vorhanden ist. Nach dem Befund fühlte er sich um diesen beraubt. Dem ist nicht so. Solange wir leben, müssen wir das Leben auch erfüllen. Nur dann können wir empfinden, realistisch betrachten, abwägen und Entscheidungen treffen. Jeder von uns hat schon einmal situationsbedingt gelogen. Dazu haben wir das Recht. Sowieso, wenn es vertretbar ist. Nur in einem, können wir Menschen nicht lügen. Immer dann, wenn wir eine Entscheidung treffen. Zum Angehen einer jeden Situation treffen wir Entscheidungen. Sehr oft, merken wir das schon gar nicht mehr. Bei großen Entscheidungen brauchen wir die entsprechende Zeit, Geduld und Ruhe. Ist es uns nicht möglich, diese zu finden, müssen wir etwas verändern. Veränderungen sollten wir grundsätzlich vornehmen. Mein Vater wird momentan von allen Seiten mit dem Thema Krebs konfrontiert. Was gestern noch nur in der Nachbarschaft oder bei Bekannten von Bekannten Realität war, ist heute in sein Haus eingezogen. So nah ist es gekommen, dass man es quasi spüren und riechen kann. Er selbst hat ihn noch lange nicht angenommen. Das Wissen, er hat Krebs ist ihm noch fremd. Er braucht Zeit und Ruhe. Er muss vom täglichen Umfeld Abstand nehmen. Nur dann kann er die Geduld finden um ihn kennen zu lernen. Wie Sie sagen, der Krebs ist kein Feind. Er ist eine Tatsache, die beseitigt werden kann. Aus medizinischer Sicht haben Sie uns alles an Informationen gegeben, was möglich ist. Darüber macht mein Vater sich keine Gedanken mehr. Was er noch muss, ist den Krebs akzeptieren. Dann wird er Zufriedenheit mit sich selbst finden. Aus dieser Zufriedenheit speist sich die Kraft, die er jetzt benötigt. Oder ganz simpel gesagt, an was wir halbherzig gehen, wird uns nicht wirklich gelingen.«

»Erstaunlich. Nicht nur in ihren Worten sagen Sie das. Auch Ihr Ausdruck und Ihr Gesicht lassen erkennen, dass Sie es so meinen. Trotz der Tatsache, dass dieser Krebs nicht zu besiegen ist, geben Sie nicht auf. Wunderbar.«

»Danke. In einem unserer ersten Gespräche sagten Sie, dass wir von Fall zu Fall leben müssen. Wie lange die Zeit dazwischen sein wird, ist nicht zu bestimmen. Die Endlichkeit von Allem ist der Tod. Das war sehr ehrlich und richtig. Dies sage ich nicht nur mit meinen Worten. Ebenso empfinden dies mein Vater und meine Mutter. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.«

 

»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Informieren Sie mich bitte, sobald Ihr Vater eine Entscheidung getroffen hat. Sollte er dazu meine Hilfe oder meinen Rat benötigen, rufen Sie mich an oder senden Sie mir eine Mail.«

»Vielen Dank. In jedem Fall werde ich Sie darüber informieren, was er entschieden hat.«

Nach diesem Gespräch fühlte ich mich sehr gut. Meine Idee war die richtige gewesen. Mein Vater wird eine Entscheidung treffen. Darin war ich mir sicher.

Die ersten Tage in Florida vergingen. Mit keiner Silbe wurde das Thema Krebs angesprochen. Wie mein Vater mir später einmal sagte, genoss er die ersten Tage. Für ihn hatte es eine befreiende Wirkung, dass so viel Zeit vor ihm lag. Zwar wusste jeder von uns genau, welcher Auftrag zu erledigen war. Doch übten wir uns in Geduld. Ganz ohne Drang sollte eine Entscheidung getroffen werden. Eine Entscheidung trifft sich vermeintlich einfacher, wenn man das Drumherum mit angenehmen Dingen gestaltet. Die Tage starteten mit einem leckeren Frühstück. Auf dem Weg zum Meer noch einen Abstecher zu Starbucks. Meist zum Kaffee noch ein Cookie, ein Muffin oder sonst eine Süßigkeit. Am Strand tankten wir nicht nur Licht und Wärme. In unseren Spaziergängen auch Ruhe und Ausgeglichenheit. Der Atlantik um diese Jahreszeit verschafft dem Körper die benötigte Abkühlung. Mit der Zufriedenheit des Tages entschieden wir nachmittags, wie wir uns abends kulinarisch verwöhnen lassen. Mal war es das Steak im Roadhouse, die Chicken Wings bei Hooters, das abwechslungsreiche Buffet beim Chinesen oder wir kochten gemeinsam zu Hause. An einem Tag in der zweiten Woche saß mein Vater gedankenversunken in seinem Stuhl am Strand und blickte auf das Meer. Meine Mutter und ich saßen am Tisch dahinter.

»Heute gefällt mir dein Vater gar nicht. Er ist so ruhig. Was hat er nur? Willst du nicht einmal zu ihm gehen und ihn fragen, was mit ihm ist?«

»Was meinst du wohl, was er haben wird? Seinen Wunsch, eine Entscheidung zu treffen, nimmt er ernst. Damit wird er heute begonnen haben. Gib ihm einfach die Zeit dazu.«

»Vielleicht weiß er nicht, wie er sich entscheiden soll.«

»Und du denkst, dass du ihm die Entscheidung vorsagen kannst? Diese Entscheidung ist einzig und allein vom Vater zu treffen. Will er sich auf dem Weg dahin mit uns unterhalten, dann wird er das aus eigenen Stücken tun. Für dich ist es nicht einfach. Du möchtest nicht loslassen. Aber hier hast du keine andere Wahl.«

»Ich mache mir doch auch meine Gedanken. Es ist zum verrückt werden. Ich hätte nie gedacht, dass die Worte vom Professor D. mich so schnell einholen. Weißt du noch, nach dem ersten Gespräch sagte er doch zu mir, ich wünsche ihnen alles Gute und viel Kraft für die anstehende Zeit.«

»Ich weiß. Und genau dass hat er damit auch gemeint.«

Mit unserem Blick auf meinen Vater und ohne jedes weitere Wort vergingen die nächsten Minuten.

Ich stand auf, nahm einen Vanillejoghurt aus der Kühlbox und ging zu ihm.

»Magst du einen Joghurt? Vitamine kommen bei Kopfarbeit immer ganz gut.«

Mein Vater schaute mich an und grinste. Ein leichter Ausdruck erwischt worden zu sein, legte sich in seinen Blick.

»So du denkst also, ich arbeite mit dem Kopf.«

»Ja, anderes Werkzeug sehe ich im Moment nicht.«

Eine Welle schlug an den Felsen.

»So wie diese Welle auf den Felsen schlug, schlug der Krebs in mein Leben.«

Bei diesen Worten starrte mein Vater auf das Meer hinaus. Über uns zogen fünf Seemöwen. Beide schauten wir nach oben.

»Doch die Gewissheit, dass du Krebs hast, schlug wesentlich heftiger in unser Leben als die Welle an den Felsen. Das Aufbrausen des Meeres ist vergänglich. Was es mit sich bringt, regelt sich von selbst. Gegen den Krebs und seine Beschwerlichkeiten, die er mit sich bringt, muss etwas getan werden. Was getan werden kann, wissen wir. Du siehst die fünf Vögel am Himmel. Sie sind auf der Reise und ziehen weiter. Auch dein Leben ist noch in Bewegung. Wo deine Reise hingehen soll, kannst du entscheiden.«

Meine Hand lag auf seiner Schulter und drückte ihn leicht. Ich gab ihm das Joghurt und ging zu meiner Mutter zurück. Sie schaute mich fragend an. Ich nickte ihr zuversichtlich zu.

An diesem Abend gingen wir in das Roadhouse. Meinen Eltern gefiel es dort sehr gut. Ein ganz typisch amerikanisches Restaurant. Dielenboden, ein großer Holztresen in der Mitte des Raumes, Country Musik und Off Road Bilder an der Wand. Freundliches und serviceorientiertes Personal. Bei den meisten Bedienungen hatte man sofort ein vertrauensvolles Gefühl. Man wusste, das ist Mary Ellen. Eine, die aus vielen Geschichten, die man ihr bereits erzählt hat, das eigene Leben fast besser kennt, als man selbst. Mit einem offenen »Hallo, wie geht’s?« nimmt sie die Speisekarten und die Bestecke in die Hand und bittet einen, ihr zu folgen. Wie immer saßen wir an einem Fensterplatz. Draußen zog ein Gewitter auf. Untypisch für diese Jahreszeit. Doch die Hitze des Tages hatte nichts anderes versprochen.

»Haben wir im Haus alle Fenster zu? Haben wir alles ausgemacht? Sind die Antennenstecker gezogen?«

Meine Mutter stellt immer die gleichen Fragen bei einem aufziehenden Gewitter. Woher diese panische Angst stammt, konnte sie noch nie erklären. Schätzungsweise war ihr das selbst nie bewusst.

»Mache dir mal keine Gedanken. Hier ist alles flach. Durch die Wände des Hauses leitet sich nichts weiter. Und anstatt Antennen sind hier alle verkabelt. Außerdem glaube ich nicht, dass das Gewitter es sich zum Ziel gesetzt hat, uns im Freien übernachten zu lassen.«

»Ich habe halt immer Angst, wenn ein Gewitter aufkommt.«

Mein Vater lächelte.

»Und Vater? Du warst heute so ruhig am Strand. Hast du ein bisschen nachgedacht?«

Meine Mutter schaute erst zu mir und dann zu meinem Vater. Ihre Angst vor dem aufziehenden Gewitter schien der vor den Worten meines Vaters zu weichen. Dachte sie, das Jüngste Gericht würde sprechen? Mein Vater sagte einen kurzen Moment gar nichts. Er räusperte sich.

»Lasst uns erst einmal essen.«

Eine unzufriedene Stille trat ein. Es blitzte hell. Ein lautes Grollen folgte.

»Wie du möchtest«, gab ich ihm zurück.

Meine Mutter zog ihre Augenbraue hoch. Immer ein Zeichen dafür, dass sie mit etwas anderem gerechnet hat.

»Naja, es sind so viele Gedanken in meinem Kopf. Professor D. hat uns so viele Informationen gegeben. All die Therapien, die er vorgeschlagen hat. Was wird die richtige Entscheidung sein?«

»Zum einen besteht die Möglichkeit der Totaloperation. Das heißt in deinem Fall muss ein künstlicher Ausgang gelegt werden. Zum anderen eine Injektion in das Karzinom. Dadurch wird der abgeschlossene Mantel des Gebildes durchstoßen. Oder eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie. Das heißt es können alle damit einhergehenden Nebenwirkungen auftreten. Diese Nebenwirkungen sind temporär zu sehen. Die vergleichbar größten Heilungserfolge sind mit der Totaloperation zu erzielen. Die meisten Erfahrungen konnten bisher in einer kombinierten Radio-Chemo-Therapie gewonnen werden. Auf Kenntnisse der Behandlung durch Injektion kann aktuell nicht zurückgegriffen werden. In jedem Fall aber haben alle Methoden einen schulmedizinischen Hintergrund.«

»Also, eine Totaloperation möchte ich nicht. Ich habe keine Lust den Rest meines Lebens mit einem Beutel herum zu laufen. Soll ich denn jedem meine Krankheit offen vor Augen führen? Nein, dieser Gedanke ist mir der Unliebsamste. Die Behandlung durch Injektion kann ich nicht genau nachvollziehen. Keine Ahnung, was da in das Karzinom gespritzt werden soll. Die Chemo-Therapie ist ja eine bekannte Sache. Man hat da schon so viel gehört. Die Haare fallen einem aus. Man ist ständig müde und nimmt so viel ab.«

»Dann bleibt ja gar nichts mehr übrig«, unterbrach meine Mutter ihn.

»Mutter, er hat doch erst mal nur aufgezählt, über was er nachgedacht hat. Das sich der Krebs nicht einfach so auflöst, ist ihm auch klar.«

»Vielleicht muss er auch gar nichts machen. Bei so vielen Männern wurde schon die Prostata operiert. Bisher habe ich bei noch keinem mitbekommen, dass sie dort Krebs gefunden haben. Es kann ja sein, dass dein Vater auch keinen Krebs hat.«

Schönreden. Wieso beginnt sie die Sache schönzureden? Ein Thema, mit dem man sich bisher nicht befassen musste. Ein Befund, der für einen selbst unvorstellbar war. Wir fliehen lieber als dass wir uns damit auseinandersetzen. Ungeachtet der Tatsache, dass die Realität so ist, wie sie ist. Wir rennen einfach weg. Wie sicher ist aber doch, dass sie uns einholen wird. Wie gerne übergibt man dem Wunsch die Regentschaft über die Gedanken. Wie gerne manipuliert man sich doch selbst. Wie einfach lassen sich Probleme damit lösen. Der Weg des geringsten Widerstandes ist so einfach zu bestreiten. Allerdings können wir auf diesem nicht der Wahrheit einer Sache entkommen. Real existierenden Dingen können wir nur real gegenüber treten. Doch die Hoffnung stirbt zum Schluss. Meine Mutter ist ein Mensch, der nicht die Konfrontation scheut. Hier stößt sie an ihre Grenzen. Das ist ihr bewusst. Sie ist hilflos.

Ich schaute sie an.

»Wäre dem nur so. Nichts hätte ich im Moment lieber an Wissen als das. Wir können den Befund in Frage stellen. Das Karzinom wurde rein zufällig entdeckt. Ein sogenannter Nebenbefund. Selbst wenn es bei der Operation nicht um das Auffinden dessen ging, wurde es festgestellt. Professor D. praktiziert schon sehr lange. Seine Erfahrung möchte ich nicht anzweifeln.«

»Das sage ich ja nicht. Aber es könnte doch sein.«

»Verschließe nicht die Augen vor der Wahrheit. Vater, was meinst du denn dazu?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Die Ärzte haben etwas gefunden. Sie konnten es identifizieren. Es ist ein Karzinom. Worin sollen sie sich irren? Natürlich wäre mir ein Irrtum das Liebste.«

»Möchtest du eine zweite Untersuchung vornehmen lassen? Professor D. sagte, dass dem nichts im Wege stehen würde.«

»Ich weiß nicht. Diese ganze Operation noch einmal. Das will ich nicht. Es ist eine nicht gerade angenehme Sache. Wer weiß, was sie dann noch alles finden.«

»Eine komplette Operation wird es nicht wieder geben. Es wird eine Untersuchung durchgeführt. Danach bekommst du eine Bestätigung des letzten Befundes. Wie diese Untersuchung abläuft, können wir mit Christiane B. besprechen. Allerdings solltest du dir im Vorfeld nicht zu viel Hoffnung machen. Entschuldige bitte, ich denke halt, dass sich nichts anderes ergeben wird, als bereits feststeht.«

»Ich vertraue Professor D. Vielleicht denkt er, dass ich ihn für inkompetent halte. Wenn ich heute sage, dass ich eine weitere Untersuchung haben möchte, wird er beleidigt sein. Wie stehe ich dann da?«

»Das wird er nicht. Wieso sollte er dies denken oder beleidigt sein? Immerhin hat er dir doch zugesprochen. Wenn du eine weitere Sicherheit brauchst, dann ist ihm dies recht. Mache dir darüber keine Gedanken. Hier geht es um dich und sonst niemand anderen.«

»Du meinst also, ich könnte noch eine Untersuchung wünschen? Wo würde die denn gemacht werden? Wie lange müsste ich dazu im Krankenhaus sein?«

»Keine Ahnung. Schätzungsweise kann Christiane B. uns darüber informieren. Du wirst wohl zu einem Urologen müssen. Dieser wird die Notwendigkeit der Untersuchung feststellen. Er schreibt eine Einweisung und schlägt dir Krankenhäuser vor.«

Unser Essen kam. Bereichert um die neue Idee hatte jeder von uns genug zum Denken. Ein weiteres Wort wurde an diesem Abend nicht mehr über dieses Thema gesprochen. Mein Vater schien zufrieden, meine Mutter auch.

Die nächsten Tage vergingen. Mein Vater dachte viel nach. Hatte er sich mit der neuen Untersuchung bereits abgefunden? Erhoffte er sich durch sie einen Befund der alles widerlegt? Für mich unvorstellbar. Erhoffte er sich damit allem zu entgehen? Sollte der neue Befund gleich dem des ersten sein, was dann? Würde er ihn als Bestätigung sehen? Träfe er ihn erneut unvorbereitet? Ein Schlag zurück? Klar, die Möglichkeit besteht, dass der Befund anders ausfällt. Zum ersten Mal erkannte ich sie an. War es doch das, was auch ich mir in meinem Innersten für ihn wünschte. Vergessen darf man dabei aber nicht, dass die Untersuchung mehr eine Bestätigung des bisherigen Befundes sein wird. Am Ende der dritten Woche sprach ich meinen Vater erneut an. Nicht nur ich, auch meine Mutter wollte wissen, was in ihm vorgeht. Die Tage zuvor hatten wir das eine oder andere besprochen. Um seine getroffene Entscheidung ging es dabei nicht. Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl mit dem Gedanken ihn ansprechen zu müssen. Doch früher oder später musste es sein.

 

»War doch eine gute Idee hierher zu kommen. Jeden Tag hatten wir Sonne und angenehme Temperaturen. Genug Strand, Meer und Essen hatten wir außerdem. In den letzten drei Wochen hast du richtig Ruhe finden können. Nur drei Mal haben wir mit zu Hause telefoniert. Man sollte viel öfter eine Auszeit nehmen.«

»Mit den anderen Urlauben lässt sich dieser doch gar nicht vergleichen. Sonne und alles andere hatten wir in jedem Fall. Ruhe hatten wir genug. Doch musste ich bisher in noch keinem Urlaub eine solche Entscheidung treffen. Eine Entscheidung, die so schwer und doch so wichtig ist. Wie gerne hätte ich darauf verzichtet. Sonst habe ich mich nach ein paar Wochen hier immer auf zu Hause gefreut. Dieses Mal liegen die Dinge einfach etwas anders. Was wird sein, wenn wir zurück in Deutschland sind? Alles wird wieder auf mich einstürzen.«

»Das ist richtig. Nur bist du dir nach der Zeit hier in einigem sicherer und siehst manche Dinge klarer. Ich denke, sobald du entschieden hast, was du möchtest, bist du sicherer. Du weißt, was vor dir liegt. Du hast ein Ziel. Kein einfaches Ziel, das ist klar. Hast du dich denn schon mit einem Gedanken anfreunden können?«

»Ich möchte erst einmal eine weitere Untersuchung vornehmen lassen. Dann sehen wir mehr. Was danach kommt, werden wir sehen. Eine totale Operation möchte ich nicht haben. Von der Sache mit den Spritzen weiß ich nicht, was ich halten soll. Eine Radio-Chemo-Therapie erscheint mir am angenehmsten. Meinst du das ist richtig entschieden?«

»Die Entscheidung nach dem Ausschlussverfahren ist wohl richtig. Wenn du die totale Operation ablehnst und dir bei den Spritzen nicht sicher bist, dann bleibt nur die Radio-Chemo-Therapie. Was damit alles zusammenhängt, wissen wir theoretisch. Wie sie bei dir umzusetzen ist, wird in dem Erstgespräch erläutert. Nebenwirkungen gibt es immer. Allerdings wissen wir nicht, ob sie bei dir auftreten werden. Kommen keine, dann ist das bestens. Treten wenige, einige oder viele auf, verlässt du dich auf die Ärzte. Nebenwirkungen können behandelt werden. Wieso sollten bei dir ganz neue auftreten? Wenn du mit deiner Entscheidung zufrieden bist, dann ist sie richtig.«

»Und was meinst du wegen der weiteren Untersuchung? Soll ich sie vornehmen lassen? Wird die Krankenkasse mitspielen?«

»Warum sollte die Krankenkasse nicht mitspielen? Alleine schon aus dem Kostenvergleich ergibt sich ein klares »Ja« dazu. Eine zweite Voruntersuchung ist kostengünstiger als eine Radio-Chemo-Therapie. Wenn sich mit ihr ergeben sollte, dass du keinen Krebs hast, dann hat sie sich gelohnt. Sollte der Befund gleich dem ersten sein, sind die weiteren Investitionen sinnvoll. Allerdings geht es bei der Untersuchung um dich und nicht um die Vorteile der Krankenkasse. Du möchtest eine weitere und neutrale Bestätigung dessen, was Professor D. befunden hat. Warum nicht, damit stellst du dein Vertrauen zu ihm nicht in Frage.«

»Nein, in keinem Fall. Ich will mir hinterher nur sicher sein, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«

Einen Moment sagte er nichts.

»Ja, ich möchte eine weitere Untersuchung. Vielleicht habe ich Glück und alles war ein Irrtum. Wenn nicht, dann weiß ich, was ich machen werde. Wie sagtest du? Dann habe ich ein Ziel.«

Ein erster Schritt war getan. Mein Vater hoffte im Innersten zwar, dass sich alles als ein Irrtum auflöst. Doch hatte er entschieden, wie es weitergehen soll, wenn dem nicht so sein würde. Er hat den Gedanken akzeptiert, dass etwas getan werden muss. Mit was er sich am besten einigen konnte, war die Radio-Chemo-Therapie. Nicht die Entscheidung selbst ist die Schwierigkeit. Wir erliegen mehr auf dem Weg dorthin den erdrückenden Erkenntnissen, die wir ziehen. Mit einem Befund werden wir konfrontiert. Wir erkennen, wir haben eine Krankheit. Wir setzen uns mit dem Thema Krebs auseinander. Wir erkennen, gegen ihn sind wir relativ machtlos. Wir nehmen die Hilfe der Ärzte in Anspruch. Wir erkennen, dass wir alleine nicht viel ausrichten können. Wir befassen uns mit den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten. Wir erkennen, dass wir wenig darüber wissen. Wir akzeptieren die Therapie und übergeben uns in die Hände von Menschen, die uns bis dahin fremd gewesen sind. Mit all diesen Erkenntnissen ist es nicht leicht umzugehen. Zu der physischen Schwäche unseres Körpers kommt die psychische hinzu. Wir überlassen der Unwissenheit und der Angst die Macht über unsere Gedanken. Damit will ich nicht sagen, dass wir alles andere einfach vergessen sollen. Oder uns mit den gegebenen Empfindungen nicht auseinandersetzen dürfen. Mehr appelliere ich hier an das Erkennen der Teilerfolge die wir mit jeder Erkenntnis haben. Ungeachtet der Aussage eines Befundes macht er uns wissend. Wir wissen, wie bei meinem Vater, wir haben eine Krankheit. Wie alles andere auch auf dieser Welt hat sie einen Namen. Bei meinem Vater heißt die Krankheit Krebs. Nun wissen wir, mit wem wir es zu tun haben. Um uns diesem Thema gleichwertiger zu stellen, vertrauen wir uns Ärzten an. Warum auch nicht? Haben wir einen Schaden oder eine anstehende Reparatur am Haus, suchen wir den Rat bei einem Handwerker. Unser Wunsch etwas zu tun und das Wissen anderer Menschen vereinigen sich. Wir werden sicherer und stärker. Gemeinsam nehmen wir die anstehende Aufgabe in Angriff. Menschen, die sich bis dahin fremd waren, sind nun ein Team. Erst dann, wenn wir die Zufriedenheit, welche uns in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, erkennen, dann können wir das. Heißt es dann wirklich, der Unwissenheit und der Angst die Macht zu überlassen? Nein, ratsamer ist es, Vertrauen, Mut und Zuversicht walten zu lassen. Kein einfacher Akt, zweifelsohne. Doch damit kommt Licht ins Dunkle und lässt uns sehen.

»Ja, das sagte ich. Ich freue mich, dass du dies ebenso siehst. Lasse uns dies jetzt mal der Mutter mitteilen. Sie muss schon wissen, was du entschieden hast. Außerdem wollten wir nach deiner Entscheidung gleich wieder nach Deutschland fliegen.«

»Gebe mir noch ein bisschen Zeit. Die Wochen hier haben mir sehr viel gegeben. Mit meiner Entscheidung möchte ich mich jetzt noch etwas vertraut machen. Deiner Mutter werde ich es erst dann sagen, wenn ich einen festen Boden unter den Füssen habe. Ihr gegenüber möchte ich gefestigt auftreten. Wenn es dir nichts ausmacht, überlasse mir die Entscheidung, wann ich es ihr sage.«

»Kein Thema. Doch vergesse bitte nicht, sie hat ein Recht darauf deine Entscheidung zu wissen. Nehme dir die Zeit, die du brauchst. Darum sind wir doch hier. Gebe mir einfach Bescheid, wenn du zurück willst und ich organisiere alles Nötige. Ich freue mich für dich und denke, wir schaffen das.«

»Deine Zuversicht ist enorm. Woher hast du die nur?«

Noch am selben Abend sprach mein Vater mit meiner Mutter. Wie er es schon prophezeite, wollte sie sofort zurück nach Deutschland. Mein Vater bat sie um ein paar Tage mehr. Er erklärte ihr warum und wofür. Dies hatte sie dann eingesehen und verstanden. Sie einigten sich darauf eine weitere Woche in Florida zu bleiben.

Die letzte Woche gestaltete sich freier als die anderen zuvor. Es war förmlich zu spüren, dass mein Vater mit seiner Entscheidung vertrauter wurde. Meine Mutter knüpfte an das Vertrauen meines Vaters an. Beide waren zufrieden. Ein Teilerfolg war errungen. Der Tag der Abreise stand an. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Unser Flug ging über New York. Beim Einstieg in die Maschine tätigte mein Vater eine zukunftsweisende Aussage. Noch heute denke ich darüber nach, ob ihm damals schon bewusst war, dass sie genau so eintreten würde. Mit recht traurigen Worten sagte er, dass er noch nie in New York gewesen sei und diese Stadt wohl niemals mehr sehen wird.