Und ich gab ihm mein Versprechen

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Voller Optimismus betrat mein Vater das Krankenhaus. Wie hätte es auch anders sein können, Schwäche zeigte er nicht. Wer ihn gut kannte, wusste aber, dass er Angst hatte. Dritter Stock letztes Zimmer auf der linken Seite. Ein Zweibettzimmer, hell gestrichen, gelbe Vorgänge, eigenes Bad und Toilette, Telefon, Fernseher und Balkon, ein sehr angenehmer Raum. Mein Vater fühlte sich wohl. Für lange würde er sich ohnehin nicht einrichten müssen. Meine Mutter packte die Taschen aus. Mit Sorgfalt räumte sie seine Sachen in den Schrank. Dabei schüttelte sie mehrfach den Kopf und ließ ihrem Unmut über den wenigen Platz freien Lauf. Sie bemängelte die Temperatur des Zimmers, die große Glasfront zum Balkon, die beschränkte Möglichkeit sich im Bad zu bewegen und das grelle Licht im Zimmer. Sie war unzufrieden. Weder die nach ihrer Meinung zu kleinen Schränke noch einer der anderen Mängel trafen zu. Sie wollte meinen Vater einfach nicht dort lassen. Sie sah sich ihrer Fürsorge für ihn beraubt. Egal, was die nächsten Tage kommen wird, sie musste es ohne ihr Zutun geschehen lassen. Mehr noch, sie hatte Angst. Angst davor, ihren Ehemann zu bringen, ihn von fremden Menschen operieren zu lassen und dann einen anderen Mann zurück zu bekommen. Mit allem, was ihr zur Verfügung steht, hält sie fest, loslassen kann sie nicht. Hatte sie nicht schon zu viel von dem loslassen müssen, was ihre Geborgenheit in Liebe ausmacht? Seit sie denken kann, sehnte sie sich nach dieser Geborgenheit. Nach der Liebe, die ihr die Menschen einer Familie geben. Die ersten Jahre ihres Lebens prägten sie.

Ihre Mutter war eine sehr schöne junge Frau. Behütet durch ein strenges Elternhaus. Während eines Tanzabends lernte sie einen Mann kennen. Die Worte des Mannes und die empfundene Freiheit des Abends raubten ihr die Sinne. Ihr Herz stand in Flammen. Was geschehen musste, geschah. Heute sagen wir ein gelungener one night stand. Für die damalige Zeit unvorstellbar und gegen jegliche Sitte und Ordnung. Meine Großmutter trug sich neun Monate mit schwerem Herzen voller Scham. Von dem Mann hörte sie nichts mehr. Die Mutter meiner Großmutter empfand den Familiennamen ruiniert. Eine junge Frau, schwanger und ohne Mann. Das verfluchte Ergebnis der Begierde hat kein Recht zu leben. Um eine Abtreibung vorzunehmen, war die Schwangerschaft schon zu weit. Sie beschloss die Frucht der Schande sofort wegzugeben. Meine Mutter wurde geboren. Mit dem Namen Maria wurde dies in den öffentlichen Büchern registriert. Danach wurde sie sofort in ein Kloster gebracht. Nonnen sollten sich von da an um sie kümmern. Schon gleich bekam sie den Namen Gudula. Nach Ansicht der Nonnen durfte eine wie sie den Namen Maria nicht tragen. Ein trauriges Mädchen wuchs heran. In ihrem inneren Herzen sehnte sie sich nach einer Mutter und einem Vater. Nach einem warmen und herzlichen Leben in einer Familie. Sie verzehrte sich nach Geborgenheit in Liebe. Wusste sie aber doch, dass sie dies niemals haben wird. Das Leben im Kloster war hart und ohne jegliche Zuneigung. Für alles wurden die Mädchen bestraft. Mit Zucht und Ordnung, wie man das seinerzeit nannte, wurden sie immer daran erinnert, dass sie nicht gewollt waren. Man ließ sie mit dem Blut ihrer Seele dafür bezahlen, was ihre Mütter getan hatten. Viele Jahre wurde meine Mutter fremden Menschen vorgeführt und präsentiert. Keiner dieser entschied sich für sie. Für sie gab es auf der ganzen Welt niemanden, der sie liebt. Als sie acht Jahre war, kam sie zu Pflegeeltern. Wohlgemerkt Pflegeeltern, eine Adoption war ausgeschlossen. Wie man meiner Mutter viele Jahre später einmal sagte, wollte man damit ausschließen, dass sie einen Platz in der Erbfolge findet. Immerhin war sie nicht das eigene Fleisch und Blut. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr lebte sie bei ihren Pflegeeltern. Auf ein Leben voller Zwang zum christlichen Glauben schaute sie zurück. Jeder Tag war durch das Wort Gottes bestimmt. Nicht einer verging ohne Gebete und Messen. War sie nicht eine, von der man verlangte, dass sie um Vergebung zu bitten hat. Um Vergebung dafür, welchen Ursprung sie hat. Ob Gott ihr vergeben hat, ist bis heute ungeklärt. Ebenso ist ungeklärt, ob Gott die unter Zwang geforderte Demut gewollt hat. Als Handwerker hatte mein Vater einen Auftrag in der Nachbarschaft der Pflegeeltern angenommen. Meine Mutter lernte meinen Vater kennen. Das Dorf sprach über diese Unsitte. Nicht, dass mein Vater als Mann das Thema war. Viel mehr war man darüber aufgebracht, dass er eine andere, falsche Konfession hat. Mein Vater gehörte dem evangelischen Glauben an. Unvorstellbar für die Gemeinde. Die Pflegemutter meiner Mutter sah keinen anderen Ausweg als die Beichte und die damit verbundene Bitte um Vergebung vor dem Herrn. Was anderes als dem nachzugeben, hätte meine Mutter tun sollen? Meine Mutter vollzog die Beichte ohne meinen Vater zu erwähnen. Am Ende der Beichte sprach der Pfarrer meine Mutter direkt auf ihre Sünde an. Hier war wohl der richtige Moment gekommen. Meine Mutter teilte dem Pfarrer mit, dass ihn dies in keinster Weise zu interessieren hätte und sie nicht im Geringsten daran denken würde für die Liebe zu diesem Mann um Vergebung zu bitten. Sie verzichtete auf den Segen, stand auf und verließ die Kirche. Nicht nur das, noch am selben Tag verließ sie das Dorf, in welchem sie die letzten dreizehn Jahre lebte. Sie ging als die, als die sie auch gekommen war. Sie ging als Fremde.

»Mutter, nun mache mal langsam. Du musst den Vater nicht weggeben. Er wird an der Prostata operiert. Diese Operation kann nicht zu Hause vorgenommen werden.«

»Ach, es ist doch wahr. Wer soll sich denn hier um ihn kümmern?«

Ihre Worte waren voller Resignation.

»Schaue mal, wir sind in einem Krankenhaus. Hier wird sich um die Patienten gekümmert. Wer sonst, als die Menschen hier kann das besser. Sei mal ein bisschen zuversichtlicher, sonst hat der Vater auch keine Lust mehr und wir müssen ihn gleich wieder mitnehmen.«

»Das wäre mir am liebsten. Ich habe ein schlechtes Gefühl.«

»Jetzt ist aber mal Schluss. Die Operation steht an. Sie wird vorgenommen. Spätestens morgen Abend wirst du dies ebenso sehen.«

Mit dem Versprechen an meinen Vater, ihn gleich anzurufen, verabschiedete sich meine Mutter von ihm. Tränen standen in ihren Augen. Dies war einer dieser besonderen Momente. Meine Eltern überschütteten sich nie mit übertriebenen Liebesbekundungen. Für beide stand fest, dass dem nicht sein muss, wenn man sich der Liebe für den anderen und des anderen sicher sein kann. An dieser Sicherheit gab es bei meinen Eltern nie einen Moment des Zweifels. Eigentlich ein schönes Paar. Meine Mutter suchte nach einem Mann wie ihm. Mein Vater war glücklich eine Frau wie sie gefunden zu haben. Sie ergänzten sich in sehr vielen Dingen. Jeder akzeptierte den anderen wie er ist. Gegenseitig überließen sie sich die jeweilige Aufgabe. Grundsätzliches entschieden sie gemeinsam. Wenn auch einer der beiden dem anderen den Weg dazu manches Mal ebnete. Nicht immer waren sie in allen Dingen einer Meinung. Fanden aber im Ergebnis immer eine gemeinsame Basis.

Ich stand neben ihnen und lächelte. Einen leicht gereizten Blick erntete ich dafür von meiner Mutter. Als sie mich anschaute, blinzelte mein Vater mir zu, machte einen Schmollmund und schüttelte leicht den Kopf. Seine ganz eigene Art zu sagen, »Lass’ sie mal, das wird schon wieder«. Ich lachte, mein Vater lachte, meine Mutter ebenso. Wir gingen.

Die Operation verlief sehr gut. Meine Mutter und ich erkundigten uns beim diensthabenden Arzt. Genau so, wie es Professor D. befunden hatte, musste die Prostata meines Vaters geschält werden. Er erklärte uns in verständlichen Worten, was alles gemacht wurde und was für die nächsten Tage ansteht. Wir verspürten eine Zufriedenheit. Professor D. war an den nächsten zwei Tagen nicht zu erreichen. Er war zu einer Tagung gefahren. Sobald er zurück sein wird, würde er sich mit uns in Verbindung setzen. Diese Aussage verwunderte uns nicht. Nach dem Gespräch gingen wir zu meinem Vater. Er lag in seinem Bett. Seine Augen waren geschlossen. Eine Doppelkanüle war an seiner linken Hand angebracht. Eine weitere Einzelkanüle an seiner rechten. An der Seite seines Bettes hing ein Urinbeutel. Durch einen Katheter floss ein Gemisch aus Urin und Blut hinein. Nicht ungewöhnlich nach einer solchen Operation. Mein Vater vernahm uns. Er öffnete die Augen und blinzelte uns zu. Er versuchte sich ein bisschen aufzurichten. Meine Mutter half ihm. Mit seinen eigenen Worten sagte er uns, dass alles gut gelaufen sei und er jetzt nur noch ein paar Tage bleiben muss. Sobald der Katheter entfernt werden kann, würde er das Krankenhaus verlassen. Zuversicht und Freude waren bei ihm zu erkennen. Meine Mutter war erleichtert. Die nächsten zwei Tage verliefen bestens. Mein Vater erholte sich gut. Die am ersten Tag notwendigen Schläuche waren entfernt worden. Mein Vater fasste sogar den Mut aufzustehen und mit seinem Urinbeutel auf den Gang zu gehen. War es für ihn am ersten Tag noch ein Ding der Unmöglichkeit dies zu tun. Allerdings registrierte er schnell, dass nahezu alle anderen Patienten dieser Station ebenso mit einem Urinbeutel ausgestattet waren. Meine Mutter hatte Torte mitgebracht. Als mein Vater diese sah, verschwand alles um ihn herum. Weder der Urinbeutel, noch die Operation oder das Krankenhaus selbst konnten seine Stimmung jetzt trüben. Ein Stück Buttercremetorte war angesagt. Dazu eine Tasse Kaffee. Was kann es besseres geben.

Am nächsten Tag bekam meine Mutter einen Anruf von Professor D. Er bat uns, meine Mutter und mich, zu einem Gespräch in seine Praxis. Noch am selben Tag sollte das Gespräch stattfinden. Meine Mutter rief mich an.

»Professor D. hat mich angerufen. Er möchte sich mit mir und dir unterhalten. Heute Nachmittag sollen wir zu ihm kommen. Ich bin fix und fertig. Was will er von uns? Garantiert ist etwas Schlimmes passiert.«

 

»Moment mal. Das weißt du doch gar nicht. Was hat der Professor dir denn gesagt? Ist ein Problem während der Operation aufgetreten? Ist jetzt in der Nachbehandlung etwas eingetreten, was nicht vorhersehbar war? Überlege mal, was genau hat er dir gesagt?«

»Er rief an. Er sagte, dass die Operation gut verlaufen war. Jetzt würde er sich gerne mit uns darüber unterhalten.«

»Also, wie kommst du dann gleich auf das Schlimmste? Nach der Operation war er ein paar Tage auf einem Meeting. Zeit mit uns zu sprechen gab es noch nicht. Vielleicht ist das ganz normal. Wann sollen wir denn bei ihm sein?«

Ich wusste nicht genau, ob ich meine Mutter mit meinen Worten erreichen konnte. Viel mehr verspürte ich eine Ungewissheit in mir. Hatte sie mich mit ihren Worten der Angst mehr erreicht als ich sie mit meinen? Um was würde es in dem Gespräch mit Professor D. gehen? War es der normale Prozess nach einer OP? Wie sollte ich mich darauf vorbereiten? Die Ungewissheit ließ mich nicht mehr los. Ich holte meine Mutter pünktlich ab. Sie war aufgeregt und hätte am liebsten laut geweint. Ich wiederholte meine Worte aus unserem Telefongespräch. Andere wären mir auch nicht eingefallen. Wir betraten die Praxis, meldeten uns am Empfang und warteten bis uns der Professor abholte. Er begrüßte uns freundlich und bat uns ihm zu folgen. Voller Erwartung taten wir das. In seinem Zimmer nahmen wir Platz. Er schloss die Tür und setzte ich zu uns.

»Schön, dass unser Termin so kurzfristig möglich war. Möchten Sie etwas trinken?«

Meine Mutter und ich verneinten. Die Augen meiner Mutter klebten an ihm, folgten jeder Bewegung. Ungeduld zeichnete ihr Gesicht.

»Bitte sagen Sie uns, was los ist. Welches Problem ist aufgetreten?«

Ihre Aufregung war bei diesen Worten zu spüren.

»Wie ich Ihnen schon sagte, verlief die Operation bestens. Die Prostata Ihres Mannes war sehr verengt. Grosse Ablagerungen hatten sich gebildet. Wir mussten ein bisschen mehr abschälen als zuvor befunden. Durch die Prostata verläuft die Harnröhre. In diesem Teil der Harnröhre haben wir einen Knoten festgestellt. Nach den Untersuchungen ergab sich für uns ein abgeschlossenes Karzinom. Die Besonderheit daran ist, es ist sehr aggressiv, schnellwuchernd und bösartig.«

Karzinom und bösartig. Das waren die Worte, welche weder meine Mutter noch ich hören wollten. Mit allem hätten wir gerechnet, damit nicht. Keine, auch noch so kleine Schwingung in unseren Gedanken, wäre in diese Richtung gegangen. Mein Vater hat Krebs. Dieses Wort raste durch meinen Kopf. Und manifestierte sich irrsinnig tief in meinem Inneren. Meine Mutter saß neben mir mit einem Blick voller »Das kann nicht sein« schaute sie Professor D. an. Sie schüttelte ihren Kopf als wollte sie die Worte noch einmal sortieren, die eben zu ihr kamen.

»Sie müssen sich irren. Mein Mann ist wegen seiner Prostata hier und operiert worden.«

Tränen stiegen in ihre Augen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte in Fassungslosigkeit. Ihr Blick war voller Hoffnung mit dem Schatten der Hilflosigkeit. Beide schauten wir zu Professor D.

»Nein, es tut mir leid. Ihr Mann hat Krebs. Diese Art des Krebses ist relativ unbekannt. Über wenig Kenntnis verfügt die Medizin darin. Wie gesagt, es handelt sich um eine sehr aggressive, schnellwuchernde und bösartige Art. Es tut mir leid, Ihr Mann hat Krebs.«

Meine Mutter konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie ließ ihrer Betroffenheit freien Lauf. So, wie in diesem Moment habe ich sie bis zu diesem Tag lediglich nur einmal erlebt. Aufgelöst in Tränen der Bestürzung und Verzweiflung saß sie da. Dies war vor knapp 20 Jahren. Damals kamen meine Eltern nachts aus dem Krankenhaus zurück und kämpften mit dem, was ihnen der Arzt nur kurz zuvor mitgeteilt hatte. Mein Bruder war in dieser Nacht verstorben. Sah sie sich nun wieder konfrontiert mit dem Verlust eines Menschen? Überging sie das, was uns Professor D. eben sagte und sah sie schon in diesem Moment die Letztendlichkeit dieser Krankheit? Ihre Augen fokussierten mich. Die Tränen liefen auf Ihren Wangen herunter.

»Warum muss das sein? Dein Vater ist ein so liebevoller Mensch. Er hat noch nie etwas Böses getan. Alle kommen so gut mit ihm aus. Wieso muss er das haben?«

»Mutter, darum geht es nicht. Was du als »das« bezeichnest, heißt Krebs. Es ist eine Krankheit. Mein Vater, Dein Mann hat Krebs. Jetzt müssen wir sehen, was wir tun können. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird dir keiner beantworten. Bei einer Krankheit sollte diese Frage sowieso nicht gestellt werden«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Verzweiflung schwächte sie.

»Dein Vater, mein Ehemann wird sterben. Muss ich denn schon wieder einen Menschen verlieren? Womit habe ich das verdient?«

»Du denkst bereits jetzt über seinen Tod nach. Jetzt schon betreibst du Trauerarbeit. Du, wir haben noch nichts verloren. Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Du hast das Recht zu weinen. Du sollst weinen, das ist gut. Trauern brauchst du noch nicht. Erst müssen wir sehen, was wir tun können. Wenn es irgendwann soweit ist, dass der Vater sterben wird, dann kannst du trauern. Nicht nur du, alle werden wir dann trauern. Doch jetzt ist effektiv nicht die richtige Zeit.«

Professor D. schaute mich voller Bewunderung an. Was genau hatte ich gesagt, was ihn dies tun ließ? Hatte ich etwas Falsches aufgenommen oder wiedergegeben? War es mir nicht selbst zum weinen. Am liebsten hätte ich laut geschrieen? Meinen Tränen freien Lauf gelassen.

»Ihr Sohn hat Recht. Momentan überwältigt Sie das alles. Es ist nicht einfach einen Befund wie diesen zu bekommen. Sie müssen es annehmen. Nachdem wir das Karzinom gefunden haben, müssen wir überlegen, welche die richtige Behandlung ist. Die Art dieses Krebses ist recht selten. Viele medizinische Erkenntnisse darüber gibt es leider noch nicht. Was allerdings nicht heißt, dass wir gar nichts tun können. Mit Ihrem Mann habe ich bereits gesprochen. Ich denke, Sie sollten jetzt zu ihm gehen und wir sehen uns die nächsten Tage um alles weitere zu besprechen. Seinen Aufenthalt werde ich um zwei Tage verlängern. Diese Zeit benötigen wir, um noch eine weitere Untersuchung vorzunehmen.«

Meine Mutter schaute zu Boden. Sie schüttelte ihren Kopf. Diesen Gedanken wollte sie einfach wieder loswerden. Was ging in diesem Moment in ihr vor? Professor D. verabschiedete uns. Sein Blick war verständnisvoll und empfindend zugleich. Wir standen am Aufzug und warteten bis er kam. Noch nie war mir das Warten so lange vorgekommen wie in diesem Moment. Meine Mutter war absolut in sich gekehrt. Ich legte meinen Arm um sie.

»Was soll ich nur ohne deinen Vater machen? Wie soll das alles weitergehen?«

»Diese Gedanken brauchst du dir jetzt noch nicht machen. Wir müssen erst einmal sehen, was Professor D. an Behandlungsmethoden aufzeigen kann. Die Medizin ist heute schon recht weit auf dem Gebiet des Krebses. Ich gehe davon aus, dass er einen Weg, eine Behandlung finden wird. Mache dir jetzt nicht zu viele Gedanken.«

»Dieser Krebs ist selten, hat er gesagt. Was soll er da an Möglichkeiten finden?«

»Diese Form des Krebses ist selten, das ist richtig. Darüber hinaus aggressiv und schnellwachsend. Vom Grundsatz ist es aber Krebs. Das heißt, es kann keine Symptombehandlung geben. Es muss an der Basis etwas getan werden. Weder du noch ich verfügen über ein umfassendes Wissen in diesem Thema. Wir müssen uns auf das verlassen, was uns die Ärzte sagen. Wenn wir jetzt zum Vater kommen, schauen wir erst einmal, was er sagt, und wie er reagiert.«

»Was soll er denn sagen. Er ist ebenso geschockt wie wir auch.«

»Eben, damit hast du Recht. Auf was es jetzt ankommt, ist das Wir. Nicht nur ich, du, er oder sie. Das Wir ist die richtige Einstellung. Wir schaffen das. Habe ein bisschen Hoffnung.«

Meine Mutter schaute fragend zu mir.

»Wie soll die uns denn helfen? Bisher hat sie mir noch nie etwas gebracht. Hoffnung, mit so einem Mist kann ich nichts anfangen.«

Damit war unser Gespräch beendet. Wir kamen aus dem Aufzug. Der lange Gang der Station lag vor uns. Ich erkannte meinen Vater am Ende dessen, vor seiner Tür. Auch er sah uns. Mit schweren Schritten gingen wir aufeinander zu.

Ohne viele Worte sahen wir uns an. Mein Vater wirkte hilflos. Meine Mutter war gefasst. Einen ganzen Moment hielten wir inne. Keiner von uns hatte gewusst, was er sagen soll. Mein Vater eröffnete das Gespräch.

»Es wird schon wieder. Macht euch mal keine Gedanken.«

Meine Mutter brach in Tränen aus.

Die zwei nächsten Tage wurden verschiedene Gespräche mit Professor D. geführt. Er zeigte uns auf, welche Behandlungsalternativen gegeben sind. Die Informationen waren umfangreich. Die jeweiligen Für und Wider fanden ebenso ihren Platz darin wie die Darstellung des medizinischen Hintergrundes. Immer wieder stießen wir an die Grenzen unserer Auffassungsgabe. Doch wollten wir nie das Gefühl haben etwas nicht gesagt bekommen zu haben bzw. etwas an Wissen missen zu müssen. Wir hörten zu. Wir nahmen alles auf, was uns über die Krankheit erzählt wurde. Sie drang so plötzlich in unser Leben ein. Völlig unvorbereitet mussten wir uns mit ihr auseinander setzen. Gerne hätten wir darauf verzichtet. Doch was anderes als sie kennen lernen sollten wir tun? Je besser man sie kennt, umso besser sehen wir auch ihre Schwächen. Jede dieser wollten wir zu unserem Vorteil nutzen. Dieser Vorteil für meinen Vater und uns war nur temporär zu sehen. Darüber waren wir uns im Klaren. Auch heute noch sind wir dankbar dafür, dass mit uns in klaren Aussagen kommuniziert wurde. Diese Art des Krebses, wie sie sich bei meinem Vater darstellte, war nicht zu besiegen. Alles, was angewandt werden würde, konnte diesen Krebs und seine Auswirkungen nicht heilen. Bewusst dieser Tatsache war uns von Anfang an klar, dass wir Abschied nehmen müssen.

Zwei Tage später wurde mein Vater aus der Klinik entlassen. Diesem Tag fieberte er seit seiner Ankunft entgegen. Nun war er da. Geprägt durch die Geschehnisse der letzten Tage fiel ihm das Verlassen der Klinik nicht einfach. Ein Wandel in seiner Empfindung war eingetreten. Empfand er ein Krankenhaus doch immer als Gefängnis, wollte er diesem jetzt nicht den Rücken kehren. Was würde ihn außerhalb dieses Schutzes erwarten. Er erzählte mir aus seiner Kindheit.

Sobald die Aufklärungsflugzeuge am Himmel zu erkennen waren, mussten sie in den Keller. Einen Bunker gab es nicht in der Nähe seines Elternhauses. Bei einer Tante mussten sie Unterschlupf finden. Ihr Haus befand sich nur einige Meter über die Strasse. Jedes Mal, wenn er die Kellertreppen hinunter steigen musste, befiel ihn eine Beklemmung. Ihm wurde bewusst, dass er dort nun wieder viele Stunden verbringen musste. Abgeschlossen von der Außenwelt, seiner Welt, in der er lebte. Würde er danach noch in ihr leben können? Was würde in diesen Stunden alles geschehen? Werden sie den Bombenangriff überstehen? Konnten sich alle seiner Familie, Freunde, Klassenkameraden und Klassenkameradinnen oder die Nachbarn ebenfalls in Sicherheit bringen? Hatten alle genug Zeit dazu? Welche Veränderungen werden sich einstellen? Werden sie, wird er, damit leben können? Immer und immer wieder brannte diese Angst in seiner Seele. Sobald sie den Keller wieder verlassen konnten, wäre er gerne geblieben. Hatte er ihm doch in den letzten Stunden die Sicherheit gegeben, die ihm draußen fehlen würde. Was sollte ihn nun mit seinen dicken Wänden schützen? Die Kriegsjahre waren seine Kindheit. Jahre in denen ein Mensch lernt zu leben. Die ihn vorbereiten auf das, was seine Aufgabe ist. Unbeschwerte Jahre sollten diese sein. Seine Erinnerungen daran sind überschattet von der allgegenwärtigen Angst in dieser Zeit. Angst davor, ob es ein Morgen geben wird.

Zum ersten Mal erzählte mein Vater in so vielen Worten davon. Ich hörte aufmerksam zu. Was zog mich in den Bann? Zum ersten Mal spürte ich das Gefühl, welches in seinen Worten lag. Waren es also doch nicht nur die lustigen Geschichten, die zu Geburtstagsfeiern über diese Zeit berichteten. Waren diese Erlebnisse ganz tief in ihrer Art. Meine Anschauung dieser Zeit begann sich aufzuklaren. Der Schleier der personifizierten Tapferkeit löste sich auf. Die Hauptdarsteller der Erzählungen bekamen ein Gesicht. Sie wurden mit Empfindungen ausgestattet. Die Worte meines Vaters gaben jedem Einzelnen etwas Besonderes. Sie verliehen ihnen Leben. Ein Leben, um welches sie Angst hatten, es zu verlieren. Dafür lohnte sich die Tapferkeit der Menschen, der Alten, der Jungen und der Kinder.

Wollte mein Vater mir damit sagen, dass er Angst hat? Genau dies wollte er. Ganz in seinen eigenen Worten teilte er mir dieses mit. Und ich verstand ihn.

 

Wir verließen die Klinik. Mit Professor D. hatten wir uns vereinbart. Mein Vater wird ihm innerhalb der nächsten Tage seine Entscheidung über die aufgezeigten Behandlungen mitteilen. Genug Informationen über die jeweiligen Prozesse hatten wir.

Noch einmal möchte ich betonen, mit wie viel Ausdauer Professor D. meinen Vater, meine Mutter und mich in dieser Zeit begleitet hat. Immer und immer wieder stand er zur Verfügung, wenn neue Fragen auftauchten. In all den fachlichen und medizinischen Gesprächen stand er als ruhender Pol. Zu keiner Zeit hätte man je das Gefühl gehabt, sich in einem Patientenraster zu befinden. Natürlich erwartet man dies von einem behandelnden Arzt. Ganz besonders in Zeiten wie diesen. Doch sein Invest war einfach mehr. Es war Menschlichkeit.

Eben hatten wir das Stadtschild passiert. Noch wenige Minuten und wir waren wieder zu Hause. Mein Vater schaute aus dem Seitenfenster. Sein Blick suchte. Selbst wenn es nur wenige Tage waren, die man weg war, sucht man immer nach Veränderungen, die in dieser Zeit stattgefunden haben. Auf eine wortlose Frage, folgt eine wortlose Antwort.

Irgendwie wollte ich ihn erreichen.

»Und, hat sich nichts verändert. Alles noch so, wie du es verlassen hast. Es ist doch immer wieder schön, wenn man nach Hause kommt.«

»Ja, ich bin froh wieder hier zu sein. Getan hat sich nichts. Alles noch so, wie es war. Nein, nicht alles. Innerhalb weniger Tage hat sich mein Leben komplett verändert. Sehen kann man dies nicht. Zu spüren ist es umso mehr. Was soll ich nur machen? Wie werde ich mich entscheiden? Würde ich doch nur wissen, wie es richtig ist.«

Diese Fragen kamen mehr rhetorisch. Beantwortet wollten sie in diesem Moment nicht sein. Er blickte weiter aus dem Fenster. Meine Mutter schaute ohne jedes Wort zu ihm. Eine Stille trat ein. Keiner von uns hätte diese unterbrechen wollen.

Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab.

»So, da sind wir. Geht ihr schon einmal vor. Ich komme mit dem Gepäck nach.«

Kaum, dass mein Vater wieder zu Hause war, klingelte das Telefon. Wenn mein Vater eines nicht gerne machte, dann war es ans Telefon zu gehen. Warum auch immer, wenn es klingelte, rief er nach meiner Mutter. Zum einen, weil die Gespräche für sein Befinden immer für meine Mutter waren. Zum anderen wohl, weil er der Bellschen Erfindung nicht traute. Jahrelang konnte ich dies nicht nachvollziehen. Irgendwann war mein Spürsinn so geschärft, dass es mir auffiel, auch in anderen Familien ist dies so. Scheinbar eine väterliche Antihaltung zur Telekommunikation. Wie gesagt, kaum war er angekommen klingelte das Telefon. Schon der erste Anrufer wollte sich erkundigen, wie es ihm geht. Zwei Dinge trafen aufeinander. Zum einen das Telefonieren, zum anderen offen über die Geschehnisse der letzten Tage sprechen. Schon nach dem ersten Gespräch bat mein Vater meine Mutter die Gespräche entgegenzunehmen und ihn zu entschuldigen, er würde schlafen. Diese Haltung gegenüber seiner Krankheit war mir an meinem Vater bereits im Krankenhaus aufgefallen. Nur schwer kamen seine Besucher bei ihm auf das Thema Krebs. Er war zu einer Prostata-Operation im Krankenhaus und fertig. Viele Worte brauchte mein Vater ohnehin nicht über seine Krankheit. Für ihn war es mehr eine Ehrbekundung einen Menschen im Krankenhaus zu besuchen als eine Informationsveranstaltung. Langsam drängte sich mir allerdings der Verdacht auf, dass er beginnt vor der Krankheit zu fliehen. Stand für ihn fest, wenn ich mich damit nicht auseinandersetze, dann habe ich es auch nicht? Selbst in den Gesprächen mit Professor D. verhielt er sich introvertiert. Meist übergab er meiner Mutter und mir das Wort. Damit will ich nicht sagen, dass er sich der Krankheit gegenüber verschlossen hatte. Vielmehr wollte er sich nicht aktiv damit befassen. War dies seine Art sich mit etwas vertraut zu machen? Lag ihm die Rolle des reagierenden Menschen eher als die des agierenden?

Solange ich auch in meine Vergangenheit als Sohn meiner Eltern zurückschaue, ein anderes Bild gewinne ich nicht von meinem Vater. Zwar wusste er immer genau, was er will und welche Entscheidung zu treffen ist. Doch ließ er meine Mutter immer die Entscheidung treffen und die entsprechende Umsetzung vornehmen. Sein wichtigstes Empfinden dabei war seine Zufriedenheit. Hier lässt sich die Frage nicht umgehen, ob er ein egoistischer Mensch gewesen ist. Dies war er nicht. Nur seine eigenen Vorteile, hätte er nie in den absoluten Vordergrund geschoben. Der einfache Weg war für ihn der angenehmste. Vielen Dingen ging mein Vater ohne großen Aufwand aus dem Weg. Nicht nur das, er ging ihnen auch gerne aus dem Weg. Im Laufe der Jahre erkannte ich, dass mein Vater doch Entscheidungen trifft. Er entschied, nicht zu entscheiden. Bei meiner Mutter, also der Frau, mit der er sein Leben lebt, konnte er sich darauf verlassen, dass sie seine Belange in jeder Entscheidung berücksichtigt. Für mich ein Grundprinzip, welches Achtung verdient. Denn uns ist allen klar, wenn ich etwas abgebe, darf ich mich nicht darüber ärgern, dass ich es nicht mehr habe. Doch genau darin haben wir Menschen unser Problem. So lange wie möglich wollen wir nichts aus der Hand geben. So aktiv wie es nur irgend geht, wollen wir an allem teilhaben. Gehen wir nicht grundsätzlich davon aus, dass nur wir alleine alles richtig machen. Wir nur darin unsere Zufriedenheit finden. Etwas abzugeben um andere etwas zu Ende führen zu lassen, ist nicht so einfach für uns. Mein Vater gab ab und vertraute in das Ziel. Auch wenn er sich manches Mal mit dem Ergebnis arrangieren musste, wusste er doch, es war richtig entschieden. Eine doch beneidenswerte aber viel zu seltene Art, über die wir Menschen verfügen.

Abends saßen wir zusammen beim Abendessen.

»Hier schmeckt das Essen wenigstens. Im Krankenhaus hatte ich oft das Gefühl, immer das gleiche Essen zu bekommen. Nicht, dass es schlecht gewesen wäre. Es schmeckte nur immer alles gleich.«

»Kann ich mir gut vorstellen. Als ich deinen Speiseplan gesehen habe, konnte da auch nichts von schmecken.«

»Jetzt macht aber mal langsam. Keiner kocht so gut wie Mutter, das ist ja klar. Und keiner hat so sensible Geschmacksnerven wie der Vater.«, gab ich mit dementsprechend lustigen Unterton von mir.

Ich hoffte, dass dies die schwere Stimmung etwas auflockern kann, die seit Stunden herrschte. Seit wir an diesem Vormittag zurück waren, wurde das Thema »Wie geht es weiter?« nicht mehr in Angriff genommen. Unvorstellbar für mich, dass man sich so zurückziehen kann. Ich sollte wohl eines Besseren belehrt werden. Dinge treten in unser Leben. Sie wollen nicht nur registriert werden. Sie fordern nach Erledigung. Um dies zu können, muss man sich im Vorfeld mit ihnen auseinandersetzen. Nur so kann man einen Weg finden. Verschweigen ist immer eine sehr ungute Vorgehensweise und bringt einen keinen Schritt weiter.

»Vater, was hast du dir denn überlegt? Konntest du dich mit einer der vorgeschlagenen Behandlungen anfreunden? Anfreunden, ein blödes Wort, ich weiß. Du weißt aber, wie ich das meine. Natürlich sollst du Zeit haben, um zu entscheiden. Doch vergesse bitte nicht, damit anzufangen.«

»Jetzt lasse mich doch hier erst einmal wieder ankommen. Professor D. sagte doch, dass ich mir die Zeit nehmen soll, um zu überlegen. Wenn das die nächsten Tage so weitergehen wird wie heute, dann komme ich nie dazu mir Gedanken zu machen. Alle haben Tipps und Ratschläge. Jeder meint es nur gut mit dem was er sagt. Doch keiner von ihnen hat aktuell diese Krankheit.«