Der Sound Gottes

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Die Produktpalette ist prinzipiell unendlich groß, weil der endlich große Markt nach immer neuem Material verlangt. Die Bausteine in den Slots sind nicht nur im Prinzip austauschbar, sie wollen realiter ständig ausgetauscht werden, weil sich die Erde mal wieder ein Stück weitergedreht hat. Das Kennzeichen dieser Warenwelt der Gottesdienstbausteine ist ihre Janusköpfigkeit aus Neuigkeit und Individualität auf der einen Seite und durchkonfektionierter Produktförmigkeit auf der anderen. Das entspricht exakt der Janusköpfigkeit des Slots, wie ich sie theoretisch umrissen habe: einerseits ein fixes Set von Eigenschaften, andererseits mit immer neuem Content zu befüllen. Bausteine für den Gottesdienst, das sind leere Hülsen, die in Slots – also ebenfalls leere Hülsen – eingesetzt werden.

1.3 Aus dem Musikwörterbuch des Gutmenschen

Es könnte das Missverständnis entstehen, ich riefe zum Widerstand gegen die amtskirchliche Hoheit über die Kirchenmusik auf. Ein solcher Appell wäre billig, ja umsonst. Die souveränen Musiker haben sich nie wirklich um die Vorgaben der Amtskirche geschert. Sie haben einfach die Musik gemacht, zu der sie sich, bemerkt oder unbemerkt, von Gott hinführen ließen. Auch souveräne Hörer machen ihre religiöse Erfahrung bei welcher Musik auch immer, bestimmt nicht nur bei der kirchlich verordneten.

Die ermüdete, ausweglose Lage der Kirchenmusik krankt nicht an den Restriktionen der Amtskirche. Die Amtskirche hat den Markt der musikalischen Möglichkeiten längst freigegeben, die protestantische schon seit Luther, die katholische seit dem Zweiten Vatikanum. Nicht aus tieferer Einsicht, dass auch dort religiöse Erfahrung zu machen sei. Sondern in dem flachen Comment, dass es auf echte religiöse Erfahrung in der Musik gar nicht ankomme und es jedenfalls in dieser Hinsicht egal ist, welche Musik läuft. Ganz egal allerdings auch nicht, die Kirche hat noch Interessen und Existenzangst. Sie muss sich ihrer selbst und ihrer Relevanz vergewissern. Sie muss ihre Mitglieder bei der Stange halten und um neue werben. Dort ist das Gebiet für die Rettungseinsätze, in die sie die Kirchenmusik schickt. Dort irgendwo tief verschüttet liegt das Elend.

Die Lage der Kirchenmusik ist verkeilt in Widersprüchen. Irdisch, aber auch ein bisschen himmlisch; ganz bei mir, aber auch ein bisschen beim Anderen; heilig, aber auch ein bisschen profan; erlöst, aber nicht so richtig. Ihre Lage ist eine unmögliche. Die Pathogenese ist vorgezeichnet. Vielleicht macht uns das nachsichtiger damit, dass sie nicht aus dem Ohrensessel kommt.

Wir haben jedenfalls ein gewisses Verständnis für den Musikwortschatz, den sich der gute Christenmensch in seiner misslichen Lage zurechtlegt. Die Einträge darin sind teils alt und greifen zurück auf das, was in den Apostelbriefen zur Musik gesagt wird. In der Masse und in dem auf den religiösen Bildungsmarkt zielenden Zuschnitt aber ist sie eine Erscheinung der letzten zwanzig, dreißig Jahre.

Die guten Wörter der Kirchenmusik sind erst denkbar, sagbar und praktizierbar im Bausteinprinzip. Das Bausteinprinzip bricht die unmögliche Lage der Kirchenmusik herunter auf kleinteilige Arbeitsaufträge, im Kirchensprech: Dienste. Auf Dienst am Anderen, Dienst an der Familie, an der Umwelt, am Frieden, am Ich, an der Psyche, am Körper, an Gott und so weiter. Mit einem Mal wird die Kirchenmusik wieder konkret. In der Verzahnung mit den anderen gottesdienstlichen Aktivitäten übernimmt sie Dienste aus der To-do-Liste. Sie kann plötzlich wieder genau sagen, was sie selber ist und was zu tun ist. Die Müdigkeit ist für den Moment verflogen.

Das Ungeheure der Begegnung des Menschen mit Gott im Klang passt in den Workshop eines kirchlichen Bildungszentrums. Diese erstaunliche Erkenntnis machen wir, wenn wir das Riesenhafte der h-Moll-Messen, Messiasse und Regerfugen in ästhetische und ethische Dienste portionieren. Wir werden dann gute Christenmenschen, mit Arbeit und Dienst beladene zwar, aber das sind eben die zwei Seiten der Medaille. Und es ergeben sich wie von selbst die Formeln des Denk- und Sagbaren der Kirchenmusik.

Stellen wir uns einen solchen Workshop vor. Dort begegnen uns die Einträge im Musikwörterbuch des evangelischen Gutmenschen. Ich habe die kirchenmusikalischen „items“ vorsortiert und die bunten Karteikarten aus dem Consultingkoffer schon mal vorbeschriftet.2 Auf den roten Karteikarten notieren wir die Bausteine zum Thema „Von Gott zum Ich“, auf den blauen „Vom Ich zum Du“, auf den grauen „Kirchenmusik als Transportmittel“, auf den gelben „Kirchenmusik als Therapie“ und auf den grünen „Kirchenmusik als Fördermaßnahme“.

Die roten Karten

– Musik als gute „Gabe Gottes“, so schon Martin Luther frei nach Jakobus 1,17, ein Vers, den man auch als Liedstrophe und Tischgebet kennt. Die Musik reiht sich damit ein in andere Gottesgaben wie dem Apfel aus dem Garten Eden, dem Feuer oder dem Sex. Man kann sie zum Guten und zum Schlechten gebrauchen. Daher immer den Jakobusvers mitbedenken, dann werden sie Heil und Segen stiften.

– Musik als Talent. Gute Gaben sollen, siehe Matthäus 25,14ff. und Lukas 19,12ff., aber bitte auch genutzt werden und nicht aus lauter Angst brach liegen bleiben.

– „Überall drücken sich in Musik tiefste Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste aus.“ Dieser Gedanke hat seinen rechten Platz auf den roten Karten, auch wenn das nicht gleich in die Augen springt. Die tiefen Sehnsüchte weisen aus, dass der Mensch unbedingt auf Gott bezogen ist (Schleiermacher). Andererseits ist der Mensch radikal von Gott getrennt (Karl Barth). Ein echtes Dilemma, mit dem die dicksten Theologenbücher in Verlegenheit zu bringen sind. Aber Gott sei Dank hat der Herr ein Schlupfloch gelassen. Die Musik. Und zwar „überall“.

– „Die evangelischen Kirchen in Deutschland sind musikalisch reiche Kirchen.“ Reichtum, ein rundum sorgenfreies Thema. Bevor wir uns auf ihm ausruhen dürfen, müssen wir noch ein paar Fragen stellen. Was zum Beispiel ist mit den Präludien und Fugen im XXL-Format, die uns der Heilige Sebastian geschenkt hat? Die seinerzeitige Thomaskirchenleitung wollte sie gar nicht in der Kirche haben. Manche Stücke sind einfach zu reich für die Kirche. Was ist mit dem Orgelschatz, wie ein gewisser Carl August Kern im 19. Jahrhundert gleich sechs Bände mit anspruchslosesten Orgelstückchen nannte? Das ist der Reichtum einer dicken Sammelbüchse mit Kleingeld, die am weitesten verbreitete Vermögensstruktur der Kirchenmusik. Woher stammen so wertstabile Assets wie Schütz, Bach, Händel und Mendelssohn? Schütz hat die italienische Oper beerbt, Bach und Händel schreiben von sich selber ab, der schmächtige Mendelssohn steht auf den Schultern des Riesen Mozart. Woher die Sakropopsternchen ihren Pop haben, fragen wir lieber nicht so genau nach. Wenn man unter Reichtum auch die Dividende aus lukrativen Beteiligungen gelten lässt, dann ist die evangelische Kirchenmusik ein Big Player am Markt.

– Der „reiche Schatz der Kirchenlieder“: Mit dieser Floskel landet man besonders viele Treffer im evangelischen Schrifttum. Dürfen wir es wagen zu fragen, wie es um den Wohlstand derer steht, die den Schatz erarbeitet haben? Die vielen Kirchenlieddichter sind nun wirklich anständig entlohnt worden: als Pfarrer (Paul Gerhardt), Gymnasiallehrer (Nikolaus Herman), Theologieprofessor (Dietrich Bonhoeffer). Da kann man nicht meckern. Von Geburt reiche Frauen wie Henriette Catharina von Gersdorff stellten ihr Dichtertalent, das sie nicht vergruben, der Kirche kostenlos zur Verfügung. Achtsam sein sollten wir freilich für die Lage derer, die den musikalischen Teil der Kirchenlieder beisteuerten. Also die Musik im engeren und eigentlichen Sinn. Da sieht es prekär aus: Hilfslehrer (Friedrich Silcher), Hauslehrer (Georg Neumark), lausig besoldete Kapellmeister (Johann Balthasar König, Adam Krieger, Johann Hermann Schein), freischaffende Chorleiter und Lektoren (Paul Ernst Ruppel). Wohl den Pfarrern, die im auskömmlichen Theologenstand komponierten (Kurt Rommel, Samuel Rothenberg, Otto Riethmüller, Dieter Trautwein).

Die blauen Karten

Auf der blauen Überschriftenkarte steht „Vom Ich zum Du“. Wenn Ihnen das zu gestelzt vorkommt, schreiben Sie „Gemeinsam singen“.

– Das g-Wort fällt in jedem Gottesdienst, meistens auch beim Singen. Die Gemeinsamkeit ist dem Singen vorgeordnet. Aber nicht nur dem Singen, es gibt „auch gemeinsame passive Praktiken wie das Hören, das Hier-Sitzen und das Schweigen“.

– Zugleich ist das Gemeinsame dem Singen nachgeordnet. Kirchenmusik „schult eine elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit, die immer auch Hör- und Ausdrucksfähigkeit füreinander ist“. Dass beim Singen das herauskommt, was wir einen Spiegelstrich weiter oben in das Singen hineingesteckt haben, sollte nicht weiter beunruhigen. Es ist oft so in der Theologie, dass man mit viel Hallo und Halleluja die Ostereier findet, die man vorher selber versteckt hat.

– Beim Thema Corona empfehle ich vorerst abzuwiegeln. Es bringt nichts, jetzt schon das Pest-oder-Cholera-Dilemma zu thematisieren, in dem die Kirche steckt, entweder mit dem Gemeinschaftsmantra aufzuhören oder Corona zum Teufelswerk zu erklären.

Die grauen Karten

– Wieder macht Luther den Aufschlag: Kirchenmusik ist eine „Lehrmeisterin“. Weniger altmodisch gesagt, sie „nimmt einen Bildungsauftrag wahr“. Man internalisiert alles sofort und ohne Zeigefinger. „Musik beeinflusst unser Fühlen und Denken, sie kann Worte und Ideen weitertragen.“ Sieht man die Sache so, dann kommt es freilich darauf an, welche Worte man der Musik auf die Pritsche packt. Daher sollte man die Kirchenmusik nie nur den Musikern überlassen. Denen ist das nämlich herzlich egal.

 

– Kirchenmusik „kann auch zum äußeren Frieden beitragen.“ Dieser Klassiker aller musikalischen Sonntagsreden darf in der Kirche nicht fehlen. Aber das ist freilich mit Arbeit verbunden. „Die kirchenmusikalischen Arbeitsformen beteiligen sich vielfältig an dieser friedensstiftenden Kulturarbeit.“ Auch der Krieg allerdings ist ein beliebter Reiter der Musik. Sogar einer, der weniger Arbeit macht.

– „Musik ist nicht selbst göttlich, sie dient Gott – und sie dient darin zugleich den Menschen.“ Das „zugleich“ ist ein astreines Theologenwort. Aber bevor uns die dicken Bücher wieder in den Sinn kommen und Schläfrigkeit uns übermannt, wollen wir den Gedanken heute nicht weiter vertiefen.

– „Musik in der Kirche ist eine Form des Gottesdienstes.“ Bevor daraus jemand freche Schlüsse zieht, sei hinterhergesagt, dass „aller Einsatz von Musik daran gemessen werden muss, ob er wirklich dem Gottesdienst dient oder andere Ziele verfolgt.“ Unlogisch? Egal, wir sitzen doch im Stuhlkreis und nicht im Oberseminar Analytische Ontologie.

Die gelben Karten

– Beginnen Sie ganz niederschwellig: „Das Singen der Lieder hat eine sinnlich belebende Wirkung.“ Saul und David, Sie kennen die Geschichte. Das Thema ist perfekt geeignet, die Verspanntheit der Kirchenmusik zwischen Gott, Mensch, Himmel und Hölle herunterzubrechen auf Workshopformat.

– Die folgenden Wirkungen der Musik bedürfen gegebenenfalls der fachmedizinischen Begleitung: „Musik kann trösten, aus Verbitterung und Trauer herausreißen und zum Leben umstimmen. Sie kann […] Traumzeiten stimulieren, Verkrampfungen und Ich-Fixierungen lösen und Beziehungen stiften.“ Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Und beachten Sie, dass eventuell Gebühren der Partnervermittlungsagentur anfallen.

Die grünen Karten

– Kirchenmusik „schult eine elementare Hör- und Ausdrucksfähigkeit“. Dass sich bei den Begriffen Schulen und Fördern die Propheten des Alten Testaments und gottbegnadete Musiker wie Mozart im Grab herumdrehen, können wir jetzt gelassen kontern: Wir haben das Heft des Handelns wieder in der Hand. Wir tun was, anstatt ehrfurchtsvoll und folgenlos vor den Heroen zu erstarren.

– „Musik fördert Klugheit, soziale Kompetenz, Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit.“ Kürzer und kirchlicher: „Lieder fördern Geist und Seele.“ Wer jetzt rückfragt, was Klugheit, Sozialkompetenz und Kreativität nochmal genau mit dem Christentum zu tun haben, dem antworten Sie: Selbstverständlich sind diese Skills auch im normalen Leben von Vorteil. Es geht um Dienst. Es geht darum, sie in den Dienst Gottes und des Gottesdiensts zu stellen. Und dazu dient am Ende auch die Musik. Musik wäre hier also ein Gottesdienst-Dienst-Dienst.

– Musik für den Weltfrieden, zu hoch gegriffen? Dann brechen wir es halt herunter. Das ist doch der Sinn der bunten Kärtchen. „Musik als ein in vielfacher Hinsicht ganzheitliches Tun kann auch zum äußeren Frieden beitragen. Das geschieht vorrangig indirekt, indem Musikerziehung solche Persönlichkeitsmerkmale fördert und ausbildet, die als Grundkompetenzen friedvollen Verhaltens gelten können: die Fähigkeit, einander zuzuhören, sich in andere einzufühlen (Empathie), überhaupt Gefühle zeigen und ausdrücken zu können, dabei auch die Verschiedenheit der Menschen und der Begabungen auszuhalten und sich in gemeinsame Projekte einzuordnen.“

1.4 Der Wort-Wahn-Witz der Kirchenmusik

Wittenberg im Jahr 1533. Ein junger Musiker namens Nicolaus Listenius, um 1500 in Hamburg geboren, bringt im Verlag Georg Rhau ein schmales Büchlein mit dem Titel Rudimenta musicae heraus, auf Deutsch: Elemente der Musik. Es ist ein Musiklehrbuch für die Oberstufe im Gymnasium. Listenius hat 1531 die Artistenfakultät der Universität Wittenberg mit dem Magister abgeschlossen. Dort studiert man nicht bei irgendwem, man studiert bei Professor Melanchthon. Doktor Martin Luther hat seinen Lebensmittelpunkt in Wittenberg und geht an der Artistenfakultät ein und aus. Melanchthon geht bei Familie Luther ein und aus. Und Rhau ist nicht irgendeine Druckerei, sie ist der Herzmuskel der Reformation. Gewichtige Texte wie die Augsburger Konfession oder Luthers Großer Katechismus pumpt sie in großer Auflage durch die deutschen Lande. Auch das Büchlein des Listenius geht gleichsam viral. Es erlebt über 50 Auflagen und wird zum Standardlehrbuch im gymnasialen Musikunterricht. Unzählige protestantische Kantoren bis in die Bachzeit lernen in ihrer Schulzeit selber daraus und bringen ihren Schülern Musik aus „dem Listenius“ bei.

In der Einleitung schreibt er einige unscheinbare Sätze, nichtsahnend, dass sie epochal werden würden. Wenn der „Practicus“, der ausübende Musiker, seine Arbeit beendet habe, bleibe kein Werk übrig. Die Musik hat sich in Schall und Rauch aufgelöst. Der „Poeticus“ aber, der Komponist, hinterlasse nach getaner Arbeit ein Opus. Ein „opus perfectum et absolutum“, wie es in späteren Auflagen heißt, was die Deutungen ins Kraut schießen ließ, welche Unsterblichkeit Listenius da den Werkchen des deutschen Dorfkantors wohl attestieren wollte. Es meint schlicht ein Stück Musik, das festgehalten wird durch Aufschreiben, Vervielfältigen und Wiederaufführen. Die evangelischen Kirchenmusiker, die in den folgenden Jahrzehnten diese Sätze lesen, lassen sich das nicht zweimal sagen: Sie hinterlassen Werke, und zwar zu Hunderten und Tausenden.

Content produzieren ist das Berufsethos des evangelischen Kantors. Philipp Dulichius, um einen dieser Kantoren herauszupicken, publiziert kurz nach 1600 in Stettin nicht 5 oder 10, sondern gleich 100 Motetten. Weitere rund 100 Stücke hinterlässt er in kleineren Tranchen. Das liegt noch deutlich unter dem Output des deutschen Durchschnittskantors. Samuel Scheidt, Kantor in Halle an der Saale, veröffentlicht in den 1630er-Jahren 40 + 50 + 50 + 40 =180 Geistliche Konzerte. Andreas Hammerschmidt, Kantor in Zittau, lässt in den 1650er-Jahren 30 + 29 Musikalische Gespräche über die Evangelia drucken. Es reicht nicht, dass der Pfarrer im Gottesdienst über die Evangelien spricht, die Musik muss es auch noch tun. Wolfgang Carl Briegel lässt für Gottesdienste in Darmstadt die Musik 69 Mal neben der Predigt sprechen: 20 + 22 + 27 Evangelische Gespräche zwischen 1660 und 1680. Anfang des 18. Jahrhunderts dann werden solche Zahlen erreicht: Johann Sebastian Bach, Kantor in Leipzig: 300 Kantaten. Gottfried Heinrich Stölzel, Kantor in Gotha: 600 Kantaten. Georg Philipp Telemann, Kantor in Hamburg und deutschlandweiter Tausendsassa: 1750 Kantaten. Johann Philipp Krieger, Kantor in Weißenfels: 2000 Kantaten.

Aus dem Werkschwall quillt ein wahrer Wortschwall. Den schlichten Psalmvers „Gott, eile zu mir, denn du bist mir Helfer und Erretter, verzeuch [d.h. zögere] nicht“ (Psalm 70,6) vervielfacht Heinrich Schütz in einem seiner Kleinen Geistlichen Konzerte. Gott muss 4-mal eilen, 3-mal ist er der Helfer und Erretter, 6-mal wird „mein Gott“ gerufen und 3-mal soll er bitte nicht zögern. Die Worte werden im Musikkopierer so oft kopiert, bis der ganze Kirchenraum mit akustischen Exemplaren vollgestopft ist. Dann endlich kann man nicht mehr anders, als es zu glauben. Selbst leere Worte wie das Wort „leer“ lässt Schütz in einer Symphonia sacra über den Magnifikatvers Lukas 1,53 3-mal direkt hintereinander singen. Auch der Reichste in der Kirche weiß dann, dass er nichts weiß und nichts hat. Die Volksmenge muss in Bachs Johannespassion 104-mal „kreuzige ihn“ brüllen, bevor Pilatus Jesus endlich kreuzigen lässt.

Den stärksten Schwall an Wörtern bei den Evangelischen – die Katholiken sind im Gottesdienst maulfauler, außerhalb möglicherweise nicht – schüttet Hugo Distler aus. Seine Motette Singet dem Herrn ein neues Lied nach Psalm 98, komponiert in den 1930er-Jahren, ist das geschwätzigste Stück der evangelischen Kirchenmusikgeschichte. Ein Sonntag Kantate, der mit dieser Motette begonnen wird, hätte die Bezeichnung Sonntag Loquimini verdient: Plappert! Das Wort „singet“ aus V. 1 wird 53-mal skandiert, „dem Herrn“ 46-mal, „ein neues Lied“ 8-mal, „denn er tut Wunder“ 9-mal. „Er siegt“ 41-mal, „mit seiner Rechten“ siegt er 17-mal, „mit seinem heiligen Arm“ nur einmal. „Jauchzen“ in V. 4 tut die Welt 2-mal, aber 26-mal wird seriell skandiert, dass es „alle“ Welt ist. Zum „singt, rühmet und lobet“, wie es in V. 4 weiter heißt, wird dutzendfach aufgefordert. Am weitaus meisten zum Singen, exakt so oft, wie die Plebs Pilatus das Kreuzigen befahl, 104-mal. Wie oft die Trompeten und der Psalter erklangen (V. 6), habe ich nicht gezählt, aber es wird ein Riesenorchester zusammenkommen. Wenn es stimmt, wie Augustin sagte, dass doppelt betet, wer singt, der hat beim Singen von Distlers Motette 314-mal gebetet. Das ist praktizierter Dadaismus. Zum Vergleich: Ein Rosenkranz hat 59 Perlen.

Vom „Schatz“ der evangelischen Kirchenmusik quellen die Tresore über wie ein Portemonnaie von Inflationsgeld. Wie kam es, dass die Kirchenmusiker das Wort des Listenius wörtlich genommen haben? Warum haben sie so ungeheuer viele Wortwerke abgesondert? Warum haben sie sich nicht darauf beschränkt, ausübende Musiker zu sein wie die „Practici“, die nach dem letzten verklungenen Ton eine akustisch besenreine Kirche hinterlassen? Wieso haben sie das Wort Gottes, von dem Johannes 1,16 im Singular spricht, durch die Druckerpresse geschoben und es zu einem riesigen Haufen klingender Wörter vervielfältigt?

Jede monotheistische Religion schleppt einen Erkenntniszweifel mit sich. Ihn müssen wir in den Blick nehmen, wenn wir diese Fragen beantworten wollen. Aus der Welt und ihrer Ordnung, aus dem Menschen und seiner Schönheit ist nicht ohne weiteres erkennbar, dass ein Schöpfergott sich in ihnen manifestiert. Selbst wenn der Gott sich auch mit Worten erklärt, etwa in Gestalt eines Gesetzes, einer Heiligen Schrift, einer Prophetenrede, sind keineswegs die Zweifel ausgeräumt, ob das wirklich Gottes Wort ist oder nur Menschenwort. Die Heilige Schrift braucht Beglaubigungen, etwa die, von Gott selbst im Getöse von Blitz und Donner auf Steintafeln gemeißelt worden zu sein. Die Prophetenrede braucht den inspirierten Propheten. Aber woher kann man wissen, dass Blitz und Donner am Berg Sinai wirklich göttliche Sounds waren? Und ist der Prophet wirklich inspiriert oder nur ein Fall für den Arzt? Der religiöse Erkenntniszweifel verlagert sich von den Offenbarungen auf ihre Beglaubigungen. Kaum sind sie vorgebracht, bekommen sie selbst den Status einer Offenbarung, die der Beglaubigung bedürftig ist. Wir geraten in eine unendliche Kette von Beglaubigungspflichten. Der infinite Regress ist die logische Form des Erkenntniszweifels jeder monotheistischen Offenbarung.

Beachten wir, wenn wir das am Christentum konkretisieren, dass die Beglaubigung einer behaupteten Offenbarung sehr oft eine durch Worte ist. Wir sind jetzt auf der Ebene von Gedanken, Behauptungen, Erklärungen, kurz: von Semantiken. Eine Semantik wird durch Wörter einer Sprache ausgedrückt. Beglaubigungen sind also Wortgebilde, dito Beglaubigungen von Beglaubigungen. Das vermittelt eine erste Ahnung, was hinter dem Wortschwall der evangelischen Kirchenmusik stecken könnte.

Die zentrale göttliche Offenbarung im Christentum ist Christus. Eine Person also, keine Worte. Jesus von Nazareth redete in seinen rund dreißig Erdenjahren allerdings auch. Er hielt lakonische Kurzpredigten, er erzählte schroffe Geschichten, genannt Gleichnisse, er betete. Das wurde fleißig mit- oder aus der Erinnerung aufgeschrieben. Er schrieb es nicht selbst auf, ein bemerkenswerter Umstand, auf den neuerdings wieder viel, aber mit wenig Erkenntnisgewinn hingewiesen wird. Wenn Andere es aufschreiben, ist es naturgemäß kontaminiert mit deren eigenen Worten und Gedanken. Nun redete Jesus nicht nur, er heilte Kranke, erweckte Tote, wusch seinen Jüngern die Füße und ließ sich nach einer fadenscheinigen Anklage widerstandslos hinrichten. Er kehrte ins Leben zurück, zeigte sich mehreren Augenzeugen und verschwand spektakulär von der Erde. Alle diese Handlungen wurden anschließend von Augenzeugen und Hörensagern in Worten erzählt und aufgeschrieben. Noch mehr als die protokollierten Jesusworte sind solche Berichte naturgemäß von denen kontaminiert, die sie in Gedanken und Worte fassen.

Die Lage ist kompliziert genug, aber sie wird noch komplizierter durch das Dogma der Gottesebenbildlichkeit. Einerseits ist der Mensch Gott ähnlich erschaffen, wie es in der Schöpfungsgeschichte heißt. Man kann vom Menschen auf Gott rückschließen. Der Mensch ist ein Sprachwesen, also muss auch Gott eines sein. Ein anderer bekannter Vers aus der Schöpfungslehre passt dazu perfekt, ebenso die besagte Stelle 1,16 aus dem Johannesevangelium. Andererseits hat der Mensch im Sündenfall seine Gottesebenbildlichkeit verspielt. Ob komplett oder nur teilweise, ist strittig zwischen den Konfessionen. Wenn nur teilweise, dann bietet der intakt gebliebene Teil einen Ansatzpunkt, den Erkenntniszweifel auszuräumen. Die katholische Theologie meint, die menschliche Ratio sei der intakte Teil. Wenn demnach die Priester und Propheten ihre Botschaft in eine rationale Welt- und Menschensicht einfügen, dann wird die Göttlichkeit der Botschaft zutage treten. Die protestantische Theologie meint, die Gottesebenbildlichkeit sei in der Apfelszene komplett verschwunden. Nicht eliminiert, aber doch total verfinstert durch Sünde. Es gibt keinen Ansatzpunkt, der übrig geblieben wäre.

 

Die Beglaubigung einer Offenbarung müsste also einerseits am Menschlichen ansetzen, andererseits wird das wegen der verlorenen Gottesebenbildlichkeit wirkungslos sein. Eine Dialektik, die wieder einmal nach einer typisch evangelischen Anleitung zum Unglücklichsein aussieht. Schauen wir, wie sich der Protestantismus mit dem Dilemma quält und wie er sich herauswindet. Nicht nur der katholische Gedanke der Rationalität steht ihm nicht zur Verfügung. Auch vor einer anderen katholischen Antwort schreckt er zurück. Für den Katholiken gibt es einen letztlich unbezweifelbaren Beweis für die Göttlichkeit der Heiligen Schrift: die Kirche und ihre Geschichte. Da können einem große Kirchen, große Denker, große Päpste und große Komponisten einfallen. Oder aber Prunksucht, Ablass, Missbrauch, Mord und Totschlag. Der Protestant wendet sich schamvoll schaudernd ab von dem Gedanken. Die evangelische Kirchenmusik, um einmal nur vor der eigenen Haustür zu kehren, zeichnet ein bizarres Muster von frommen Höhenflügen bis zu moralischen Desastern. Von der tief religiös empfundenen Orgelchoralbearbeitung über flache Zeitgeistwerke bis hin zur Führerkantate hat sie alles zu bieten. Im Erkenntniszweifel hilft das nichts.

Einen weiteren Ausweg aus dem Erkenntniszweifel sieht der Protestant eher skeptisch: den spiritualistischen. Der Heilige Geist müsse direkt den Empfänger einer Offenbarung erleuchten, dann erfasse er auch, dass sie göttlich sei. Solchen Spiritualismus weist die evangelische Schultheologie in der Regel zurück.

Einen Königsweg aus dem infiniten Regress des Erkenntniszweifels hat die lutherische Theologie nicht. Ihr bleibt nichts übrig, als den Regress mit langem Atem weiter und weiter zu laufen und immer und immer wieder das Bibelwort, die einzige greifbare Offenbarung Gottes, zu predigen. Und nichts als zu hoffen und zu beten, dass das wieder und wieder wiedergekäute Bibelwort die Kraft entfaltet, die allmählich den Schleier des Erkenntniszweifels lüftet. Luther entblödet sich nicht, das systematisch arg unsaubere Argument vorzubringen, da Gott sich nur im Menschenwort offenbare, sei auch in jedem menschlichen Weitertragen ein Gran neue göttliche Offenbarung enthalten. (Die konsequentere reformierte Dogmatik weist das mit Recht zurück.) Das ist im wesentlichen Luthers Offenbarungstheologie. Ohne alle Abwertung gesagt: sie ist banal, nüchtern und radikal pragmatisch. Sie besagt nichts weiter, als dass die Gottesoffenbarung als Bibelwort vorliegt und dass es auf welchem Weg auch immer unter die Leute zu bringen ist. So frequent und so effizient wie möglich.

Die Aufforderung zum Pragmatismus ist die Stunde der Pragmatiker um Luther: die Stunde der Musiker und die der Drucker. Und die Stunde Melanchthons. Philipp Melanchthon, nicht Luther, ist die geistige Kraft hinter der Massenproduktion von Bibeltextvertonung, die seit Listenius unter der Flagge „Musica poetica“ segelt. Melanchthon liefert den Kirchenmusikern keine Theologie, sondern eine Psychologie, den Commentarius de anima (Über die menschliche Psyche), 1540 bei niemand anderem als Georg Rhau gedruckt. Gleich zu Beginn zitiert er zweimal den antiken Arzt Galen, wegen der Gottesebenbildlichkeit lasse sich Gott erkennen, indem man den Menschen erkenne. Wer denkt, hier spaziere durch die Hintertür das katholische Rationalitätsdenken wieder herein, liegt theologisch natürlich völlig falsch, sachlich aber richtig. Es geht jetzt ums blanke Handwerk. Die biblische Botschaft muss an den Mann und an die Frau, so wirksam wie möglich, und je wirksamer, desto göttlicher, so kann man die Galenreferenz übersetzen. Zur Theorie hinzu nehme man Melanchthons Elementa rhetorices (Bausteine der Rhetorik), 1531 natürlich bei Georg Rhau in Wittenberg gedruckt. Das ist das Jahr von Listenius’ Magisterabschluss. Dort kann man nachlesen, wie man seine Themen so emotionalisiert, dass sie in der Hörerin und im Hörer mit dem gewünschten Gefühl verankert werden.

Das ist es, was die poetischen Musiker brauchen. Melanchthon ist die Blaupause für all das, was heute an den evangelischen Hochschulen unter „Pädagogik“ oder „Vermittlung“ des christlichen Glaubens firmiert. Bei Melanchthon lernen die Kirchenmusiker, wie sie komponieren müssen, damit das Bibelwort ganz tief reingeht. Ein winziger Spalt zur Theologie bleibt, wie gesagt, aber das ist jetzt egal. Da der Mensch nicht die Seite wechseln kann, nähert er sich von der anthropologischen eben so dicht an, dass er so gut wie drüben ist. Die Lücke des Erkenntniszweifels ist geschlossen, nun ja, so gut wie.

Luther siedelt das hehre Wort Gottes hüben und drüben, bei Gott und beim Menschen, beim Sender und beim Empfänger an. Es soll auf beiden Seiten zugleich und folglich irgendwie zwischendrin sein. Da man naturgemäß über die göttliche Seite des Verhältnisses nichts Genaues wissen kann, hält man sich an die menschliche. Die göttliche Seite wäre Theologie, die menschliche ist Anthropologie und Psychologie. Musikalisch angewandte Anthropologie und Psychologie heißt in der lutherischen Kirchenmusik „musica poetica“: eine Musik, die auf Bibelwort oder Predigtwort basiert, die jedes dieser Wörter auf seine psychologische und rhetorische Vermittlungsmöglichkeit hin prüft – und zwar eines nach dem anderen, siehe Distler – und jedes entsprechend klanglich verpackt.

Zwischen dem lutherischen Gottesdienst und dem katholischen Ritus besteht ein fundamentaler Unterschied. Die liturgischen Elemente des lutherischen Gottesdiensts sind Slots. Ihre Kontexteigenschaften sind festgelegt, ihr Inhalt freibleibend – aus gutem Grund, wie wir jetzt sehen. Der Inhalt muss austauschbar sein, um an die psychischen Bedingungen der Empfängersituation angepasst werden zu können: an die jeweilige Kirchenjahreszeit und ihre typische Gemütslage, an die Kirchengemeinde und ihre politische Situation, an den einzelnen Menschen, seinen Typ und seine Sorgen. Die Kirchenmusik muss zielgruppenorientiert arbeiten. Sonntag für Sonntag, Kirchengemeinde für Kirchengemeinde etwas Neues, aber vom äußeren Zuschnitt produktförmig.

Die Stücke der evangelischen Kirchenmusik funktionieren, als ob sie Druckerzeugnisse wären. Sie werden selbst produktförmig, konfektioniert für einen theologisch, vor allem aber psychologisch definierten Slot. Ein massenhaft druckbarer Bibeltext liegt vor, er ist im wahrsten Wortsinn Vor-Lage. Auch ein Kirchenlied ist Vorlage, es liegt vor wie ein Druckexemplar. Das Vor-Liegen ist visuell, es aktiviert den Sehsinn. Etwas liegt gleichzeitig neben einem anderen und einem dritten, man kann vergleichen, man kann auswählen. Die zeitverbrauchende oder zeitgebende Performanz des Schreibens, Sprechens oder Singens eines Texts, die die klösterliche Liturgie im Mittelalter prägte, ist verschwunden.