Dem Leben vertrauen

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Stil

Obwohl das Streben nach Ganzheit etwas Naturgegebenes und uns allen Gemeinsames ist, heilt jeder Mensch auf individuelle Weise. Manche Menschen werden gesund, indem sie arbeiten. Andere müssen von Arbeit und Erwartungsdruck befreit werden, um zu genesen. Manche brauchen Musik, manche die Stille, einige wollen während eines Heilungsprozesses Menschen um sich haben, andere sind lieber allein. Die unterschiedlichsten Dinge vermögen die Lebenskraft in uns zu aktivieren und zu stärken. Bei jedem von uns hat der Heilungsprozess andere Voraussetzungen. Sie sind so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Manchmal fragen mich die Leute, was ich in meinen Sitzungen mit den Patienten anstelle. Oft mache ich die Patienten nur darauf aufmerksam, dass Heilung grundsätzlich möglich ist, und suche mit ihnen gemeinsam nach dem richtigen Weg.

Vor einiger Zeit wurde mir ein junger Mann überwiesen, der von einem Visualisierungsprogramm für Krebskranke kam. Obwohl man bösartige Melanome diagnostiziert hatte, war der Patient so unmotiviert gewesen, dass er schon einen Monat nach Abschluss des intensiven Trainings vergaß, täglich seine Bildmeditation zu absolvieren. Der Grund der Überweisung lag auf der Hand; vielleicht würde es mir gelingen, die selbstzerstörerischen Neigungen dieses Mannes umzukehren und ihn zu ermutigen, um sein Leben zu kämpfen.

Jim war Fluglotse auf einem großen Flughafen. Er war ein zurückhaltender, ruhiger Mann, den man für schüchtern halten konnte, bis man die Entschiedenheit in seinen Augen sah. Verlegen erzählte er mir, dass er als Einziger in dem Trainingsprogramm nicht mit den Übungen zurechtgekommen war. Jim konnte sich das nicht erklären. Wir sprachen eine Weile über seine Pläne und über seine Reaktion auf die Diagnose. Ihm lag zweifellos viel daran, gesund zu werden. Er mochte seine Arbeit, liebte seine Familie, freute sich darauf, seinen kleinen Sohn großzuziehen. Es gab eigentlich nichts, was auf Selbstzerstörungsdrang hindeuten konnte. So bat ich ihn, mir etwas über das Bild zu erzählen, das er sich hatte vorstellen sollen.

Statt zu antworten, entfaltete er eine Zeichnung, auf der ein Hai zu sehen war. Das Maul des Hais war riesig und weit geöffnet, voll mit scharfen, spitzen Zähnen. Dreimal täglich sollte Jim sich fünfzehn Minuten lang vorstellen, wie Tausende von winzigen Haifischen durch seinen Körper jagten und gnadenlos jede Krebszelle, die ihnen in den Weg kam, angriffen und vernichteten. Dieses Bild war ein ziemlich übliches Modell für die Visualisierung des Immunsystems. Zahlreiche Ratgeber empfahlen dieses Modell, und es wurde häufig benutzt. Ich fragte Jim, was ihn von der Meditation darüber abhalte. Seufzend gestand er, dass er sie für stumpfsinnig halte.

Das Training war für ihn von Anfang an schiefgelaufen. Am ersten Tag war die Gruppe aufgefordert worden, sich das Immunsystem bildlich vorzustellen. In der anschließenden Diskussion hatte Jim entdeckt, dass er nicht die „richtige“ Art von Bild erwischt hatte. Die ganze Gruppe einschließlich des Therapeuten hatte daraufhin mit ihm gearbeitet, bis er schließlich auf den Hai gekommen war. Ich betrachtete mir die Zeichnung auf Jims Schoß. Der Kontrast zwischen dem Bild und diesem zurückhaltenden Mann stach in die Augen.

Neugierig fragte ich ihn, wie sein erstes Bild ausgesehen habe. Er blickte zur Seite und murmelte: „Nicht grausam genug.“ Er habe sich einen Katzenwels vorgestellt. Ich war verblüfft. Ich wusste nichts über Katzenwelse, hatte noch nie einen gesehen, und bisher hatte auch noch nie jemand im Zusammenhang mit einer Therapie diesen Fisch erwähnt. Mit zunehmender Begeisterung schilderte Jim, wie Katzenwelse sich im Aquarium verhielten. Anders als Raubfische halte sich der Katzenwels in Bodennähe auf, fächele Sand durch seine Kiemen, trenne dabei ständig Genießbares von Ungenießbarem und fresse die Schadstoffe, die sich im Aquarium ansammelten. Katzenwelse schliefen niemals. Sie seien zu raschen und exakten Entscheidungen fähig – wie Fluglotsen –, meinte Jim bewundernd.

Ich bat ihn, den Katzenwels mit wenigen Adjektiven zu charakterisieren. Er nannte Begriffe wie „klug“, „aufmerksam“, „untadelig“, „gründlich“, „treu“. Und „zuverlässig“. Nicht schlecht, dachte ich.

Wir sprachen eine Weile über das Immunsystem. Jim hatte nicht gewusst, dass die DNS jeder unserer Billionen Zellen eine individuelle Signatur trägt, eine Art persönliches Markenzeichen. Unsere Immunzellen sind in der Lage, die körpereigenen DNS-Markenzeichen zu erkennen, und fressen jede Zelle, die dieses Markenzeichen nicht trägt, sofort auf. Das Immunsystem ist eine Art körpereigene Polizei, die ständig patrouilliert und Eigenes vor Fremdem schützt. Krebszellen haben ihr DNS-Markenzeichen verloren. Das Immunsystem greift sie an und zerstört sie. Jim hatte also unbewusst eine ziemlich genaue Vorstellung des Immunsystems reproduziert.

Als Medizinstudentin hatte ich an einer Versuchsreihe teilgenommen, bei der ein Mikrotransplantat, ein winziger Verband menschlicher Hautzellen, einer anderen Person eingepflanzt worden war, und ich erzählte Jim von diesem Experiment. Das Immunsystem jener zweiten Person benötigte zweiundsiebzig Stunden, um unter den Billionen eigener Zellen den winzigen Zellverband mit der falschen DNS-Signatur ausfindig zu machen und zu vernichten. Ich schilderte Jim, dass wir mithilfe ausgeklügelter Tricks versucht hatten, das Mikrotransplantat zu tarnen. So raffiniert wir auch vorgingen, das Immunsystem ließ sich nicht überlisten. Jedes Mal entdeckte es die Zellen und vernichtete sie.

Jim schien noch Zweifel zu haben. Der Therapeut und die anderen Teilnehmer des Trainingsprogramms hatten betont, dass ein mentales Bild von Kampfgeist und „Killermotivation“ geprägt sein müsse, um effektiv zur Bekämpfung des Krebses beitragen zu können. Jim geriet wieder in Aufregung. „Ist noch etwas?“, fragte ich ihn. Er nickte und erklärte mir, dass ein Katzenwels dort zur vollen Größe auswachse, wo er geboren worden sei, und zu bestimmten Zeiten des Jahres „über die Straße ginge“. Als Kind war ihm dieses Phänomen wie ein Wunder vorgekommen, und nie war er es müde geworden, Welse zu beobachten. Einige davon waren gute Freunde für ihn geworden. „Jim“, sagte ich, „was verstehen Sie unter einem guten Freund?“ Er schaute mich erstaunt an. „Nun, ein guter Freund ist jemand, der dich liebt, egal, was passiert“, erwiderte er.

Dann bat ich Jim, sein Bild von den Welsen noch einmal zusammenzufassen. Er schloss die Augen und sprach von Millionen von Katzenwelsen, die niemals schliefen und sich aufmerksam, unermüdlich durch seinen Körper bewegten, geduldig und sorgfältig jede Zelle überprüften, die gesunden Zellen in Ruhe ließen und die verkrebsten auffraßen. Mit der bedingungslosen Liebe und Hingabe guter Freunde kümmerten sie sich um ihn, ob er nun lebte oder starb, hielten ihn, genauso wie sein Hund, für unersetzlich und einzigartig. Jim schlug die Augen auf. „Es mag ziemlich blöd klingen, aber ich empfinde diesen Tieren gegenüber eine Art Dankbarkeit“, sagte er.

Das Bild von den Welsen berührte ihn tief, und weder fiel es ihm schwer, sich daran zu erinnern, noch hielt er es für stumpfsinnig. Ein Jahr lang meditierte er täglich darüber. Noch Jahre später – inzwischen vollkommen genesen – visualisierte er ein paar Mal die Woche. Das erinnere ihn daran, dass sein Körper ein Verbündeter sei, meinte Jim.

Jeder ist in der Lage, die eigene Lebenskraft so gründlich kennenzulernen, wie beispielsweise ein Gärtner seine Rosen kennt. Kein Gärtner hat je eine Rose erschaffen, er schafft jedoch die Bedingungen dafür, dass ein Rosenstrauch Blüten treibt. Und wie jeder, der jemals Rosen beschnitten hat, weiß, strömt das Leben durch jeden Strauch ein wenig anders.

Stille

Als junges Mädchen leistete ich in den Ferien einen freiwilligen Dienst in einem Altenpflegeheim ab. Der Job begann mit einem zweiwöchigen Intensivkurs über den Umgang mit alten Leuten. Offenbar musste dabei jede Menge beachtet werden, und was sich anließ wie ein Teenagersommer, in dem ich mich in Nächstenliebe üben wollte, entpuppte sich schnell als reglementierte Beschäftigung, für die Techniken und Fachkenntnisse erforderlich waren, nach denen das Pflegepersonal mich beurteilen würde. Vor dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit einem Patienten in Kontakt kommen sollte, war mir ziemlich bange.

Meine erste Aufgabe bestand darin, eine 96-jährige Frau, die seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen hatte, zu besuchen. Ein Psychiater hatte senile Demenz diagnostiziert, aber auf eine medikamentöse Behandlung hatte sie nicht angesprochen. Die Krankenschwestern bezweifelten, dass sie mit mir reden würde, hofften aber, dass ich sie zu einer gemeinsamen Beschäftigung anregen könnte. Man gab mir einen großen Korb voller Glasperlen in den verschiedensten Größen und Farben. Wir sollten zusammen Perlen auffädeln. Nach einer Stunde sollte ich im Stationszimmer Bericht erstatten.

Ich wollte diese Patientin nicht sehen. Ihr hohes Alter machte mir angst, und das Wort „Dementia senilis“ ließ vermuten, dass sie nicht nur viel älter war als alle Menschen, die mir je begegnet waren, sondern überdies schwachsinnig. Erfüllt von bösen Vorahnungen, klopfte ich an ihre geschlossene Zimmertür. Es kam keine Antwort. Als ich die Tür öffnete, befand ich mich in einem kleinen Raum, der von einem einzelnen, der Morgensonne zugewandten Fenster erhellt wurde. Vor das Fenster hatte man zwei Stühle gestellt, und in einem davon saß die uralte Lady und schaute hinaus. Der andere Stuhl war frei. Ich blieb eine Weile an der Tür stehen, doch sie nahm meine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis. Unsicher, was ich als Nächstes tun sollte, ging ich zu dem freien Stuhl und setzte mich, den Korb mit den Perlen stellte ich mir auf den Schoß. Sie schien nicht einmal mein Kommen bemerkt zu haben.

 

Eine Weile lang zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ein Gespräch in Gang bringen könnte. Ich war damals ungeheuer schüchtern, und unter anderem deshalb hatten mir meine Eltern nahegelegt, den Job anzunehmen. Auch unter weniger schwierigen Bedingungen wäre es also eine harte Zeit geworden. Die Stille im Raum war vollkommen. Jede Äußerung schien unangebracht, dennoch wollte ich meine Aufgabe unbedingt erfolgreich erledigen. Ich überlegte hin und her und verwarf dann alle Konversationshilfen, die man uns in der Ausbildung empfohlen hatte. Keine davon schien anwendbar. Die alte Frau blickte weiterhin zum Fenster, hielt ihr Gesicht halb von mir abgewandt und atmete leise. Schließlich gab ich auf und blieb mit dem Korb voller Glasperlen auf dem Schoß eine geschlagene Stunde einfach sitzen. Es war sehr friedlich.

Die Stille wurde schließlich durch eine kleine Glocke unterbrochen, die das Ende der morgendlichen Beschäftigungsstunde anzeigte. Ich packte meinen Korb und wollte gehen. Aber ich war erst vierzehn, und die Neugier überkam mich. Ich wandte mich an die alte Frau und fragte: „Wohin schauen Sie eigentlich?“ Ich errötete sofort. Es war strikt verboten, die Nase in das Leben der Heimbewohner zu stecken. Vielleicht hatte sie es ja nicht gehört. Anscheinend aber doch. Langsam drehte sie sich zu mir um, und ich sah zum ersten Mal ihr Gesicht. Es strahlte. Mit einer von Freude erfüllten Stimme sagte sie: „Nun, mein Kind, ich schaue zum Licht.“

Viele Jahre später, als ich bereits Kinderärztin war, bemerkte ich, dass der Blick von Neugeborenen zum Licht denselben entzückten Ausdruck hat, fast so, als würden sie auf etwas lauschen. Zum Glück war mir damals im Altenpflegeheim nichts eingefallen, um die Stille zu unterbrechen.

Eine 96-jährige Frau hört möglicherweise zu sprechen auf, weil Arteriosklerose ihr Gehirn zerstört hat oder weil sie an einer Psychose leidet und nicht mehr fähig ist, sich zu artikulieren. Es kann aber auch sein, dass sie sich in einen Raum zwischen der inneren und der äußeren Welt zurückzieht, um zu sinnieren, was als Nächstes kommt, und geduldig darauf zu warten, dass es ihr gelingt, das Licht einzufangen.

Der Zufall hatte mich zu ihr geführt oder vielleicht die Gnade. Ich habe mich oft gefragt, was geschehen wäre, wenn ich als technisch hoch qualifizierte Ärztin, die ich in Kürze sein würde, an ihre Tür geklopft hätte. Sicher hätte ich dann nicht den Weg zu ihr gefunden, hätte nicht einfach mit ihr zusammensitzen können und hätte nichts über die absolute Stille und das Vertrauen ins Leben von ihr gelernt. Jetzt, viele Jahre später, hoffe ich, es zu können.

Zwischen den Zeilen lesen

Sara ist eine Frau, die genau wie ich seit vielen Jahren an der Crohn-Krankheit leidet. Im Laufe von dreißig Jahren hat sie über vierzehn Unterleibs- und Gelenkoperationen hinter sich gebracht. Das Ergebnis dieser Erfahrungen: Sie sah sich als Opfer. Als sie zum ersten Mal in meine Sprechstunde kam, war sie vor lauter Selbstmitleid chronisch depressiv und arbeitsunfähig. Aber das änderte sich mit der Zeit. Inzwischen arbeitet sie dreimal die Woche und nimmt wieder aktiv an dem turbulenten Leben ihrer Familie teil. Als sie ihre Sitzungen bei mir abschloss, kommentierte dies ihr Ehemann mit der Bemerkung, er habe das Gefühl, mit einer anderen Frau verheiratet zu sein.

Ein Jahr, nachdem ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, bekam sie Schmerzen im Kiefer und suchte ihren Zahnarzt auf. Er stellte einen kleinen Abszess am Knochen fest und erklärte ihr, er müsse, um ihn zu entfernen, eine Wurzelkanaloperation durchführen. Als er ihr den Vorgang schildern wollte, stand sie abrupt auf und verließ seine Praxis. Einige Stunden später rief mich ihr Mann bestürzt an und sagte mir, er habe sie, als er von der Arbeit nach Hause kam, tief depressiv in ihrem Bademantel im Wohnzimmer sitzend vorgefunden. Er habe keine Ahnung, was los sei, und sie sei nicht bereit, mit ihm darüber zu reden. „Kommt vorbei“, sagte ich.

Ich erschrak zutiefst über die Veränderung, die mit Sara passiert war; sie sah etwa so aus wie damals vor drei Jahren, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten: leblose Augen, ungekämmt, die Kleidungsstücke nicht zusammenpassend, als hätte sie das Erstbeste angezogen, was sie im Schrank gefunden hatte. In sich zusammengesunken, saß sie mir gegenüber. Mit matter Stimme berichtete sie, was sich am Nachmittag beim Zahnarzt ereignet hatte. „Es ist einfach zu viel. Ich kann das nicht machen“, sagte sie. „Diese Operation ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“

„Was ist los mit Ihnen, Sara?“, fragte ich. Sie begann zu weinen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich fühle mich genauso wie damals, als ich zum ersten Mal hierherkam, irgendwie überfordert, einfach niedergeschlagen.“ Ich schlug vor, es mit mentalen Bildern zu versuchen, die ihr schon einmal geholfen hatten. Vielleicht würden sie den Grund für ihren Kummer offenbaren. Tränenüberströmt stimmte sie zu.

Ich redete ihr gut zu, und sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, um sich zu entspannen. Es dauerte einige Zeit, bis sie in der Lage war, dem vertrauten Muster zu folgen. Als ihr Atem langsamer und etwas tiefer wurde, schlug ich ihr vor, sie solle sich vorstellen, vor einer geschlossenen Tür zu stehen. „Wenn du bereit bist, streck die Hand aus und öffne die Tür“, sagte ich. „Auf der anderen Seite wirst du etwas sehen, was dir bei der Bewältigung deiner Gefühle helfen wird.“

Nach dem Öffnen der imaginären Tür stellte Sara überrascht fest, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand. Die Patientin im Bett war sie selbst. Sie lag im Koma, wie zu Beginn ihrer Krankheit vor dreißig Jahren.

In den nächsten fünfzehn Minuten besuchte sie in ihrer Fantasie ein Krankenzimmer nach dem anderen. Langsam enthüllten sich ihr die Ereignisse ihrer langen Krankheit, sie sah Jahr um Jahr, Operation um Operation, Rückfall um Rückfall, Genesung um Genesung an sich vorbeiziehen. Während ich sie auf ihrem Weg begleitete, begann mein Sinn für Logik zu protestieren. Insgeheim fragte ich mich, ob dies der richtige Weg war, ihr zu helfen. Würde sie sich, wenn sie all dieses Leid noch einmal durchlebte, letztlich nicht noch mehr als hilfloses Opfer fühlen? Doch je weiter sie voranschritt, um so kräftiger wurde ihre Stimme, und sie begann, sich auf ihrem Stuhl aufzurichten. Als sie im Jahr 1988 angelangt und dabei war, sich ihre zwölfte Operation, bei der ihre gesamte rechte Hüfte ausgetauscht worden war, noch einmal zu vergegenwärtigen, öffnete sie plötzlich die Augen und brach in schallendes Gelächter aus. „Wurz-Kanal, Schnurz-Kanal“, wieherte sie und musste Tränen lachen. „Diese läppische Operation schaffe ich mit links.“

Durch eine Rückschau auf ihre Leidensgeschichte gelang es Sara, die Geschichte hinter der Geschichte zu entdecken und den Sinn, der in den vertrauten Fakten und Ereignissen verborgen war, zu entdecken. Indem sie sich ihren Verletzungen stellte, wurde es ihr möglich, zu ihrer Kraft zurückzufinden, ihren unbezähmbaren Lebenswillen zu erfahren, ihren Mut und ihre Fälligkeit, sich selbst zu heilen. Vielleicht ist jedes „Opfer“ in Wirklichkeit ein Überlebender, der noch nichts von seinem Überleben weiß.

Ein aufgestauter Fluss

Anfangs reagierte ich auf körperliches Leiden und die damit verbundenen Einschränkungen mit Wut. Als ich mit fünfzehn sehr krank wurde, musste ich bei den einfachsten Handlungen zunächst meine Krankheit bedenken. Würde sie mir gestatten, ein Stück Käse zu essen? Würde ich die Kraft haben, diese Treppe hinaufzusteigen? Würde ich den Film bis zum Ende anschauen können, ohne wegen quälender Bauchschmerzen hinausgehen zu müssen? Diese Krankheit herrschte so autoritär über mich, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Sie ist noch immer die gestaltende Kraft in meinem Leben, formt es jedoch mit weitaus leichterer Hand.

Vielleicht kann man nur als junger Mensch eine solche Wut, wie ich sie verspürte, empfinden. Ich hasste all die gesunden Menschen, hasste diejenigen in meiner Familie, die mir diese Gene vererbt hatten. Ich hasste meinen Körper. In diesem Zustand befand ich mich fast zehn Jahre lang.

Kurz bevor das letzte Jahr meines Medizinstudiums begann, änderten sich die Dinge. Man hatte mir in einem guten Lehrkrankenhaus eine Stelle als Assistenzärztin angeboten. Doch meine Kraft reichte gerade noch zur Erledigung meiner Aufgaben. Wieder sah ich mich um einen Traum gebracht. An jenem Nachmittag begab ich mich zu dem alten Strandhaus, das zu unserer Klinik gehörte und sowohl von den Studenten als auch vom Personal benutzt wurde. Innerlich aufgewühlt, ging ich verdrossen am Ufer entlang, verglich mich selbst mit anderen meines Alters, mit Leuten von anscheinend grenzenloser Vitalität. So wollte ich auch sein. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte, diese Krankheit hätte mir meine Jugend geraubt. Ich wusste noch nicht, was sie mir dafür gegeben hatte.

Mein Inneres reagierte auf diese quälenden Gedanken mit einer Welle intensiver Wut, jenem Gefühl, das ich schon früher viele Male erlebt hatte. Aber aus irgendeinem Grund ertrank ich diesmal nicht darin. Stattdessen bemerkte ich, dass die Welle verebbte und etwas in mir sagte: „Du hast keine Vitalität? Hier ist deine Vitalität.“

Erschüttert erkannte ich die Verbindung zwischen meinem Zorn und meinem Willen, zu leben. Meine Wut war einfach die Kehrseite meines Lebenswillens. Meine Lebenskraft war genauso intensiv, genauso mächtig wie mein Zorn, aber zum ersten Mal vermochte ich ihn anders zu erleben und direkt zu spüren. Im ersten Moment der Überraschung bekam ich eine flüchtige Ahnung meiner selbst: dass ich im Innersten eine intensive Liebe zum Leben hegte, den Wunsch hatte, am Leben voll und ganz teilzunehmen und anderen dabei zu helfen, dasselbe zu tun. Auf irgendeine Weise war die Kraft dazu in mir gewachsen, als Folge der starken Beschränkung, die meiner Vitalität nur scheinbar entgegenstand – vergleichbar mit der Energie eines aufgestauten Flusses. Ich hatte vorher keine Ahnung davon gehabt. Ich begriff auch, dass diese Kraft in ihrer gegenwärtigen Form, als Wut, gefangen war. Mein Zorn hatte mir dabei geholfen, zu überleben, meiner Krankheit Widerstand entgegenzusetzen, sogar gegen sie zu kämpfen, aber er hinderte mich auch daran, mir das Leben aufzubauen, nach dem ich mich sehnte. In dem Moment wurde mir klar, dass ich es nicht länger nötig hatte, mich auf diese Weise zu verhalten. Ich begriff und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass niemand etwas für mein Leid konnte, dass die Welt nicht dafür verantwortlich war. Ich erlebte einen Moment vollkommener innerer Freiheit.

Ich nahm die Stelle an. Wenn es mir zu viel wurde, bat ich andere um Hilfe. Früher wäre ich zu zornig und verbittert dazu gewesen. Es war ein sehr wichtiges Jahr für mich.

Viele Jahre später, in einem Seminar über ayurvedische Medizin, lernte ich die theoretische Grundlage für diese Art von Erfahrung kennen. Der Ayurveda besagt, dass ein Unterschied zwischen der Energie selbst und dem Energiemuster oder der Energieform besteht, dem Gefäß also, durch das die Lebensenergie einer Person in einem bestimmten Moment fließt. Die Energieform ist beispielsweise Zorn, Trauer, Freude oder Enttäuschung, die Energie selbst jedoch ist das Qi oder die Lebenskraft. Im Chinesischen heißt „wütend werden“ shen qi, das heißt, „das Qi erzeugen“ beziehungsweise „die Lebenskraft steigern“. Noch immer werde ich manchmal zornig, aber meine Wut hält sich im Rahmen. Sie ist keinesfalls mit den Gefühlen zu vergleichen, die in all den Jahren mein Leben begleiteten. Diese Wut hat ihren Zweck erfüllt. Sie hat meine persönliche Integrität verteidigt, hat Nein gesagt zu den Einschränkungen, die meine Krankheit mir auferlegte. Aber ich hatte etwas anderes als Wut nötig, um Ja zum Leben zu sagen.