Gott im Hotel

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Danach fährt er uns zum blauen Zug, dem Observation Train. Merton saß auch schon auf einer dieser Bänke. Und ein paar Jugendliche trommeln und tanzen ein Abteil weiter. Zweieinhalb Stunden im Bergland reines Grün. Links der Abgrund, rechts die Teefelder, Pflückerinnen, die kleine Blättchen hinter sich werfen, in ihren Korb auf dem Rücken. Alles Grün, von einer Intensität, die jeden Menschen heilen könnte, wenn er wirklich hineinschaut. In dieses Grünsein. Und die Pflückerinnen? Unter der Sonne, mit weiten Wegen zur Arbeit, die sie nur haben, wenn wieder ein Feld reif ist – geheilt? Von der Armut?

Ruhiger die Teefelder, wilder der Dschungel, wieder eine Hochebene mit weitem Blick über die Berge bis zur höchstgelegenen Stadt des Landes – Nureliya, das so charmant sein soll wegen seines britischen Flairs. Ich erliege dem Zauber nicht; gerade vor ein paar Jahren endete auf dieser Insel ein zermürbender Krieg, dessen Schmerzen noch in der Luft liegen, wie ein Atemanhalten. Noch kein Frieden. Warum sich entzücken an den früheren kolonialen Einbrüchen westlicher Kultur? Wieso gehören diese Häuschen hierher? Ich fühle mich sehr unwohl, wir finden keinen Platz zum Essen, ich bin innen unruhig-offen, offen, dem Land zu begegnen und doch ein Ziel, nicht drängend, einfach leise in mir.

Das nächste ist erst einmal Kandy. Merton schaute auf seiner Asien-Rundreise hier auch vorbei. Im Kandy-Express auf dem Weg hierher hat er ein großes Gedicht geschrieben. Ich fand am Morgen neben wachen, leuchtenden Wahrnehmungen von Natur und Menschen fast so etwas wie ein Koan darin: Was geschieht, wenn die Gedanken sich zuspitzen, und die ‚Spitze‘ entfernt wird?

Er besuchte einige Eremiten in ihren Höhlen, traf sich mit zwei Bischöfen und hielt einen katholischen Gottesdienst, von dem er meinte, er hätte noch nie eine so überfüllte Kirche erlebt. Und – er besuchte den Zahntempel, auf dessen mahagonirotem Holzboden im Innenraum ich mich jetzt erst einmal setze und still bin. Auf den kraftvollen Boden eines zentralen buddhistischen Heiligtums – ein Zahn Buddhas vor mir, verborgen in einem Gold-Kerzen leuchtenden Schrein im Schrein im Schrein, ein schmaler, langer Tisch davor für die Opfergaben, duftender Jasmin. Die weißgekleideten Menschen werden mehr und mehr und die Mönche öffnen die Tabernakel im Tabernakel. Ich lege meine Lotusblüten ab und lasse mich in Trommeln, Ritualen, Gewändern und Demut verschwinden. Jedes Heiligtum in jedem Menschen. Heute ein grenzenloses Licht als unsichtbarer Zahn in mir.

Nur – sein äußerer Glanz schafft es im Dunklen nicht so ganz den Hügel eines Randgebiets hinter Kandy hinaus. Wir landen in einer Straße, die ich gewiss nicht freiwillig bei Nacht betreten hätte, und Raji hält vor einem am Hang liegenden Betongebäude, das aussieht wie eine zu groß geratene Garage, der Riverside Villa. Um die Ecke führt eine Treppe nach unten auf einen in hellem Violett beleuchteten Pool zu, links und rechts die beiden Hotelgebäude mit bunten Lämpchen verziert. Manchmal muss ich wirklich lachen, wie ES sich mir in seinen Hotels zu erkennen gibt. Ich denke, ich werde eine Menge Spaß haben, zum Beispiel an den zirpenden Zikaden – nur zwei! – im Zimmer, ich höre ihr Lied gerne. Oder am Erlauschen des dürren ‚River‘ im Dunklen auf der Terrasse des Restaurants oder dem gegrillten Hühnchen, dem einzigen vegetarischen Gericht, und einer heißen, schwülen Nacht.

Auf unseren teilweise längeren Strecken Autofahrt erzählt Raji von seinem Familiendrama. Irgendwie scheinen wir sein Vertrauen zu erwecken. Harte Familienstrukturen, die keinen Raum lassen, einem inneren Gefühl nachzugehen, das würde den Ausschluss aus jeder Art von Gemeinschaft bedeuten. Er weint, während er fährt. Jakob sitzt neben ihm und ist einfach da. Ich bin still im Hintergrund.

Als ich nach Sri Lanka flog, schlecht vorbereitet, wie ich war, wusste ich nur von diesen aus Granit geschlagenen Buddhas und der Erfahrung Mertons mit ihnen. In dieser Begegnung erwachte im Mönch alles. Ungeahnt. Oder auch nicht – er wollte nicht wieder nach Hause kommen, ohne das großartige Anliegen vollbracht zu haben, schrieb er ja ins Tagebuch beim Abflug über den blauen Pazifik.

Ich bin nicht hier, um es Merton nachzuleben. Keinen Moment hatte ich diese Erwartung. Es war der Impuls, mich an diesem heiligen Ort in meine eigene, ureigenste Begegnung einzulassen.

Das Heiligtum liegt seit 800 Jahren in der Alten Stadt, der heute gesichtslosen Stadt Polonnaruwa. Einst voller Könige, Paläste, Tempel und Pagoden, blühend, zerstört, dann Hunderte von Jahren vom Dschungel überwachsen. Bis wieder Licht auf sie fiel und erstaunlich gut erhaltene Ruinen zum Vorschein kamen, teilweise wie unberührt vom Gram der Zeiten.

Ich wusste nicht, dass man weit laufen muss, um vom Eingang bis zum voll Spannung Erwarteten zu kommen. Raji fährt uns zum Haupteingang, zeigt uns die Stelle, wo er uns wieder erwartet, und leiht uns seinen Regenschirm. Der wird schnell nichts mehr nützen, denn der Weg zu Buddha ist weit. Bald sind die Pfützen so groß, dass ich meine Sandalen ausziehe und barfuß weiterlaufe. Auch wenn ich nicht jeden manchmal moosbewachsenen Tempel aus dunklem Mauerwerk, jede Stupa, jeden Königspalast mit Ornamenten voller Symbolik tiefer betrachte, dringt etwas der Größe dieses alten Geländes zu mir vor.

Eine Weile gehen wir zwischen Wiesen im grünen Licht des Regens, sind von einem Seerosenteich im Hintergrund, vom lichten Banyanbaum, von Oleandern und Rhododendren begleitet. Der sandige Weg neigt sich etwas nach unten und ein weiter, von Bäumen geschützter Platz eröffnet sich, Gal Vihara, der Felsentempel, aus einem einzigen Felsen herausgehauene vier Buddhas, seit ewigen Zeiten im Schutz der wenigen Bäume lebend. Das dazugehörige Kloster ist verschwunden. Die vier sind in hellem, fast ockerfarbenem Gestein aus dem großen Quarz-Felsen gemeißelt, sodass sie wirken, als wären sie nebeneinander in einer Höhle aufgereiht. Auf der gegenüberliegenden Seite des weiten Vorplatzes verläuft der dunkle Quarz wie ein Hügel in runden, abgeflachten Felssteinplatten.

Es hat aufgehört zu regnen, etwas zögernd kommt die Sonne durch, es sind nicht viele Menschen da, ich kann frei meinen Blick öffnen und barfuß den feuchten Sand unter meinen Füßen spüren. So ist es wohl angemessen – barfuß.

Auch Merton war im Dezember hier, auch bei ihm regnete es, auch er barfuß – zum Entsetzen eines ihn begleitenden Priors, der es sowieso als Blasphemie empfand, was Merton da machte, und bockig auf einem fernen Stein sitzen blieb.

Alles ist riesig und sanft hier, links, als erster, ein Sitzender, rechts von ihm ein kleinerer, vor dem ein schmaler Tisch mit Opfergaben steht, die die ihn verehrenden Einheimischen – die Knie beugend – ablegen und der Wärter mir in einem Englisch, das ich nicht verstehe, eine Information über eine Fußhaltung der Statue gibt. Weiter nach rechts der große Liegende, vierzehn Meter liegend und noch klein, direkt über seinem Scheitel ein weiterer. Lange hielt man den für Ananda, Buddhas Lieblingsschüler, aber die wissenden Forscher haben ihn des Namens beraubt und er blieb doch mit seinen verschränkten Armen ein Rätsel. Jung sieht er aus, ganz leicht.

Das Ganze überwältigt. Wie kann etwas so mächtig und so milde sein.

Bevor ich mich dem Liegenden zuwende, versenke ich mich in den Geist des Hüters zu Beginn. Ich tauche mit ihm ein in sein weites Land. Die Maserung, schräg über seinen Körper verlaufend, nur oben, über der Brust aufwärts, ist der Stein ruhig, sie vereint ihn mit dem hinter ihm liegenden Gestein der Höhle, mit den zarten Reliefs von Pagoden und Pflanzen. Es ist Stille selbst, meine nackten Füße verwurzeln sich tief in der Erde und sein Licht mich nach oben, wohin auch immer. Wie gibt es das – einen gemeißelten Bewusstseinszustand? Noch nie erlebt. Wie ist es möglich, dass ein Künstler das innere Wissen des Zeitlosen in die Form holt und mich gleich mitnimmt? Künstler auch, wegen der Vollkommenheit der Gestaltung, der Proportionen, der Einfügung in den Felsen, Einbeziehung der Maserung, nichts von der Härte des Gesteins bleibt im anmutigen Fluss der Gewänder. Er sitzt. Ich stehe. Seine Hände ruhen in seinem Schoß. Meine halten einen Regenschirm und ein Paar Schuhe. Unsere Begegnung ist ohne Ort.

Ich bin am Staunen. Nicht dem der äußeren Betrachtung. Dem Sein im blauen Staunen.

Der Boden unter meinen nackten Füßen lebt. Ich setze mich meditierend – wie viele der Einheimischen auch – auf den leicht hügeligen Granitfelsen dem großen, liegenden Buddha gegenüber. Das dunkle Gestein ist inzwischen fast warm und trocken, im Gegensatz zu meinem Kleid.

Er liegt auf seiner rechten Seite, die Maserungen der Gewänder ziehen sich wie ein großer, anmutiger Fluss über seinen Körper. Er lächelt nicht wirklich, es ist eher ein Lächeln, ohne zu lächeln, noch hinter den Lippen, jetzt auf jeden Fall, bei diesem Sonnenstand. Die Augen leicht wie zarte Flügel geschlossen, eine Hand unter dem Kopf, der auf einer Kissenrolle liegt, der andere Arm längs an seine linke Körperhälfte bis zur Hüfte geschmiegt. Die Füße parallel, der obere ein kleines Stückchen zurückversetzt.

Und öffne mein Herz für den großen Liegenden. Den großen Liebenden. Gerade, gerade in diesem einen Moment des Übergangs, bleibt sein kosmisches Lächeln aus übermenschlicher Liebe. Etwas in mir, du Großer, verweilt in dir. So sieht also der geheimnisvolle Bruchteil des Lebens aus, wenn die Seele diesen Körper verlässt. Ich betrachte dich dabei, übe es, eine Stunde, dann werden es zwei. Die Sonne schafft es nicht, mein Baumwollkleid zu trocknen. Aber ein bisschen noch lass mich bei dir sein, in deinem grenzenlosen Mitgefühl für alle Wesen, der unendlichen Weisheit des Siddharta, dem Allwissenden aus einem unendlichen Grund ALL-EINER LIEBE. Ich weine, und du, Erhabener, du lächelst. Alles Befreit-Sein ist offensichtlich, nichts Verborgenes mehr, alles tragender Frieden, in reinster Majestät und Schönheit.

 

Frierend sitze ich da und weine in diesen Frieden hinein. Oder aus ihm heraus, was weiß ich.

Ich komme langsam zurück in die Welt und denke an den wartenden Raji. Zwischen Jakob und mir genügt ein Blick. Wir sprechen nicht. Auf halber Höhe nach oben auf dem Rückweg drehe ich mich noch einmal um, und da sehe ich ihn, wie er da steht, mein Bruder Louis, so, wie er oft in der ersten Morgendämmerung vor seiner Einsiedelei stand, wie er da steht und dem Geist des Buddha lauscht, barfuß, so wie ich, so still, in eine innige Klarheit und Helligkeit gerissen. Offensichtlichkeit, Alles-ist-Leere, alles ist Mitleiden. Hier an diesem heiligen, nichtchristlichen Ort hat er erkannt, wonach er dunkel gesucht hat. Hat unter die Oberfläche geschaut, habe mich hindurchgebohrt, und ich bin durch Dunkelheit und Verborgenheit hindurchgelangt.

Es ist nichts zu sagen. Doch, ich bin dir zutiefst dankbar, Bruder Louis, für dein wildes, mystisches Leben und den Weg, den du vor mir gegangen bist, hierher und überallhin sonst.

Vor mir liegt eine Sonne, die sich langsam zum Abend hin senkt. Jakob und ich gehen schweigend, immer noch barfuß, mit einem zusammengeklappten Regenschirm in der Hand, den Weg zurück zu Raji, der schon wieder einen Schleichweg weiß, sodass wir nicht mehr die ganze Strecke laufen müssen.

Ich sitze still im Fond des stolzen Mercedes und bekomme Schüttelfrost, so kalt ist mir, meine Kleidung ist immer noch feucht, und vor allem weiß ich – ich will jetzt nichts mehr sehen, keinen einzigen, winzigen Buddha, auch wenn er der schönste der Welt ist. Den habe ich gesehen.

Wir beraten. Jakob möchte noch, bevor geschlossen wird, die tanzenden Mädchen in ihrer Höhle von Sigirya erwischen. Ich will nichts mehr. Raji schlägt vor, dass er Jakob dort am Tempel aussetzt, mich in unser nächstes Hotel bringt und wieder zurückfährt. Entgegen aller Sitten streichle ich ihm von hinten über die Schulter – was für eine großzügige Lösung.

Es ist schon fast dunkel, als ich im Hotel für diese Nacht ankomme und Raji ist zu Recht sehr stolz, was er für uns vorbereitet hat – ein Baumhaus. Das Hochklettern ist auch bei schlechter Beleuchtung ein Kinderspiel – weil es zwar schmale, aber normale Stufen sind. Und es ist alles da – das Bett aus Bambushölzern, rundherum mit einem Moskitonetz aus feiner, rosa Gaze, passende Handtücher, als Schwäne gefaltet, seidene Zierkissen in einem dunklen, schimmernden Rot auf dem dünnen Baumwollüberwurf, Bad, Toilette – wunderschön. Nur – der Blick in die dichten Bäume der Nacht bleibt mir verwehrt. Und schlotternd, wie ich da stehe, bitte ich um eine Decke und schnell bringt mir einer der freundlichen Angestellten ein zweites Laken. Eine der dünnsten Erscheinungsformen einer Decke.

Als alle aus dem Lufthaus verschwunden sind, reiße ich mir die feuchten Kleider vom Leib und werfe mich unter die heiße Dusche. Ja, sie ist heiß. Und ich stehe da und stehe da und denke nicht über die Wasserverschwendung der Welt nach. Ich erwärme mich und es dauert, bis die Wärme bis in die Tiefe meiner Knochen vordringt. Unter der sogenannten Decke versuche ich, sie recht erfolglos zu halten. Bis Jakob kommt und mir liebevoll von seiner immerwährenden Wärme verschwenderisch abgibt … Er erzählt, wie er die strengen Aufseher bestochen hat und so ein verbotenes Foto von den Tanzenden heimbringt.

Der dunkle Weg zum Abendessen ist links und rechts immer mal wieder mit einem kleinen Lämpchen beleuchtet. Die nassen Blätter der Palmen und Bananenstauden glänzen im wenigen Licht. Mich an der Pracht dieses wilden Dschungelgartens zu erfreuen, muss ich auf morgen verschieben.

Das Restaurant ist ein offener, mit Bananenblättern gedeckter Raum. Außer ein paar scheuen Jugendlichen, die zum Haus gehören, ist niemand da. Wir fragen einen von ihnen, was es zu essen gibt, und einer der Jungen bringt uns die Karte, die wir eingehend studieren und dann unsere Bestellung aufgeben wollen. Wir deuten auf ein paar Gerichte, eins nach dem anderen, das ist aber heute nicht da. Letztlich – keines ist da. Was ist da? Reis.

Also zwei Teller Reis mit jeweils drei Erbsen. Alles ist in Ordnung. Es zieht in diesem offenen Gebäude aus Bambusstreben und Palmendach. Normalerweise ist es ja heiß hier. Ich friere schon wieder.

Und in der Nacht ist es dann tatsächlich heiß und schwül. Ich huste unaufhörlich.

Die Stimmen der Tiere ziehen durch die Nacht. Ein ferner Elefant grüßt mit seinen sanften Füßen.

Am Morgen beim Frühstück storniere ich mit meinem kleinen Gerätchen unser einfaches Hotel in Flughafennähe und miete uns in ein edles Hotel am Strand nördlich von Colombo am Indischen Ozean inklusive Flughafentransfer ein. So kurzfristig gebucht, rattern die Sonderangebote nur so übers Display. Moderne Zeiten.

Bevor Raji uns dorthin bringt, hat er noch einen letzten Programm-Höhepunkt, den Höhlentempel von Dambulla. Ich bin noch gar nicht wieder aufnahmefähig, bin noch so erfüllt und durchsichtig, möchte noch mit den Eindrücken und Erfahrungen von gestern in ihrer Reinheit und ihrem Licht schwingen.

Und – ich halte mich offen, für das, was geschieht. Der Weg ist nicht weit bis zu den dunklen Höhlen mit Blumen der Betenden in den Händen, vor den Füßen der unzähligen stehenden, liegenden, sitzenden Buddhas in Räumen voller Wandmalereien an Decken und Wänden.

In mir bleibt eine gewisse leere Distanz, und das liegt gewiss nicht am Tempel.

Munter werde ich wieder, als mir ein junger, Robe tragender, schelmischer Mönch erzählt, dass Ende der neunziger Jahre ein Mönch hier in eine fünfzehnhundert Jahre währende Geschichte einbrach und zweiundzwanzig Frauen zu Nonnen weihte, obwohl der Buddhismus in Sri Lanka keine Frauenordination vorsieht. Bis ein Mutiger kommt und es sich anders einfallen lässt …

Auf dem offenen Vorplatz vor den kreuzgangähnlichen Eingängen zu den einzelnen Höhlen sitze ich noch eine Weile auf einem Mäuerchen im Duft von Jasmin, dessen Blüten hier den Göttern gereicht werden, und bin still im weiten, letzten Blick über die Ebene Sri Lankas.

Raji schenkt uns zum Abschied noch eine Tüte mit vier Mangos – im genau richtigen Reifegrad, um sie gleich zu essen, meint er.

Thomas Merton stand in einer heißen Nacht in Colombo am Strand, warme Wellen vor ihm leuchten unter dem Mond, und er erlebt ein neues, fremdartiges Gefühl hier draußen – nach Westen nichts bis Afrika. Und dort, nach Süden, nichts bis zur Antarktis. Wenn er hier war, ging er abends manchmal ins Galle-Face-Hotel und nahm einen Drink – ich trank Rum, der hier hergestellt wird, nicht ohne ein tiefes Gefühl von ‚Respekt vor dem Hotel‘ zu haben. Ein paar Tage später setzte er seine Asienreise fort und eine Woche später hielt er, schon in Bangkok, auf jenem großen Kongress, seinen Vortrag Marxismus und Perspektiven des Mönchtums. Neben dem politischen Aspekt teilt er – mehr oder weniger direkt – auch Aspekte seines Klosterlebens und meint, es ginge nicht um die Regeln, sondern um etwas Tieferes, die völlige innere Umgestaltung, die Offenheit für die schmerzliche Mühsal des inneren Sich-Wandelns. Wie immer spricht er ruhig, im offenen Geist und humorvoll. Er weiß, aus welcher Quelle Freude entspringt.

Es ist das einzige Mal, dass eine Rede von ihm gefilmt wurde. Er beendete sein Sprechen am Pult mit Ich verschwinde jetzt.

Geht in sein Zimmer, duscht und stirbt an einem Stromschlag. Eine Woche nach seiner Erfahrung in Polonnaruva.

Großer, tiefer Frieden stand in seinem Gesicht.

Das Galle-Face-Hotel muss so etwas wie unseres jetzt gewesen sein, nur viel größer und damals noch mit dem verblichenen Charme der Kolonialzeit. Wir sind in einem moderneren gelandet, das uns zwei Heruntergekommenen mit elegantem Glanz aus Spiegeln und Marmor empfängt.

Mir fällt der Künstler ein, den Merton in Kalkutta getroffen hatte und der meinte, jeder, der mein Haus betritt, bringt Gott herein.

So abgerissen, müde und hungrig wie ich bin, so unbewusst und ohne Liebe wie ich oft bin – bringe ich in diesen Luxustempel auch Gott herein? Daran habe ich noch nie gedacht. Ich sitze in vielen Foyers und sehe Gott hereinkommen, in unzählbarer, ungetrennter Vielfalt aus dem Meer unendlicher Möglichkeiten.

Ein Philosophieprofessor in Neu-Delhi hat einmal in einem Gespräch mit Merton einen alten, weisen Sufi zitiert: Zu sagen, ich sei Gott, ist nicht Stolz, sondern vollendete Bescheidenheit.

jerusalem
dorf des friedens

UND WIEDER SITZE ICH IN EINER LOBBY, der weiten Lobby eines Jerusalemer Pilgerhauses der französischen Assumptio- nisten, eines Männerordens, der den Regeln des Augustinus nachfolgt und dessen Anliegen heute ist, Christen der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen zusammenzubringen. Sie haben dieses riesige Areal zu einem wunderbaren Hotel direkt vor dem New Gate zur Altstadt Jerusalems ausgebaut. Es ist der Königin des Friedens gewidmet. Mein Zimmer ist in einer Mischung aus venezianischen und altarabischen Möbeln eingerichtet, an zwei Seiten des Raums sind Rundbögen wie in der Kathedrale von Cordoba. Oben, auf der Dachterrasse mit Blick über die abendliche Altstadt, wirft sich ein leidenschaftlicher Koch in seinem Front-Cooking ins offene Feuer, und wenn man leichtsinnig ist, schaut man vorher besser nicht auf die Preise.

Es mischen sich die christlichen Pilger aus aller Welt, die natürlich um diese weihnachtliche Zeit fast das ganze Haus füllen, mit interessierten Besuchern Jerusalems und einer freien Pilgerin.

Hier in der Lobby, wie im christlichen Viertel der Stadt, übertreffen sich die Christbäume mit flackernden und blinkenden Lämpchen und Krippen. Hier im Haus legte sich das Kindlein erst während der heiligwerdenden Nacht in sein Stroh. Noch weilt sein Blick in einer anderen Welt. Aber es blinkt, umgeben von kleinen Lämpchen, wie Maria und die Schäfchen auf den Weiden.

Ich habe so eine grundlose Freude, hier zu sitzen mit den Menschen, die zur Tür hereinkommen, zögernd, flotten Schrittes, mit leeren Händen, vollbepackt, sich sammelnd, wieder hinausgehend – und irgendeine rennt immer …

Jeder, der mein Haus betritt, bringt Gott herein.

Eine eilige Japanerin mit dem unwiderstehlichen, offenen Lächeln dieser Frauen aus dem fernen Land läuft an mir vorbei und ruft »Merry Christmas.« Ich traf sie schon beim Frühstück, als wir mit den Sprachen und Hautfarben der Welt am Büfett standen, mit Nonnen aus China, Priestern aus Spanien, Chören aus den USA und dazwischen all die Einzelreisenden – auch aus aller Welt.

Gestern war Heiligabend.

Ganz früh am Morgen mache ich mich auf den Weg zur Klagemauer, zur Westmauer, wie die Israelis sagen. Das Tor direkt gegenüber meines Hotels führt mich ins Christliche Viertel der Stadt, von dort aus ins Aramäische und als die blinkenden Christbäume abrupt enden, lande ich im arabischen Teil und verlaufe mich heillos. Die Stadt ist noch leer, kaum ein Mensch ist auf der Straße, die Basarbuden sind mit hölzernen Läden verriegelt, in der Via Dolorosa, in der ich schließlich als Orientierungspunkt lande, hängen die großen Holzkreuze einsam an den Mauern. Sie sind zu kaufen. Von arabischen Handwerkern gehobelt.

Der Platz vor der uralten Mauer, ein Mauerteil, das dem Allerheiligsten des Tempels am nächsten liegt, ist weit und offen. Ich setze mich etwas oberhalb auf eine der breiten Steinstufen und schließe meine Augen, um erst einmal diesen Ort zu spüren. Der Wind ist eisig unter einem kristallenen Himmel.

Am Ende der Treppen zum Vorplatz hinunter muss ich wegen der Taschenkontrollen etwas warten, um mich ihr zu nähern. Trotz der Kontrolleure mit ihren scharfen, wachenden Blicken, die die Mauer umgeben, heißt sie alle willkommen, nicht nur Menschen bestimmten Glaubens. Wahrscheinlich ist sie zu alt dafür, um in so enge Grenzen zu fallen. Ich gehe nach rechts auf die Frauenseite und im Mich-Nähern ergreifen mich die Schwingungen dieses uralten Bodens im ganzen Körper.

Meine Hand trifft die von der ersten Sonne gewärmten Steine, vorsichtig und zärtlich. Es sind die Gebete seit Jahrtausenden, die in sie fallen und sie an ihre Heiligkeit erinnern.

Ich trete noch einen Schritt näher, lehne meinen Kopf an sie. Sie duftet süß, wie ein Neugeborenes. Ihr innerer Geist, gesammelt in all dieser Inbrunst, wie ich sie links und rechts von mir erlebe, fließt in mein offenes Herz und lässt es schwingen in der Erinnerung an das, wie ich gemeint bin.

 

Ich höre die Äonen der Evolution die Steine durchdringen, in jedem Impuls verborgenes Licht aus Essenz von Leben. Als wäre ich selbst die Mauer.

Ohne mich umzudrehen, wie es Sitte ist, trete ich zurück mit zitternden Knien und stolpere über einen dieser weißen, weltweiten Plastikstühle, falle förmlich in ihn und sehe nur noch die Mauer. Und nehme von außen wahr. Die Farbe und den Glanz der Steine, all die Zettel zwischen den Ritzen, die Suche danach, noch eine Rille für sie zu finden, was nicht immer gelingt, weshalb der Boden vor dem alten Wall aus Steinen davon übersät ist. Und alle treten auf diese geschriebenen Wünsche an Gott. Mögen sie schon erfüllt sein. Zweimal im Jahr werden die Papierchen in mühseliger Arbeit aus den Ritzen gekratzt – mit im Ritualbad gereinigten Stöcken. Ich schiebe achtsam die heruntergefallenen Gebete unter meinen Füßen auf dem uralten Boden zur Seite und sitze in meinem wackligen Plastikstuhl, gelehnt an das Zusammentreffen der größten Träume der Menschen. Mohammed hat auf seinem siebenstufigen Weg auf der Jakobsleiter in die ferne Kultstätte Himmel zusammen mit Moses und Jesus gebetet. Alle, die hier waren und ins Licht traten, hatten diesen einzigartigen Traum, ihr mystisches Feuer mit uns zu teilen. Irgendwie haben wir bis jetzt nicht so genau hingehört.

Ich sitze in diesem großen Strom und lausche.

Mit weichen Knien steige ich die Stufen wieder nach oben in die nun wuselige Stadt, reif für einen Kaffee in der Sonne, eingewickelt in meinen warmen Mantel, mit jungen, alten Menschen, Juden, Christen, alle Nationen, alle Schönheit, alles hat Platz. Und ich habe das Gefühl, dass durch die ständige Bedrohung in diesem Land die Schwingung des Lebens ständig vibriert.

Heiligabend ist vielleicht nicht ganz der rechte Tag, um die Grabeskirche zu besuchen, doch ich stelle jetzt keine großen Betrachtungen über das Einssein von Leben und Tod, oder dass es gar keinen Tod gibt oder Ähnliches an. Sie liegt einfach in der Nähe, und ich habe auch noch nicht ganz herausgefunden, wie ich nach Bethlehem komme. Ich weiß nur, dass es mit einem Mietwagen mit hiesiger Nummer zu gefährlich wäre.

Also schlängle ich mich von meinem Café aus ein Stück durch die jetzt menschenreichste Straße der Welt, die Via Dolorosa, kleine Läden aneinander, über- und untereinander gereiht, mit Dingen, die man nicht braucht. Ich kaufe ein paar Gebetsketten für meine Freundinnen – kann man immer brauchen – und eine Keramikschüssel – »you can put it in machine« – für mich selbst. Mein Widerstand gegenüber Gebet und Keramik ist sehr gering, muss ich eben meine Tasche achtsam tragen. Hat ja auch was, sowohl für die Wachheit an sich als auch den Taschendieben gegenüber.

Der Vorteil des ‚falschen‘ Feiertags für die Grabeskirche gegenüber Ostern ist, dass sich heute keine Priester und Mönche in wahrhaft christlichem Frieden um die ihnen gebührende Ecke des Gebäudes prügeln. Ich kann also dieses dunkle, vielgeteilte Schiff ohne Geschubse und Gestoße betreten und mich erst mal gleich einreihen in die Knieenden vor dem ölglänzenden Salbungsstein.

Mit meiner öligen Hand streiche ich mir einmal durchs Haar und suche dann meinen Weg im Durcheinander dieser dunklen Hallen über dem heiligsten Platz der Christenheit, Golgatha, und dem Heiligen Grab, aufgeteilt in dreißig Kapellen von sieben christlichen Religionsgemeinschaften.

Ich besuche nicht alle, blicke auf den Golgatha-Felsen hinter Glas, reihe mich in die jeweils sieben Wartenden vor der Grabeskappelle ein und die drei vor der Grabeskammer. Alles bestens organisiert. Langsam komme ich an diesem alten, gesegneten Ort an, aus dem eine Kraft machtvoll durch die Füße in mein Herz aufsteigt, kurz unter der Oberfläche eine leichte Unruhe bergend. Und doch tut sich unendlicher Friede auf, auch trotz der ganzen Streitereien um des Meisters willen an diesem Ort. Eingefasst in ein Meer von Kerzenampeln in den Verzierungen der sieben Kulturen. So schön, so dunkel.

Ich finde eine Bank in einem weniger verzierten Seitenraum, um mich einmal zu setzen und meine Augen zu schließen. In meinem Rücken hinter einer geschlossenen Tür singen leicht gedämpft Mönche leise gregorianische Chöre. Ich werde still und erfasse erst in der Stille die Größe und – ja – Heiligkeit dieses Ortes. In wessen Armen liege ich?

Am Abend hat Gott echt gute Laune. Im Restaurant meiner edlen Herberge gibt es ein großes Büfett, die Bedienungen sind bunte Engel mit rot-weißen Zipfelmützen, die in guter Laune zwischen diesen Menschen aus der ganzen Welt herumspringen, zwischendrin ein wildgewordener Weihnachtsmann mit scheppernder Glocke, der Süßigkeiten verteilt, die philippinischen Nonnen kichern sich unter den Tisch, die heiteren japanischen Priester singen Weihnachtschoräle und lieben den Wein. Kitsch macht Freude, weit entfernt von den stillen Winternächten aus den Dornenwäldern, durch die Maria in meiner Heimat ging.

Heute zum Frühstück fliegt der Hotelmanager in seiner Mönchskutte durch den Raum, kommt auch an meinen Tisch und fragt: »Sind Sie glücklich?« Wenn das keine Frage ist am ersten Weihnachtsfeiertag! Ich kann einfach nur »Ja« sagen. So kommen wir ins Gespräch, und ich erzähle ihm, dass ich morgen für eine Woche nach Whahat al-Salam – Neve Shalom fahren würde, um mit Freunden gemeinsam für den Frieden zu beten (so kann man es ja ausdrücken). Er kennt das Projekt, findet es großartig, gibt mir seine Karte und meint, vielleicht könne sich ja einmal jemand von ihnen melden.

Ich trinke meine Tasse Tee aus und denke mir, warum setzt er sich nicht einfach ins Auto, fährt hin und bringt sich selbst. Es war schließlich ein Dominikanerpater, der diesen besonderen Ort dort gegründet hatte.

Als ich dann ein paar Tage später einer der zentralen Frauen im Friedens-Dorf das Kärtchen mit ein paar Worten übergebe, zuckte sie nur höflich mit den Schultern.

Ich habe kein Navi in meinem Leihwagen, als ich gleich nach dem Frühstück aufbreche, um meine alte Freundin Hanna aus London zu besuchen. Sie lebt in einem jener neugebauten Dörfer nah an Jerusalem, die alle gleich aussehen und die Häuser innerhalb des Dorfes auch. Das Dorf habe ich schon gefunden, nur die Straße nicht. So irre ich mit meinem Adresszettel durch die Straßen.

Auf den Gehsteigrändern liegt noch Schnee, riesige Haufen von abgebrochenen Ästen türmen sich auf den Plätzen. Es hatte eine Woche, bevor ich kam, ein fünftägiges Unwetter gegeben. Schneestürme, umgestürzte Telefon- und Strommasten, alles brach zusammen. Und wer kennt schon so viel Schnee in Jerusalem?

Ich irre weiter. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, woher ich kam. Also halte ich an und frage einen Mann, der gerade aus seiner Haustüre tritt, nach der Straße. Er versteht mein Englisch, aber nicht den Straßennamen. Also hole ich den Zettel mit allen Infos meiner Freundin aus dem Auto. Er ist fest davon überzeugt, dass es diese Straße in diesem Ort gar nicht gibt. Er nimmt sein Handy aus der Tasche und tippt die Nummer meiner Freundin von meinem Zettel ab. Sie diskutieren eine ganze Weile. An den Gesten seiner Hände kann ich erkennen, um wie viele Ecken und Kurven der Weg verlaufen würde und mir wird schon etwas bang, ob ich mir das alles merken kann. Aber der Gedanke war zu weit. Zwei Minuten aus dem Vertrauen gefallen. Denn der freundliche Herr öffnet seine Garage: »Follow me«. Und lotst mich. Die Engel sind überall. Keine Sorge. Nicht einen Moment.

Und zwei Freundinnen können nach fast zwanzig Jahren ein Herzensfest feiern. Als wäre nicht ein Jahr vergangen.