Homer und Vergil im Vergleich

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From the series: Classica Monacensia #52
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Wie richtig bemerkt wurde, hat das Gleichnis bei Apollonios weniger die Funktion, Medeas Schönheit zu illustrieren, als den optischen Eindruck ihrer Fahrt durch die Stadt, der bei allen Beobachtern Furcht auslöst, zu vermitteln.16 Doch zeigt sich Apollonios trotz dieser Änderung des Vergleichspunktes bemüht, den formalen Qualitäten seiner Vorlage gerecht zu werden. Die tabellarische Übersicht soll verdeutlichen, welches Gewicht der Alexandriner gerade auf den Aspekt der Detailentsprechung von Bild- und Gleichnisebene legt:


Vers Bildebene Vers Erzählebene
3, 876–877: Diana ist eben dem Bad entstiegen 3, 827ff.: Medea hat kurz zuvor gebadet
3, 878: Diana fährt auf einem (goldenen) Wagen 3, 841; 3, 843; 3, 869–875: Medea fährt auf einem Wagen
3, 879: Jagdtiere ziehen Dianas Wagen 3, 838–840: Maultiere ziehen Medeas Wagen
3, 880: Dianas Fahrtziel: Kultstätte, um ein Hundertopfer entgegenzunehmen 3, 842: Medeas Fahrtziel: Kultstätte der Hekate
3, 881–883a: Nymphen bilden das Gefolge Dianas 3, 838–840; 3, 870–875: zwölf Mägde bilden Medeas Gefolge
3, 883b–884: Furcht der Tiere vor Diana 3, 885b–886: Furcht der begegnenden Menschen vor Medea

Diese beinahe pedantische Zuordnung der Details stellt einen poetischen Überbietungsgestus dar.17 Vor der Folie eines solchen Optimierungsversuchs durch Apollonios wird auch erst deutlich, dass sich Homer außer der bereits genannten fehlenden Entsprechung zur Freude Letos noch zwei weitere Abweichungen zwischen Bild- und Erzählebene erlaubt:


Vers Bildebene Vers Erzählebene
Od. 6, 102: Diana geht zu Fuß Od. 6, 110–111a: Nausikaa fährt auf dem Wagen
Od. 6, 104: Freude Dianas an den Jagdtieren --- – ohne konkrete Entsprechung –

Insbesondere die neue Rolle, die die Jagdtiere in Apoll. Rhod. 3, 879 spielen18 – Apollonios lässt die Hunde, die bei Homer ohne rechte Entsprechung aus Gründen der poetischen Ausschmückung erwähnt werden, Dianas Wagen ziehen und verweist damit auf die Maultiere, die Medeas Wagen ziehen –, deckt die Absichten des hellenistischen Homernachfolgers auf: Apollonios wollte Homer an Stellen, die man unter dem Maßstab möglichst umfassender Detailzuordnung als fehlerhaft ansehen konnte, verbessern. Dabei muss man natürlich nicht annehmen, dass die entsprechenden Passagen in Homers Artemisgleichnis tatsächlich Gegenstand der Homerkritik gewesen waren. Auch wenn das Gleichnis – wie von dem oben zitierten anonymen Scholiasten – wegen seiner Detailentsprechung im Allgemeinen gelobt wurde, so konnte ein ambitionierter Dichter wie Apollonios gerade von diesem Umstand zum Wettstreit mit Homer animiert werden, indem er nämlich genau diejenige Qualität noch steigerte, die man an Homer positiv herausgestellt hatte.19

Man kann daraus nun die Folgerung ableiten, dass es für Vergil nach dem Vorgang des Apollonios nicht mehr interessant war, Homer auf dem Felde der Proprietät übertreffen zu wollen.20 Servius formuliert genau diesen Zusammenhang in seinem Kommentar zum Dianagleichnis in der etwas simplen allgemeinen Regel, dass es eben Gleichnisse verschiedenen Typs gebe: Die einen seien in allen, die anderen nur in einer bestimmten Beziehung mit der epischen Wirklichkeit verbunden.

stipante caterva] ad hoc tantum sequens pertinet comparatio, quam vituperant multi, nescientes exempla vel parabolas vel conparationes adsumptas non semper usquequaque congruere, sed interdum omni parte, interdum aliqua convenire. (Serv. ad Aen. 1, 497 = I 156, 11–15 Thilo-Hagen)21

exercet Diana choros] hoc non ad conparationem pertinet, sed est poeticae descriptionis evagatio, quia chori nec personis hic nec locis congruunt; saltantium enim et cantantium dicuntur. ([D]Serv. ad Aen. 1, 499 = I 156, 19–21 Thilo-Hagen)

Der Vergleichspunkt, auf den es Vergil demnach ankam, ist Dianas bzw. Didos Schönheit, d.h. der optische Eindruck einer Person, die von anderen Personen umgeben ist und unter diesen hervorsticht. Die übrigen Elemente der Schilderung werden als poeticae descriptionis evagatio, also als „dichterische Abschweifung“, abgetan. Auch bei Homer hatte das Artemisgleichnis die Funktion, den Aspekt der Schönheit der Artemis bzw. Nausikaa zu verdeutlichen – Vergil und Homer zielen also auf denselben Vergleichspunkt ab. Technisch ergeben sich Unterschiede: Homer stattet sein Gleichnis mit zahlreichen Details aus, die direkte Korrelate auf der Erzählebene haben, Vergil – wie ausgeführt – nicht. Umgekehrt verhalten sich die Dinge, wenn man Homer und Apollonios vergleicht: Apollonios wählt einen anderen Vergleichspunkt – wichtig ist bei ihm der Anblick einer Frau, die inmitten eines zahlreichen Gefolges auf einem Wagen fährt –, wendet aber dieselbe Technik wie Homer – die detaillierte Zuordnung der Einzeldetails – in beinahe übersteigerter Fom an. Vergil wählt also die Gestaltungsoption, gegen die sich Apollonios entschieden hat. Probus klammert das Zwischenglied Apollonios bei seiner Bewertung aus, legt allein den Maßstab homerischer Detailentsprechung an und kommt damit zu einem für Vergil negativen Ergebnis.22

Zum zweiten Kritikpunkt: Wenn Probus in 9, 9, 15a an Vergil tadelt, er hätte das Jagdvergnügen der Diana nur durch eine Andeutung bezeichnet, womit zudem auf eine der Göttin unwürdige Tätigkeit – das Tragen eines Köchers – hingewiesen werde, verbinden sich darin zwei Vorwürfe, nämlich der formale der Undeutlichkeit und der inhaltliche der Unschicklichkeit.23 Auch hier ist die Rezeptionsgeschichte des homerischen Artemisgleichnisses zu berücksichtigen, um die Prinzipien von Vergils Umgestaltung nachzuvollziehen.

Insbesondere ein Passus im Stiltraktat des Demetrios ist dabei von Relevanz. Demetrios zitiert Abschnitte aus Homers Gleichnis an prominenter Stelle, nämlich am Beginn seiner Ausführungen über den eleganten Stil (γλαφυρὸς λόγος).24Demetrioseloc. 128 Homers Verse werden hier als Musterbeispiele für diese besondere Stilkategorie angeführt, die sich durch Anmut und Heiterkeit auszeichnet (χαριεντισμὸς καὶ ἱλαρὸς λόγος). Prosaautoren und Dichter erreichen χάρις nach Demetrios auf je eigene Weise, da es den ersteren erlaubt sei, Scherz- und Spottworte zu verwenden, während anmutige Wirkungen in der Dichtung durch erhabenere Mittel erreicht werden sollen.25 Als Beispiel für diese σεμναὶ χάριτες καὶ μεγάλαι zitiert Demetrios eben jene Verse aus dem Artemisgleichnis, und es ist denkbar, dass die Verse nicht nur bei ihm als Musterbeispiele für diese besondere Stilart herangezogen wurden. Probus gibt nun schon mit seiner Wortwahl – wenn er die homerischen Verse nämlich als versus amoenissimi bezeichnet und damit beiläufig in die Kategorie des γλαφυρὸς λόγος einordnet – zu erkennen, dass er mit seiner Einschätzung an diese oder eine vergleichbare stilistische Bewertung der Homerverse anschließt.26 Interessant ist nun, dass Demetrios als die erste Quelle (τόπος) der Anmut (χάρις) im Bereich der sprachlichen Gestaltung (λέξις und σύνθεσις)27 eine Darstellungsform nennt, die ihren Gegenstand nur andeutungsweise bezeichnet: Εὐθὺς οὖν πρώτη ἐστὶ χάρις ἡ ἐκ συντομίας, ὅταν τὸ αὐτὸ μηκυνόμενον ἄχαρι γένηται, ὑπὸ δὲ τάχους χάριεν …28Demetrioseloc. 137 Insbesondere wenn durch einen Satz zwei Gedanken ausgedrückt werden, entstehe das γλαφυρόν (Demetr. eloc. 138 = 32, 19–25 Radermacher):Demetrioseloc. 138 Πολλάκις δὲ καὶ δύο φράζεται δι’ ἑνὸς πρὸς τὸ χάριεν, οἷον ἐπὶ τῆς Ἀμαζόνος καθευδούσης ἔφη τις, ὅτι τὸ τόξον ἐντεταμένον ἔκειτο, καὶ ἡ φαρέτρα πλήρης, τὸ γέρρον ὑπὸ τῇ κεφαλῇ· τοὺς δὲ ζωστῆρας οὐ λύονται. ἐν γὰρ τούτῳ καὶ ὁ νόμος εἴρηται ὁ περὶ τοῦ ζωστῆρος, καὶ ὅτι οὐκ ἔλυσε τὸν ζωστῆρα, τὰ δύο πράγματα διὰ μιᾶς ἑρμηνείας. καὶ ἀπὸ τῆς συντομίας ταύτης γλαφυρόν τί ἐστι. („Oftmals werden aber auch zwei Gedanken in Einem ausgesprochen und rufen einen anmutigen Eindruck hervor, so wie einer einmal über eine schlafende Amazone gesagt hat: ‘Der Bogen lag angespannt da, ihr Köcher gefüllt, ihr Schild nahe ihrem Kopf; die Gürtel lösen sie nie.’ Mit einem einzigen Satz wird sowohl der Brauch, der den Gürtel betrifft, ausgedrückt, und dass sie ihren Gürtel nicht gelöst hat – zwei Dinge durch einen Ausdruck. Und aus dieser Kürze resultiert eine gewisse Feinheit.“)

 

Damit ist genau der Fall umschrieben, den Probus bei Vergil zwar erkannt, aber nicht in diesem Sinne würdigt (9, 9, 15: Homerus … honeste aperteque dicit, Vergilius autem … pharetram tantum facit eam ferre in humero …).29 Daraus kann man ableiten, dass Vergil den Beispielwert der Homerstelle für die rhetorische Theorie von der eleganten Stilart gekannt hat und durch eine subtile Änderung seiner Vorlage im Sinne der entsprechenden Vorgaben Homer übertreffen, d.h. eine „Verbesserung“ vornehmen wollte.30 Wenn Vergils Motivation in dieser Weise zu rekonstruieren ist, so trifft ihn auch der Vorwurf einer unschicklichen Götterdarstellung nicht mehr in dieser Härte:31 Das konkrete Detail, also das Tragen des Köchers, soll die Göttin nicht in einer ihr unwürdigen Situation zeigen, sondern hat die Funktion, das eigentlich Gemeinte in leicht verschlüsselter Form ausdrücken, um so beim Leser im Sinne des Demetrios den Eindruck der Anmut hervorzurufen.

Der dritte Gesichtspunkt betrifft Unterschiede in der Darstellung der mütterlichen Freude Letos bzw. Latonas, also den Bereich der Affektdarstellung. Probus wirft Vergil vor, die echte und tief empfundene Freude der homerischen Leto (gaudium … genuinum et intimum atque in ipso penetrali cordis et animae vigens) verfälscht zu haben, wenn er Latona eine „träge, leichte, zögerliche und gleichsam nur oberflächlich die Brust berührende Freude“ (gaudia … pigra et levia et cunctantia et quasi in summo pectore supernantia) beigibt, wobei er sich, dem Referat des Gellius nach zu urteilen, insbesondere an der Wahl der Vokabel pertemptare stößt. Was die Stichhaltigkeit der vorgebrachten Punkte betrifft, so muss Probus – wie schon in der Antike bemerkt – vor allem entgegengehalten werden, dass Vergil die Intensität des mütterlichen Gefühls sehr wohl betont, indem er das Adjektiv tacitum zu pectus setzt:

tacitum] maior enim est taciturnitatis adfectus, ut supra <Aen. 1, 37> ‘haec secum’. sic Terentius <Ter. Hec. 107> ‘ut mecum tacita gaudeam’. tacitum] pro tacite, ut <Aen. 7, 343> ‘tacitumque obsedit limen Amatae’; aut tacita gaudet. ([D]Serv. ad Aen. 1, 502 = I 157, 1–4 Thilo-Hagen)

Servius verbindet Vergils Darstellung hier mit einen bestimmten affekttheoretischen Ansatz, demzufolge ein Gefühl so groß sein kann, dass es mit Worten nicht mehr geäußert werden kann und in Schweigen resultiert – und antwortet damit wohl auf die von Probus vorgebrachte Kritik.32

Doch liefert auch Homer selbst Anhaltspunkte, die Vergils Änderung erklären können. Der Hinweis auf Emotionen ist in den homerischen Epen nämlich in fast topischer Weise an bestimmte Situationen geknüpft. Stille, innerliche Freude ἐν(ὶ) θυμῷ tritt hier insbesondere zwischen Gastfreunden33, in Vater-Sohn-Beziehungen34 und bei besonderen Gelegenheiten, wenn sich etwa ein König an der friedlichen Arbeit seiner Untertanen freut35, auf. Alle diese Situationen und Verhältnisse sind typische Friedensszenen.36 Auch bei der Ankunft des Aeneas in Karthago soll der Friedensaspekt unterstrichen werden: Indem Vergil mit tacitum pertemptant gaudia pectus auf einen spezifischen, bei Homer beinahe exklusiv vom Friedenskontext determinierten Emotionstypus zurückgreift, signalisiert er dem homerkundigen Leser, welche Rolle das karthagische Asyl nun nach dem stürmischen Beginn des Epos für Aeneas und seine Gefährten spielt.37 Die Detailänderung, die auf den spezifischen Gefühlskodex der homerischen Epen zurückgreift, stellt den friedlichen Charakter der Szenerie damit also noch einmal zugespitzt heraus.

Es liegt also eine bewusste Weiterführung und Nuancierung der homerischen Situation vor, die Probus außerdem ignoriert, wenn er die Bedeutung der Vokabel pertemptare missversteht. Wieder können wir zur Erläuterung auf die antiken philologischen Diskussionen verweisen: Nach Servius kann die Vokabel nämlich in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet werden.

… pertemptant] modo vehementer temptant. alibi leviter, ut <Aen. 5, 827> ‘blanda vicissim gaudia pertemptant mentem’. sunt enim multa quae pro locis intelleguntur, ut ‘inpotens’ et satis et minus et nihil potens significat. (Serv. ad Aen. 1, 502 = I 157, 4–7 Thilo-Hagen)

Wie der Kommentator zurecht feststellt, sind die Einlassungen des Probus zur Semantik von pertemptare haltlos:38 Bei Vergil findet sich das Wort sogar ausschließlich in der von Servius spezifizierten Bedeutung „heftig berühren“.39 In Aen. 1, 502 passt das zu der von Servius zuvor erläuterten Vorstellung von der Vehemenz der unausgesprochenen Gefühle Latonas.

Der letzte Gesichtspunkt beinhaltet den Vorwurf des Probus, dass Vergil den „schönsten Vers“ (flos) aus Homers Artemisgleichnis bei seiner Übertragung nur verkürzt wiedergegeben habe.40 Wie bereits angedeutet, hatte sich im Zusammenhang mit der Erwähnung der Λητώ in Od. 6, 106b eine gelehrte Kontroverse entsponnen, in die auch Vergils Änderung einzuordnen ist.

Nach Megakleides, dem Homerkritiker des 4. Jhdt. v. Chr., ist der Halbvers Od. 6, 106b (γέγηθε δέ τε φρένα Λητώ) zu tilgen und der Vers mit den Worten ἀνὰ δρία παιπαλόεντα zu schließen (s.o.).41 Bei Od. 6, 106b handelt es sich nämlich – so ist sinngemäß zu ergänzen – um eine typische epische Klausel, wie sie Homer an ähnlichen Stellen benutzt, um den Bildteil seiner Gleichnisse zu beschließen, der Halbvers passt aber nach Ansicht der Kritiker an dieser Stelle gerade nicht.42 Ob Megakleides die beiden nachfolgenden Verse athetiert hat43 oder sie durch seine Textänderung in Od. 6, 106b verteidigen wollte, ist heute zwar nicht mehr zu entscheiden – die zweite Alternative ist freilich wahrscheinlicher. Das Scholion lässt aber grundsätzlich den Schluss zu, dass die fraglichen Verse hinsichtlich ihrer Echtheit umstritten waren. Die vermutete nachträgliche Interpolation von Od. 6, 107–108 würde sich demnach folgendermaßen erklären: Man hatte nicht mehr verstanden, dass die überragende Schönheit der Artemis – das tertium comparationis44 – schon indirekt durch die Zusammenstellung mit den Nymphen (Od. 6, 105–106a) ausgedrückt ist, und deshalb die beiden erklärenden Verse nachgeschoben.45

Vergil gibt in seiner Übertragung zu erkennen, dass er ebenfalls Anstoß an den unter dieser Perspektive überflüssig erscheinenden Versen Od. 6, 107–108 genommen hat, wenn er sie nämlich in seiner Umgestaltung des Gleichnisses an der betreffenden Stelle übergeht bzw. in Aen. 1, 502 (gradiensque deas supereminet omnis) vor dem Schlusssatz komprimiert wiedergibt. In Vergils Version umfasst das Gleichnis genau fünf Verse, schließt formal „regulär“ mit dem Hinweis auf die freudige Beobachterin und macht zudem noch explizit, was man aus Od. 6, 105–106a nur erschließen konnte und was die aus Sicht mancher Kritiker interpolierten Verse Od. 6, 107–108 ausdrücklich sagen, nämlich dass Diana bzw. Artemis aus der Schar der sie umgebenden Göttinnen hervorragt. Folgt man der Annahme einer Interpolation, so hätte es der lateinische Epiker also fertiggebracht, alle wesentlichen inhaltlichen Elemente, die Homer in seinem Gleichnis beschrieben und die seine Interpolatoren verdeutlichend hinzugefügt haben, auf demselben Raum, den Homer ursprünglich benötigt hatte – fünf Verse –, zu kombinieren. (Die Schönheit der umgebenden Nymphen lässt er mit Blick auf die epische Wirklichkeitsebene unerwähnt: Dido ist ja von jungen Männern umgeben, eine Übertragung von Od. 6, 108b [καλαὶ δέ τε πᾶσαι] hätte sich an dieser Stelle seltsam ausgenommen.)

Wie ist dieser Befund aber nun insgesamt zu deuten? Probus macht als Kritiker in Gell. 9, 9, 12–17 eine schlechte Figur, wie auch der zeitgenössische Leser mit einiger Kenntnis der griechischen Literatur und der zugehörigen philologischen Kontroversen erkennen konnte. Gellius verzichtet auffallenderweise darauf, die angestellte Kritik einzuordnen bzw. zu bewerten. In krassem Widerspruch stehen die Ausstellungen des Probus zu der einleitend von Gellius getroffenen Feststellung, dass Änderungen von dichterischen Vorlagen gelegentlich sogar notwendig sein können. Gerade auf Vergils Fertigkeit in diesem Bereich wird in 9, 9, 3 eigens hingewiesen: Scite ergo et considerate Vergilius … partem reliquit, alia expressit. Das Ausbleiben einer kritischen Einordnung des paradoxen Probusreferats ist daher so zu erklären, dass Gellius nach den Musterbeispielen für freiere Übertragung in 9, 9, 4–11 ein Beispiel für unangemessene Vergilkritik zitieren wollte, die das vorangestellte ästhetische Prinzip missachtet, das poetische Modell als Maß aller Dinge nimmt und Änderungen an der Vorlage ohne Rücksicht auf die neuen Bedingungen der imitatio prinzipiell verurteilt. Das Verfahren ist induktiv: Der philologisch versierte Leser soll selbst die Aporien der Probuskritik erkennen und – nach der Propädeutik der einleitenden Eklogenbeispiele – in ein kritisches Verhältnis zu den kommentarlos referierten Beanstandungen des Kritikers treten.

4.4 Zusammenfassung

Die Zielsetzung der Noctes Atticae wird in der Vorrede des Werks mit einer rhetorischen Bildungskonzeption bestimmt, die im Ideal des vir civiliter eruditus zwei Aspekte akzentuiert: Die interpersonelle Komponente, die soziale Anerkennung an den Faktor Bildung knüpft, und den enzyklopädischen Anspruch, der eine Vielzahl relevanter Disziplinen einschließt. Aus dieser thematischen Vielzahl und dem gleichzeitig erklärten Bemühen nach Beschränkung in Auswahl und Umfang resultiert der exemplarische Charakter der einzelnen Kapitel: Sie stehen stellvertretend für disziplinäre Teilbereiche und sollen entweder zu weiteren Studien anregen oder wenigstens einen Teil der Wissenslücken schließen, die sonst zur sozialen Exklusion des Ungebildeten führen. Die grammatischen Kapitel, die einen wesentlichen Anteil der 398 Teilstücke des Werks bilden und zu denen auch die literaturkritischen Abschnitte rechnen, sind demnach einerseits eingebunden in eine umfassendere Bildungskonzeption, geben andererseits aber auch konkret nützliches Wissen an die Hand, wie es in einer Bildungskultur wie derjenigen des 2. Jhdt. n. Chr. gebraucht wurde. (→ Kap. 4.1.1)

Das gilt zumal für die Literaturvergleiche, die demnach als Modellfälle einer kulturellen Praxis – nämlich des synkritischen Lesens, wie es Gellius etwa in Gastmahlszenen auch in seiner sozialen Situierung präsentiert – Handlungswissen im dargelegten Sinne vermitteln sollen. Dabei ergibt sich auf dem Felde des Literaturvergleichs eine erhebliche formale Varianz, innerhalb derer die synkritische Textanalyse nur einen Teilbereich besetzt. (→ Kap. 4.1.2)

Dem exemplarischen Charakter der Einzelkapitel entsprechend sind es dann auch zwei Hauptthemen des Homer-Vergil-Komplexes, die Gellius in den beiden Abschnitten, die er dieser Fragestellung widmet, in den Vordergrund rückt. In Gell. 13, 27 ist es die kanonische Stellung Vergils, die durch die Wahl der beiden zeitlich extrem auseinanderliegenden Bezugsgrößen Homer und Parthenios schlaglichtartig profiliert werden soll. Die gewählten Beispiele werden aber auch als – in der zeitgenössischen literaturkritischen Diskussion ähnlich bewertete – stilistische Extreme kontrastiert: Homers Einfachheit steht der neoterischen bzw. kallimacheischen Feinheit in der Ausarbeitung bei Parthenios gegenüber, die Vergil wohl erreicht, während er den Anspruch des homerischen Modells jedoch nicht zu erfüllen vermag. (→ Kap. 4.2)

In Gell. 9, 9 soll Vergils Stellung als prototypischer Verteter der ars imitandi belegt werden; im zweiten Teil des Kapitels steht die stilistische Einzelkritik vergilischer und homerischer Gleichnisse im Zentrum. Die einleitende Behauptung über Vergils Vorrang auf diesem Gebiet wird anhand einiger zustimmend bewerteter Beispielpaare demonstriert. Eher unverbunden schließt sich daran das Referat über die Beurteilung des Auftrittsgleichnisses der Dido durch den Grammatiker Probus an, wobei sich Gellius einer expliziten Stellungnahme enthält. Die von Probus geltend gemachten Kritikpunkte erweisen sich bei näherer Prüfung als wenig stichhaltig, wie sich – in Ergänzung zur jüngeren philologischen Kritik und in Relativierung von probusfreundlichen Positionen, die ein modernes Vergilverständnis zugrundelegen – auch vor dem Verständnishorizont der antiken Philologie zeigen lässt, wenn man nämlich die Wirkungsgeschichte des homerischen Modells und die Interpretationen der Vergilphilologen mit den Einschätzungen des Probus vergleicht. Probus verfehlt demnach die Intentionen Vergils, wie der zeitgenössische Leser wohl verstehen konnte. Das Ausbleiben einer einordnenden Bewertung durch Gellius ist folglich aus einer induktiv-didaktischen Strategie heraus zu verstehen, wie sich aus dem argumentativen Zusammenhang des ganzen Kapitels ergibt. (→ Kap. 4.3)

 
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