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Startschuss für die digitale Reise

Um zu verstehen, wie Klöckner in den vergangenen Jahren die Digitalisierung in so beispielloser Weise vorangetrieben hat, muss man sich zunächst die ersten Gehversuche anschauen: 2014 traf Rühl die Entscheidung, den Stahl zukünftig digital und effizient zu verkaufen. Zur gleichen Zeit kreuzten sich unsere Wege, denn etventure identifiziert, entwickelt und testet seit zehn Jahren branchenübergreifend digitale Geschäftsansätze. Wir haben nicht nur eigene Start-ups gegründet, sondern sind auch darauf spezialisiert, Unternehmen bei der digitalen Transformation zu begleiten.

Als Gisbert Rühl unser Office in Berlin betrat, spürten wir alle schnell, dass wir es mit einem CEO zu tun hatten, der den Wandel in seinem Unternehmen konsequent vorantreiben wollte. Zu unserer Arbeitsweise gehört nicht, Digital-strategien herunterzubeten. Stattdessen schauten wir uns bei Klöckner zunächst an, mit welchen Herausforderungen die Klöckner-Kundinnen zu kämpfen hatten und wo ihre Schmerzpunkte im Bestellprozess lagen. Deshalb sah Gisbert Rühl bei unserem ersten Meeting auch lauter gelbe Post-its mit unterschiedlichen Statements seiner Kundinnen an den Wänden. Von dieser Herangehensweise derart begeistert, wollte er diese Schmerzpunkte sofort und schnell lösen. Der Startschuss für die digitale Reise von KlöCo.

Um gefahrlos experimentieren und vor allem schnell digitalisieren zu können, dabei aber nicht das Kerngeschäft zu gefährden, starteten wir in einem geschützten Raum. Wir bauten mit der Digitaleinheit „kloeckner.i“ in Berlin ein kleines Zukunftslabor auf, in dem „Industrie 4.0“ geprobt und geformt werden konnte. Dabei sollte die Digitaleinheit völlig frei von der Kernorganisation agieren, aber nicht jahrelang entfernt vom Hauptsitz herumexperimentieren können. Wichtig war es, Geschäftsmodelle zu entwickeln, die zügig Schritt für Schritt in die Kernorganisation in Duisburg sowie in die gesamte KlöCo-Welt übertragen werden können. Daher ging es zu Beginn unserer Reise erst einmal auch darum zu klären, wie es Klöckner gelingen kann, die digitalen Schnittstellen zur Kundin aufzubauen, sie an digitale Interaktionen zu gewöhnen sowie Umsatz zu generieren.

kloeckner.i war die Raketenzündung

Damit wir die alltäglichen Schmerzpunkte und Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen und Kundinnen verstehen konnten, führten wir innerhalb von vier Wochen Interviews mit ihnen. Dabei ging es um Antworten auf die Fragen: Was braucht die Kundin vom Stahlhändler? Was lief bisher gut? Was nicht und warum? Und obwohl keine Kundin sich je beklagt hatte, wurde trotzdem schnell deutlich, dass viele den Überblick über laufende Verträge, Verfügbarkeiten und Preisaktualisierungen verloren hatten, da die Kommunikation ausschließlich telefonisch ablief. Einige Kundinnen notierten sich die Erinnerung an eine 300-Tonnen-Stahl-Bestellung daher auf Post-its. Anschließend priorisierten wir die Ergebnisse: Welche Probleme müssen am dringendsten gelöst werden? Welche lassen sich schnell und mit geringem Aufwand lösen?

Weil sich die Arbeitsweise von kloeckner.i stark von der konventionellen Produktentwicklung unterscheidet, konnten wir erste Ideen skizzieren und direkt mit den Kundinnen besprechen, ehe aufwendig entwickelt wurde. Bevor also Geld in Programmierung und Entwicklung floss, hatten wir bereits umfangreiche Kundenfeedbacks. Und statt perfekter Produkte zu entwickeln, hatten wir zunächst Lösungen, die die Minimalanforderungen erfüllten – sogenannte Minimum Viable Products (MVPs). Nach intensiven Kundentests entwickelten wir einfache Prototypen sowie eine schlichte Landingpage ohne Back-End schrittweise zum fertigen Service weiter.

Fail fast, fail cheap!

Entscheidend in dieser Phase war, nicht aufwendige Algorithmen zu programmieren, sondern die Produkte nur mit den allernötigsten Funktionen auszustatten. Daher wurden die Anfragen, die online eingingen, zunächst auch noch händisch von Mitarbeiterinnen bearbeitet. Denn wir wollten herausfinden, ob die Kundinnen diese Lösung überhaupt nutzten. Getreu dem Motto „Fake it until you make it!“ entwickelten wir gemeinsam mit den Kundinnen die Lösung kontinuierlich weiter. So entstanden innerhalb kürzester Zeit drei Services, die die Zusammenarbeit von Klöckner und seinen Kundinnen zukünftig digital erleichtern würden: einfache Verwaltung der Materialzertifikate, ein intelligenter Verspätungsalarm bei unpünktlichen Stahllieferungen sowie die Möglichkeit für Kundinnen, ihre Bestände und Rahmenverträge dank der Schnittstelle zum Klöckner-SAP-System digital zu verwalten und einzusehen. Während Klöckner früher erst einmal eine Systemanalyse gemacht, ein Pflichtenheft geschrieben und monatelang ein Produkt entwickelt hätte, ohne zu wissen, ob das am Ende überhaupt eine Kundin braucht, kam der Konzern jetzt dank der Design-Thinking-Methoden schneller, agiler und fokussierter zu ersten Ergebnissen.

Gebetsmühlenartig bete ich seit Jahren herunter, dass langwierige und nervenaufreibende Prozesse lediglich den „Bewahrerinnen“ im Unternehmen entgegenkommen und ihnen eine scheinbare Sicherheit vorgaukelt. Das aber kostet Unternehmen häufig unnötig viele Jahre und hohe Investitionen. Die aber haben viele nicht mehr, um auf den Digitalisierungszug aufspringen zu können. Die vielen Beispiele, wo über Jahre mit viel Aufwand und externer Hilfe digitale Lösungen entwickelt, aber am Ende nicht von den Kundinnen genutzt wurden, gibt es zuhauf. Daher sollte die Devise lauten: „Fail fast, fail cheap!“

Build-Measure-Learn

Aus dieser Arbeitsweise resultierte für Klöckner ein zweiter großer Erfolg: Nach nur drei Monaten stellte kloeckner.i ein Kontraktportal online, mit dem Kundinnen ihre Stahl-Bestellungen organisieren konnten. Dabei ging es zunächst darum, den bestehenden Umsatz von offline zu online zu verschieben sowie den analogen Kundenstamm zu digitalisieren. So konnten Kundinnen ihre Kontrakte besser nachvollziehen, schnell Anfragen stellen oder Kontrakte erneuern. Die Verhandlungen liefen dabei aber weiterhin über den Vertrieb, lediglich die Abrufe wurden automatisiert. Gleichzeitig wurde auch die Schnittstelle zum Lager automatisiert, damit der Lagerbestand optimiert, bessere Vorhersagen getroffen sowie eine bessere Preisstabilität garantiert werden konnten. Nach positiven Nutzertests folgte die Skalierung und die Kontraktplattform wurde europaweit ausgerollt. Weil die Nutzerbefragung in den USA jedoch ergab, dass diese Zielgruppe eine andere Ansprache benötigte, implementierte Klöckner dort innerhalb weniger Monate einen Part Manager.

In diesem Zuge wurde auch der damalige Webshop auf den Prüfstand gestellt. Klöckner hatte zwei Jahre lang versucht, einen eigenen Shop zu implementieren. Der aber zündete nicht und hatte so gut wie keine Besucherinnen; auch waren die Mitarbeitenden damals noch nicht bereit. So befürchteten die Vertriebsmitarbeiterinnen, ihre Jobs zu verlieren; die Einkäuferinnen, dass der Einkauf zukünftig durch ERP-Systeme automatisiert ablaufen würde. Wir stampften den Shop in der etventure-Manier „Build-Measure-Learn“ ein und setzten ihn neu auf. Dafür nahmen wir nur 20 der 20.000 Produkte in den Shop auf und testeten das System auch nur an 20 Kundinnen. Mit Erfolg! Der Webshop hat sich zu einem Marktplatz entwickelt, auf dem mittlerweile auch elf andere Anbieter ihre Produkte verkaufen.

kloeckner.i steuert und verantwortet

alle digitalen Ideen

Den Webshop wiederzubeleben war eine strategische Entscheidung. Denn damit konnten analoge Umsätze digitalisiert und Kundenschnittstellen gesichert werden. Die Lean-Start-up-Methode ermöglichte auch hier einen schnellen Test sowie eine rasche Umsetzung, statt Kapital oder Mitarbeiterinnen zu investieren. Dafür müssen Unternehmen ihre Produkte und Services allerdings auch auf den Markt bringen, wenn sie noch nicht ganz fertig sind oder nicht einmal existieren. Rühl wurde für seinen Mut mit einem funktionierenden Webshop, der in nur drei Monaten online war, belohnt. Er wurde anschließend schrittweise erweitert und bereits zwei Jahre später in England, den Niederlanden, Frankreich und Österreich live gestellt.

Mittlerweile arbeiten in der Digitaleinheit kloeckner.i rund 90 Entwicklerinnen, Datenanalystinnen, Online-Marketing-Expertinnen sowie Produktmanagerinnen an digitalen Tools und deren Vermarktung. Jede neue digitale Lösung und Idee wird daher auch durch kloeckner.i gesteuert und verantwortet.

Es braucht einen Mindset-Wandel

in Kernorganisationen

„Wenn unsere Vertriebsmitarbeiterinnen und die Einkäuferinnen auf Kundenseite Angst haben, durch online ihre Jobs zu verlieren, können wir den besten Webshop der Welt entwickeln, er wird nicht funktionieren“, sagte Gisbert Rühl in unserem ersten ChangeRider-Interview. Trotzdem ist ihm ein umfassender Kulturwandel gelungen. Weil er mit kleinen Schritten startete und dabei seine Mitarbeiterinnen mitnahm, weiterbildete sowie auf Augenhöhe kommunizierte. Und auch weil er den Wandel von ganz oben antrieb – denn der CEO muss auf dem Driver Seat sitzen.

Weil Mitarbeiterinnen sehr schnell merken, ob man nur Sonntagsreden über die Digitalisierung hält oder ob man es wirklich lebt, hat Rühl die interne Kommunikation auf das soziale Netzwerk Yammer umgestellt, was die Gemüter ebenfalls besänftigte. Ein weiterer kluger Schachzug war, dass er den Leiter der Konzern-IT in die Geschäftsführung von kloeckner.i berief. Denn so sorgte er für ein besseres Verständnis auf beiden Seiten. Ferner durchliefen die Führungskräfte aus allen Landesgesellschaften einen zweiwöchigen Digitalcrashkurs in Berlin. Und auch Mitarbeiterinnen konnten für eine begrenzte Zeit nach Berlin und dort die Hälfte ihrer Arbeitszeit an einem neuen Digitalprojekt tüfteln. Gleichzeitig hat Klöckner früh für die digitale Weiterbildung der weltweiten Belegschaft gesorgt: Mitarbeiterinnen konnten zum Beispiel an Design-Thinking-Workshops teilnehmen oder während ihrer Arbeitszeit über die „Digital Academy“ digitale Weiterbildungen machen. Denn Rühl ist wichtig, dass jede Mitarbeiterin zur Weiterentwicklung des Unternehmens beiträgt sowie die Kompetenz hat, Ideen in ihrem Arbeitsumfeld umzusetzen.

 

Corona-Krise fördert Verkäufe über digitale Kanäle überproportional

Die Digitalisierung dient aber nicht allein dem Selbstzweck. Ein digitalisiertes Unternehmen ist in vielen Bereichen zukunftsfähiger aufgestellt und so oftmals auch stabiler in der Krise. Während Covid-19 viele Unternehmen komplett aus der Bahn warf, zeigte sich Rühl in unserem jüngsten ChangeRider-Interview optimistisch: „Wir mussten natürlich gerade zu Beginn der Krise innerhalb kürzester Zeit sehr viele Entscheidungen treffen, um dafür zu sorgen, dass Klöckner weiterhin lieferfähig bleibt. Das haben wir aber vor allem dank unserer digitalen Fähigkeiten sehr gut hinbekommen.“ Und weil viele Wettbewerberinnen nicht lieferfähig waren, stiegen bei Klöckner die Verkäufe über digitale Kanäle überproportional an. Deshalb musste sich das Unternehmen auch weniger um die aktuelle Bewältigung der Krise kümmern, sondern vielmehr eine Antwort auf die Frage finden, wie sie die Transformation jetzt noch schneller umsetzen und für sich nutzen können.

Für Rühl ist daher auch klar, dass der Schwung, den die Corona-Krise der Digitalisierung gab, auch nach der Krise beibehalten werden muss. Rühls Transformationsstrategie jedenfalls greift: Klöckner konnte den Umsatz über die digitalen Kanäle auf 38 Prozent steigern. Einen signifikanten Beitrag leistete dabei der „Kloeckner Assistant“, eine durch künstliche Intelligenz getriebene Applikation. Diese verkürzt den für Käufer- und Verkäuferinnen bisher langwierigen Bestellprozess bestehend aus Anfrage, Angebotserstellung und Auftragseingabe von mehreren Tagen auf wenige Minuten.

Mit XOM wurde ein großer Meilenstein erreicht

Ein Thema, was Gisbert Rühl bereits 2014 im Sinn hatte, war die Transformation des Stahlhändlers zum Plattform-Unternehmen: „Wir alle mussten in den letzten Jahren erkennen, dass Plattform-Unternehmen erfolgreicher als traditionelle Unternehmen sind. Sie wachsen schneller, sind effizienter, haben niedrigere variable Kosten und vieles mehr. Daher war es eigentlich immer unser Ziel, uns in Richtung eines Plattform-Unternehmens zu bewegen.“ Der Schritt zum großen Plattform-Player ist dabei eine große Herausforderung, da es nicht damit getan ist, den Onlineshop einfach in eine Industrieplattform umzuwandeln. Eine weitere Hürde waren dabei die Vertriebsmitarbeiterinnen von Klöckner, die den Kundinnen keine digitale Lösung schmackhaft machen wollten, auf der auch Produkte der Konkurrenz angeboten wurden. Und auch das Bundeskartellamt sowie die Wettbewerberinnen sorgten sich um die Unabhängigkeit.

Mit XOM Materials wurde im Februar 2018 europaweit eine unabhängige Lösung gelauncht. Auf der Handelsplattform, auf der sich bereits etwa 700 Kundinnen registriert haben, vertreiben mittlerweile an die 60 Anbieterinnen rund 22.000 Produkte. Zwar ist Klöckner hundertprozentiger Eigentürmer, XOM Materials agiert jedoch unabhängig und stellt so sicher, dass Klöckner keinen Zugriff auf sensitive Wettbewerberdaten erhält. Für Kundinnen ist der Zugang zu allen Stahl- und Metallprodukten sehr komfortabel. Große Stahlproduzenten, -händler und -verarbeiter verbinden sich und handeln miteinander. Die Plattform ermöglicht direkte Bestellungen, stellt Echtzeitinformationen über Verträge bereit und bietet den Zugriff auf Stahlzertifikate sowie Logistik. Die Plattform übernimmt also eine Matchmaking-Funktion.

In der Arbeitswelt von morgen ist digitales Wissen essenziell

Rühl wusste früh, dass er eine solche Plattform aufbauen wollte. Denn wenn Kundinnen sich ein Angebot wünschen, über das sie alle Stahl- und Metallprodukte beziehen können, wird es über kurz oder lang so etwas geben. Besser also, man startet es direkt selbst und partizipiert daran, statt es der Konkurrenz zu überlassen. Dabei sollen mithilfe von Technologien wie Artificial Intelligence und Robotics Prozesse vollkommen automatisiert werden – nicht nur bei XOM, sondern auch bei Klöckner. Je besser das gelingt, darüber spricht Rühl ganz offen, desto mehr Mitarbeiterinnen möchte er schrittweise aus diesen Kernprozessen herausziehen. „Genau wie bei Amazon, dem größten Retailer der Welt, der keine einzige Verkäuferin beschäftigt – das ist im Grunde genommen auch für mich der Weg zur Digitalisierung.”

Aus diesem Grund ist Klöckner bereits dabei, 1.200 Stellen zu streichen – was nicht überraschend kommt. Schon lange predigt er seinen Mitarbeitenden, dass in der Arbeitswelt von morgen digitales Wissen essenziell ist. Aus diesem Grund dürfen sich seine Mitarbeiterinnen während der Arbeitszeit weiterbilden. Genutzt wird dieses Angebot allerdings nur von etwa einem Drittel. Der Rest hat es ignoriert oder sich sogar verweigert. Diese Bewahrerhaltung hat bei Klöckner allerdings keine Zukunft: „Diejenigen, die das Angebot nicht in Anspruch genommen haben, müssen nun mit den Konsequenzen leben“, so Rühl.

Das Erfolgsrezept des „digitalen B2B-Papstes“

Rühl hat mit XOM einen großen Meilenstein erreicht und wird nun weiterhin – wie in alter Manier – ambitioniert daran arbeiten, diese Plattform groß zu machen. Auch er selbst will sich überflüssig machen, aber nur im Kerngeschäft: Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass er 2021 den CEO-Posten an Guido Kerkhoff, ehemaliger Vorstandschef bei Thyssen-Krupp, übergibt. Damit wird Rühl nach elf hochspannenden Jahren ein neues Kapitel aufschlagen und sich unter anderem der unabhängigen XOM-Plattform widmen. Er hat seine Transformations- und Innovations-projekte mit einem ganzheitlichen Ansatz sehr mutig verfolgt, End-to-End geplant und überwacht. Durch ein dreistufiges Vorgehen ist es Klöckner gelungen, die Digitalisierung schrittweise erfolgreich voranzutreiben.

Horizont eins – Überleben

Nach der Erarbeitung der strategischen Grundlagen in Form einer Ökosystem-Analyse hat etventure neue Geschäftsansätze priorisiert und umgesetzt. Dabei ging es zunächst darum, erste Prozesse zu digitalisieren und die sogenannten „Low Hanging Fruits“ (zum Beispiel ein intelligenter Verspätungsalarm bei unpünktlichen Stahllieferungen) umzusetzen. Allerdings hatte Klöckner von Beginn an klare KPIs sowie ein konkretes Zielbild vor Augen! Doch wie andere Unternehmen auch, ging es Klöckner zu Beginn schlichtweg erst einmal darum, zu überleben und inkrementelle Verbesserungen des bestehenden Geschäftsmodells zu erreichen – und zwar schnell und agil.

Horizont zwei – Stabilisierung

Durch schnelles Testen unter realen Marktbedingungen und mit echten Kundinnen validierten wir das Geschäftsmodell der Kontraktplattform. Mit der Einführung wurden Prozesskosten gesenkt sowie die Kundenzufriedenheit und der Customer Lifetime Value gesteigert. Durch den Aufbau der Innovationseinheit kloeckner.i konnten Digitalinitiativen schnell und (zunächst) losgelöst von der Kernorganisation umgesetzt werden. Und der neu aufgesetzte Webshop sorgte dafür, dass Kundenschnittstellen digitalisiert und gesichert wurden. Für den ersten erfolgreichen Proof of Concept, die Validierung mit Prototypen, sowie das exakte Tracking der KPI-Effekte, benötigten wir nur drei Monate. Unternehmensintern hätte Klöckner nach eigenen Angaben gut eineinhalb Jahre gebraucht.

Horizont drei – Zukunftsfähigkeit

Nach vollumfänglichen Roll-out und Markteinführung gelang Klöckner eine erfolgreiche Skalierungsphase. Aktuell generiert das Unternehmen etwa 38 Prozent seiner Umsätze (über zwei Milliarden Euro) über digitale Kanäle. Erfolgsentscheidend dabei waren auch der Aufbau von Team und Organisation sowie die kontinuierliche Sicherstellung der Zielerreichung. Zudem ist es Klöckner intern gelungen, die Mitarbeiterinnen zu befähigen, den digitalen Wandel zu meistern – nicht nur in der Digitaleinheit in Berlin, sondern auch im Stammhaus in Duisburg und weiteren Standorten weltweit. Erst als Horizont eins und zwei sichergestellt waren, konnte die Industrieplattform „XOM Materials“ Wirklichkeit werden. Mit dem Aufbau der Plattform setzt Klöckner auf ein Ökosystem von unterschiedlichen Playern und greift damit erfolgreich die eigene Branche an.

Ein CEO, der sehr viel richtig gemacht hat

Gisbert Rühl hat die Digitalisierung zur Chefsache gemacht. Er hat nicht weggeschaut und sich auch nicht geduckt – wozu extrem viel Mut und Durchsetzungskraft gehört. Er hat die inkrementelle Komfortzone verlassen und die Dinge einfach angepackt. Unternehmerinnen müssen raus aus dem Konzeptions- und rein in den Ideenmodus. Dazu gehört aber auch, dass sie auf dem Driver Seat Platz nehmen, notwendige Entscheidungen treffen und auf allen Ebenen mit gutem Beispiel vorangehen.

Rühl hat radikal Budgets zur Verfügung gestellt, einen geschützten Raum aufgebaut und mit diesen Rahmenbedingungen dafür gesorgt, dass die Dinge im Kleinen ausprobiert werden konnten. Das Unternehmen konnte so seine eigene Rolle im Ökosystem finden, definieren und sich optimal positionieren. Dazu gehörte, rechtzeitig wichtige Kundenschnittstellen digital zu besetzen und durch Kooperationen mit Partnerinnen zu sichern. Klöckner legte den Fokus auf Skalierung und durchlief Schritt für Schritt die Horizonte. Und die Reise hat sich gelohnt: Früher wurde Rühl von Wettbewerberinnen nur müde belächelt. Heute hingegen gilt er als digitaler Vorreiter der gesamten Industrie – und wird zu Recht als brancheninterner Disruptor bezeichnet.

Die Anstrengung lohnt sich

Nicht jedes Unternehmen muss zwangsläufig zum Plattform-Player werden. Trotzdem zeigt das Beispiel Klöckner sehr anschaulich, was möglich ist, wenn man mutig voranschreitet. Und dass es auch einem Traditionalisten gelingen kann – wenn man es denn richtig angeht. Bei Klöckner zeigt sich, dass sich die Anstrengung lohnt: „Wir haben über das Internet eine weltweit führende Expertise für den Verkauf von Stahl aufgebaut. Geschafft haben wir das mithilfe der Werte, die uns schon immer begleitet haben, und die auch für die Zukunft der deutschen Wirtschaft entscheidend sein werden: Neugierde, aus Fehlern lernen und den Mut, Neues auszuprobieren.“


Digitalisierung bedeutet immer Disruption

Die Digitalisierung ist immer mit einer disruptiven oder transformativen Veränderung verbunden. Organisationen haben allerdings häufiger mit dem stetigen Veränderungsprozess der Transformation zu tun als mit dem radikalen der Disruption. Der Untergang von Kodak beispielsweise zeigt, wie verheerend eine Disruption erfolgen kann. Hier fand kein kontinuierlicher Wandel des Produktes statt; vielmehr ersetzte die digitale Fotografie die analoge komplett.

Die Digitalisierung an sich ist allerdings bereits disruptiv. Sie hat eine disruptive Macht, denn sie zerstört Prozesse. Oder freundlicher formuliert: Sie löst Prozesse ab. Und das stellt Menschen in der Regel vor große Veränderungen, wie beispielsweise die interne Digitalisierung zeigt: Wird die Arbeit einer Buchhalterin von einem Dokumentenmanagement-System abgelöst und digitalisiert, zerstört es ihren Arbeitsplatz. Werden nämlich die Belege, die vorher händisch ins System eingetragen sowie mit einer Kostenstelle versehen wurden, durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz automatisch erfasst, einer Kostenstelle zugeordnet sowie zum Zahlungsziel angewiesen, braucht es die Buchhalterin nicht mehr.

Die Digitalisierung ist Disruptor für die Arbeitsplätze

Bei Klöckner beispielsweise hat die Einführung des „Kloeckner Assistant“ (eine Applikation zur automatischen Bearbeitung eingehender Preisanfragen und Bestellungen) für Käuferin und Verkäuferin die bisher langwierigen Bestellprozesse von mehreren Tagen auf wenige Minuten reduziert. Der „Kloeckner Assistant“ macht aber nicht nur den Prozess schneller und reduziert die Fehlerquote, sondern er baut auch Arbeitsplätze ab (siehe Kapitel „Klöckner versus Stahlbranche“).

Weil die Digitalisierung solche Prozesse überall auslösen wird, macht diese Entwicklung vielen Menschen Angst. Sie befürchten, ihren Job zu verlieren, ungefragt in eine Umschulungsmaßnahme gesteckt zu werden oder haben schlichtweg Angst vor der anstehenden Veränderung. Umso wichtiger, die Menschen in den Fokus zu stellen, ihnen zu zeigen, dass die Veränderung richtig ist, ihnen neue Rollenbilder zu geben sowie sie früh umzuschulen (siehe Kapitel „Mensch first, Technology second“). Dabei ist diese Entwicklung nicht neu: Die industrielle Revolution vernichtete viele Blue-Collar-Jobs; durch die Digitalisierung werden viele White-Collar-Jobs wegfallen. Wie damals werden aber auch jetzt viele neue Jobs geschaffen, die nur von Menschen erledigt werden können. Daher hat auch jede Mitarbeiterin, die sich verändern will, eine Chance.

 

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit!

Digitale Applikationen reduzieren massiv Kosten und sorgen für effizientere Abläufe, bei gleichzeitig drastischer Reduzierung menschlicher Interaktionen und Fehler. Was eigentlich positiv ist, stellt gleichzeitig eine große Herausforderung dar. Denn Mitarbeitende, die ihre angestammten Arbeitsplätze verlieren, müssen in neue Arbeitsfelder integriert werden. Dazu braucht es aber nicht nur die richtigen Methoden und Maßnahmen, sondern auch das Wollen und Können der Mitarbeitenden.

Organisationen müssen sich dem Ausbau digitaler Prozesse allerdings auch stellen, um den Kontakt zu Kundinnen nicht zu verlieren. Oft höre ich von Unternehmen aus dem B2B-Bereich, dass sie langjährige und enge Kontakte zu ihren Kundinnen haben, dass sie eine vertrauensvolle Zusammenarbeit pflegen und sie sich daher wenig Sorgen machen müssen. Ein großer Irrtum, denn wenn Kundinnen einmal die Vorteile einer digitalen Schnittstelle kennengelernt haben, ist die Verbindung zur Plattform eines Digital-players relevanter als der analoge Kontakt. Wie heißt es so schön: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit!


III. Mit Mut durch die Veränderung

Für die digitale Transformation von Unternehmen brauchen CEOs eine gehörige Portion Zukunftsmut. Denn die Reise führt häufig ins Ungewisse und ist deutlich weniger planbar und vorhersehbar als klassische Veränderungsprozesse wie beispielsweise die Restrukturierung oder Sanierung eines Unternehmens, die Forschungsarbeit an einem inkrementellen Innovationsvorhaben, die Installation einer neuen Maschine, die Einführung eines ERP-Systems oder eines neuen Produkts sowie die Erschließung neuer Märkte.

Die digitale Transformationsreise ist nicht planbar, da zu jedem Zeitpunkt völlig veränderte Marktstrukturen auf die Unternehmen zukommen können. Erweiternd müssen die Unternehmen erst einmal ihren Startpunkt finden und die Journey antreten. Häufig investieren sie dann schon in frühen Phasen massiv Geld in den Aufbau von internen Ressourcen und Digitalkompetenzen und haben dann noch hohe Entwicklungskosten für digitale Services und Geschäftsmodelle, ohne wirklich zu wissen, ob die Entwicklungen auch wirklich validieren bzw. monetarisieren und im besten Fall skalieren. Das Build-Measure-Learn-Prinzip, das kontinuierliche Einstellen von nicht validierten Vorhaben und die nicht vorhandene Möglichkeit, einen klaren Plan à la Pflichten-Lastenheft abzuarbeiten, verlangt dem Top-Management in Unternehmen nahezu alles an Mut ab.

Viele CEOs gehen mutig ihren Weg

Greife ich meine aktuelle Cash-Cow im Produkt- und Serviceportfolio mit einer disruptiven Lösung selbst an? Reduziere ich dadurch die kurzfristige Umsatzerwartung, um dann aber durch die Innovation langfristig in eine (mögliche) Umsatzsteigerung gehen zu können? Setze ich kurzfristige Gewinnausschüttungen an die Anteilseignerinnen und auch meine eigene Bonuszahlung komplett aus, um diese Mittel in die neue notwendige Organisationsstruktur, die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und ins Recruiting zu investieren? Möchte ich verärgerte und verunsicherte Forschungs- und Entwicklungsingenieurinnen in meinem Unternehmen vorfinden, denen ich mitteilen muss, dass die disruptiven Geschäftsmodelle an der Kundenschnittstelle nun von agilen Entwicklerinnen und Teams mit einem Start-up-Mindset außerhalb der Kernorganisation entwickelt und getestet werden? Nehme ich in Kauf, dass der komplette Vertrieb nahezu Amok läuft, wenn ich das Vorhaben zur Umsetzung eines Kundenportals ankündige? Lasse ich es auf eine Zerreißprobe mit meiner altgedienten IT-Chefin ankommen, wenn ich ihr sage, dass sämtliche Kundenschnittstellen-Themen nicht nach ihrem altbewährten Pflichten- und Lastenheftdenken umgesetzt werden können, und sämtliche Vorhaben nun außerhalb der Unternehmens-IT umgesetzt werden müssen? Viele CEOs gehen in Teilen diesen richtigen und mutigen Weg, ohne konkret zu wissen, welches Ergebnis sie damit in den kommenden ein bis drei Jahren erzielen werden. Und ohne zu wissen, ob ihr Plan auch wirklich aufgeht.

Für große Schritte braucht es vor allem Vertrauen

Dass Mut sich auszahlt, zeigt der Schritt des Fleischherstellers Rügenwalder Mühle, auch Fleischalternativen herzustellen. Dieses Experiment, 2014 gestartet, belohnt das Unternehmen heute mit der Marktführerschaft und einem Marktanteil von rund 40 Prozent in diesem Segment. Einfach war dieser Schritt jedoch nicht. Der Marketing- und Entwicklungschef Godo Röben setzte seine Idee gegen alle Kritik im Unternehmen um. Die Geschäftsführung des familiengeführten Unternehmens stand zwar von Anfang an hinter der Idee, mit dem Management jedoch führte Röben drei Jahre lang viele Diskussionen und musste viel Kritik einstecken. Kein Wunder, denn mit diesem Schritt griff er nicht nur das Kerngeschäft an. Er startete dieses Experiment auch mit offenem Ausgang.

Und auch die Mitarbeiterinnen – allen voran die Metzgerinnen – standen der Idee sehr kritisch gegenüber. Weil Röben sich jedoch vorab intensiv mit dem Markt und den vegetarischen Produkten auseinandergesetzt hatte, wusste er, dass der Markt für gute und leckere vegetarische Produkte vorhanden war. Mit diesem Argument überzeugte er schließlich die Metzgerinnen der Rügenwalder Mühle. Denn wenn die etwas können, dann richtig gute Produkte für Fleischesserinnen herstellen – warum also nicht auch für Vegetarierinnen, so Röbens Argument. Hilfreich waren für ihn bei der Überzeugungsarbeit aber nicht nur sein Know-how, sondern vor allem seine Betriebszugehörigkeit von über 20 Jahren. Für solch große Schritte braucht es vor allem Vertrauen. Und das hatte Röben, denn alle kannten ihn und konnten ihn entsprechend einschätzen. Eine Managerin, die erst kurze Zeit im Unternehmen gewesen wäre, hätte dieses Vorhaben so sicher nicht umsetzen können.

Ich vermisse Mut in unserem Land

Täglich kämpfe ich auf meinen Social-Media-Kanälen, auf Konferenzen, in Blogs und persönlichen Gesprächen für mehr Mut, den wir für den notwendigen Wandel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft dringend brauchen. Und auch wenn sich etwas bewegt, es fehlt an vielen Stellen die Entschlossenheit, wichtige Themen rund um unsere (Aus-)Bildung, unsere Sozialsysteme, unser kapitalistisches System, die Digitalisierung, die Flüchtlingsthematik und den Klimaschutz voranzutreiben.

Ich kritisiere schon seit zehn Jahren das Bewahrertum in Deutschland und damit die in Teilen große Mutlosigkeit. Dabei geht es mir vor allem auch um den Mut, für unsere Werte ein- und gegen Hetzer-, Angstmacher- und Lügnerinnen aufzustehen. Gerade die CEOs, Influencerinnen oder Sportlerinnen müssten sich stark machen und mutig einen Gegenpol bilden. Sie alle verfügen über eine große Reichweite in der Öffentlichkeit und könnten dabei helfen, Menschen zu erreichen und sie zu motivieren, sich ihrerseits mutig zu verhalten. Warum aber stehen hier nur die wenigsten auf und verlassen ihre Komfortzone? Warum nehmen sie sich nicht ein Vorbild an Christian Streich, dem Cheftrainer des SC Freiburg, der sich öffentlich für Flüchtlinge einsetzt. An Superstar Taylor Swift, die sich klar gegen die Betrügereien von Trump positioniert. An Herbert Grönemeyer, der gegen rechte Gewalt wettert. Oder an Jürgen Klopp, der für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Corona-Krise plädiert. Die Antwort darauf liegt in unserer „Cover your Ass“-Mentalität begründet (siehe Kapitel „Lasst uns die ‚Cover your Ass‘-Mentalität beerdigen“).

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