Der EMP-Effekt

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2

Er betrat das Polizeirevier und wartete ab, bis eine dickliche Marktfrau mit ihrer Beschwerde zu Rande kam. Jemand hatte ihren Stand umgestoßen. «... der ganze schöne Kohl auf dem nassen Pflaster – und die Trauben zertreten!»

Karga blickte sich ungeduldig um. In der Halle standen drei Reihen Schreibtische, seine Vernehmung zur Demonstration damals fiel ihm ein, und ein Pulk von Bildern – Verhöre, denen er an den Nachbartischen hatte zuhören können – stieg augenblicklich vor seinem inneren Auge auf, als er die Schreibmaschinen und Besucherstühle sah.

«Die Gewalt nimmt zu», erklärte der Polizeibeamte. Er hatte rötliche Koteletten und einen müden Zug um den Mund. «Gegen Menschen und Sachen, wir sind machtlos.»

«Ein Zeichen zunehmenden Wohlstands», mischte Karga sich ein. Er war selbst überrascht darüber: gewöhnlich gab er sich eher zurückhaltend, aber das Thema interessierte ihn. «Zuviel Wohlstand oder zu wenig – es hat immer die gleiche Wirkung. Die Veränderung muss von innen kommen. Wenn man etwas verändern sollte, dann nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern den einzelnen Menschen.

Gandhi hat dafür den Weg gewiesen. Massen von gewaltlosen Einzelnen sind der Schlüssel zur Zukunft.»

Die Alte wandte sich um und sah ihn missmutig an. «Ihr Gerede macht meinen Kohl nicht heil.»

«Es wäre nie so weit gekommen.»

«Bitte warten Sie, bis Sie an der Reihe sind», sagte der Beamte verdrießlich.

Karga wandte sich achselzuckend ab. So war es immer: Sobald er sich engagierte, gab es Ärger. Dabei war alles ganz einfach: nicht die Eier mußte man verändern, wenn man besseres Rührei wollte, sondern die Henne, die sie legte. Es waren Gedanken, mit denen er wie mit einer Gleichung spielte. Bloß, dass er sie nicht in die Tat umsetzen konnte. Sie waren nichts als ein theoretisches Spiel.

Es dauerte mehr als zehn Minuten, bis er an die Reihe kam.

«Ich habe einen Einbruch zu melden. Genaugenommen sogar einen Überfall.»

«Bitte nehmen Sie Platz.»

Er wurde an einen der Tische gebeten, auf dem eine Schreibmaschine stand.

«Ihren Personalausweis bitte.»

«Meinen Ausweis, wozu?»

«Es erleichtert die Aufnahme, wenn ich Ihre Daten abschreibe.»

«Tja, tut mir leid. Er wurde gestohlen. Ich nehme an, dass er mir gestohlen wurde», berichtigte Karga.

«Haben Sie seinen Verlust gemeldet?»

«Beim Einwohnermeldeamt, ja. Ich beantragte gerade einen Pass, um nach Rumänien zu reisen. Deshalb konnte ich ihn nicht abholen, man verlangte dafür den Ausweis.»

«Sie sind also ohne Papiere?»

«Es … es gibt noch diesen Werksausweis», sagte Karga und zog eine graue Plastikkarte mit seinem Foto und einem an der rechten Seite durchlaufenden Magnetstreifen aus der Brieftasche.

«VVG … ist das nicht die Firma, die Stereorecorder und Taschenradios herstellt?»

«Unter anderem, ja.»

«Mein Sohn geht mit so einem Ding ins Bett, das man in die Hemdentasche stecken kann.»

«Von der Größe einer Scheckkarte», bestätigte Karga. «Unsere Entwicklung.»

«Meiner Meinung nach rauschen diese kleinen Dinger viel zu stark.

Für den Klang der größeren Anlagen fehlt ihnen einfach die Antennenleistung.»

«Das wird jetzt anders», erklärte Karga mit geheimnisvoller Miene. «Wir haben einen wirksameren Rauschfilter entwickelt.»

«Einen …? Aha.»

«Atmosphärische Störungen und so weiter.»

«So was sollten Sie in unsere Funksprechgeräte einbauen lassen.»

«Gar nicht so übel, der Gedanke. Leider produzieren wir nur Geräte der Unterhaltungselektronik.»

«Glauben Sie mir – die besten Radios waren die alten Volksempfänger. Ich erinnere mich noch gut an das Radio meiner Großmutter, eine hochglanzpolierte Holzkiste, so groß wie ein kleiner Farbfernseher. Sein Klang war unvergleichlich …»

Nach einer längeren Abschweifung, bei der Karga unbehaglich auf dem Stuhl hin und her zu rutschen begann, kamen sie endlich auf seinen Fall zu sprechen.

«Wurde etwas gestohlen?»

«Soviel ich weiß, nicht.»

«Und die Täter, sind sie Ihnen bekannt?»

«Ich sah sie zum ersten Mal.»

«Aber man drohte Ihnen Gewalt an?»

«Man hinderte mich, die Polizei zu benachrichtigen.»

«Auf welche Weise?»

«Indem man sich mir in den Weg stellte. Später riss man das Telefonkabel aus der Wand.»

Er klapperte Kargas Angaben mit zwei Fingern auf der Schreibmaschine herunter und ließ sich die Personenbeschreibungen geben. «Groß, klein, dick, dünn?»

«Einer der beiden scheint krank zu sein. Er schluckt Pillen, vielleicht ein Herzmittel.»

«Wenn Sie nichts vermissen, handelt es sich nur um Hausfriedensbruch. Und Sachbeschädigung.»

«Diese Kerle waren schon öfter da. Sie ziehen nie die Toilettenspülung, lassen den Wasserhahn tropfen und verschmutzen meine Gardine – ich nehme an, weil einer von ihnen am Fenster Schmiere steht.»

«Also wiederholter Hausfriedensbruch», berichtigte er. «Meiner Meinung nach suchten sie nach etwas und wurden dabei überrascht.»

«Haben Sie eine Vorstellung, wonach?»

«Keine. Das ist mir absolut schleierhaft.»

«Könnte es mit Ihrer Arbeit zusammenhängen? Werkspionage zum Beispiel?»

«Nein. Ich arbeite nicht in der Wohnung.»

«Sie nehmen auch keine Unterlagen mit?»

«Das ist untersagt. Ich beschäftige mich zwar manchmal nebenberuflich in meinem Bastelkeller mit ähnlichen Problemen wie in der Firma. Wenn man es als Hobby betrachtet, steht man einfach weniger unter Druck und kommt zu besseren Ergebnissen.

Man kann experimentieren, auch auf die Gefahr hin, dass es zu nichts führt. Der Entstörfilter ist übrigens ein Ergebnis meiner Freizeitbeschäftigung, wenigstens zum Teil. Aber für Werkspionage wäre unsere Arbeit nicht bedeutend genug. Was wir erfinden, unterscheidet sich kaum von den Produkten der Konkurrenz – und den Rest kann man später als Lizenzen kaufen.»

«Also keine Hinweise.»

Karga zögerte einen Moment, dann erzählte er ihm auch von den übrigen Vorfällen.

Der Beamte hörte schweigend zu; sein Blick wurde deutlich abweisender; er betrachtete ihn plötzlich wie eine hypochondrische alte Frau, die ihm von ihren zahllosen Zipperlein berichtete.

«Sie verbinden da eine Menge Dinge, die nichts miteinander zu tun haben müssen: das Fernsehauge, die Fahrradtasche, Ihren verlorenen Ausweis … Die Befreiung von der Stempeluhr würde ich eher als Vertrauensbeweis ansehen.»

«Ehrlich gesagt, ich bin fest davon überzeugt, dass der Verfassungsschutz hinter mir her ist.»

«Dann hätte man sich zu erkennen gegeben.»

«Auch bei einem Wohnungseinbruch? Verstehen Sie mich richtig, ich kam etwas früher nach Hause als sonst. Sie hatten nicht damit gerechnet, erwischt zu werden. Als es zu spät war, wollte keiner dazu stehen. Vertuschung illegaler Praktiken. So was steht doch täglich in den Zeitungen.»

«In diesem Falle kann ich nur eines für Sie tun.» Er riss ein Blatt vom Block und schrieb Karga eine Adresse auf. «Dies ist die zuständige Stelle beim Verfassungsschutz – ich werde Sie telefonisch ankündigen, damit man Sie vorlässt. Schildern Sie dort Ihren Fall. Dann wird man weitersehen.»

3

Karga hatte plötzlich das Gefühl, er sei vielleicht nur überempfindlich …

Falls seine Phantasie mit ihm durchging, blieben immerhin die beiden Männer in der Wohnung. Sie waren keine Einbildung. Alles andere mochte eine Täuschung sein, aber man hatte seine Wohnung durchsucht.

Es war kurz vor zwölf. Er hatte völlig vergessen, sich um Thaube zu kümmern!

Thaube kurierte irgendeine mysteriöse Krankheit aus. Genauer gesagt versuchte er sie auszukurieren. Man nahm an, dass es die Lustseuche «Aids» war. Thaube neigte unbezweifelbar dem eigenen Geschlecht zu, aber er hatte nie versucht, Karge zu nahe zu treten. Sie kannten sich seit der Studienzeit. Er war es, der ihn in die Kommunistische Partei eingeführt hatte.

Thaube war später in den terroristischen Untergrund gegangen, wenn auch nur für kurze Zeit. Das herausragendste Ergebnis seiner Aktivitäten war eine zweijährige Haftstrafe gewesen. Er gehörte zu den harmloseren Figuren der Szene: schnell aufschäumendes Brausewasser, das ebenso rasch wieder sackte und einen faden Geschmack hinterließ. Seit seiner Erkrankung wollte sich niemand mehr mit ihm abgeben. Er schien innerlich zu verbrennen. Karga brachte ihm zu essen und gelegentlich etwas frische Bettwäsche.

Um diese Zeit war nur noch der Kiosk im Bahnhof geöffnet. Einzelne Männer schlenderten ziellos durch die Halle; drinnen war es zwar nicht geheizt, aber wärmer als draußen.

Ein Zug von Verlorenheit lag jetzt um Mitternacht auf ihren Gesichtern …

Karga dachte, dass er sich immer noch in seine Arbeit flüchten konnte, auch an den Wochenenden und Abenden, falls er jemals die innere Leere verspüren sollte, hier herumzulungern. Er kaufte belegte Brötchen, Dosenbier und ein paniertes Kotelett. Beim Zahlen rollte ihm das Wechselgeld in die Auslage, die Frau hinter der Theke suchte eine Weile vergeblich zwischen den Käsestücken und weichgewordenem Stangenbrot – schließlich gab Karga es auf.

«Betrachten Sie es als Trinkgeld», sagte er.

Als er wieder auf dem Gehsteig stand, fielen eigentümlich blinkende, winzige Schneeflocken wie der Glimmer von Weihnachtsbäumen. Es mußte mit dem Wetterumschwung zusammenhängen, denn einige Schritte weiter hatte sich alles schon wieder verloren, und laue Windböen trieben die Straße von der Uferpromenade herauf.

 

Thaubes Haus war ein hellhöriger Neubau, zurückgesetzt in einer Reihe alter Häuser. Umlaufende Betongalerien, die so dicht mit Sprüchen aus der Spraydose verziert waren, dass man glauben konnte, in ein verfilztes Buschgestrüpp zu treten, hatten das fade Bild des rechteckigen Kastens etwas auflockern sollen.

Doch diese Absicht war derart gründlich misslungen, dass einige Wohnungen jetzt leer standen.

Während er die letzten Stufen nahm, wurde ihm unvermittelt bewusst, dass seine Freundschaft zu Thaube den Staatsschützern vielleicht Anlass zu Verdächtigungen bot. Diesen Gesichtspunkt hatte er noch gar nicht bedacht. Zu Verdächtigungen … aber zu welchen?

Er besaß einen eigenen Wohnungsschlüssel. Thaube war so schwach auf den Beinen, dass ihm das Öffnen der Tür Mühe bereitete. Nur wenn die Tageszeitungen kamen, setzte seine Schwäche für Augenblicke aus, dann saß er aufgerichtet im Bett und beklagte lautstark die politische Korruption im Lande. Er zeigte zwar alle typischen Symptome der Krankheit: geschwollene Drüsen, Gewichtsverlust, Fieberanfälle und Schweißausbrüche, gelegentlich auch Anzeichen von Verwirrung; trotzdem ließ Karga sich nicht davon abbringen, dass sein eigentliches Leiden eine eigentümliche Willenlosigkeit war – welcher Ursache, das hatte er noch nicht herausgefunden.

In dem abgedunkelten Zimmer stand die Luft. Es roch nach einer undefinierbaren Mischung, die von allem möglichen herrühren konnte: von Schweiß, japanischem Heilpflanzenöl, schmutzigen Socken und verschüttetem Bier.

Trotz seiner vierzig Jahre erinnerte Thaubes Kopf über dem Oberbett an einen gerade volljährig gewordenen Jungen.

«Leg‘s da hinten ab», sagte er und hob mit einer schwächlich wirkenden Gebärde den Arm. «Und komm mir nicht zu nahe. Ich glaub, ich hab gerade wieder einen Bakterienschub.»

«Unsinn. Erstens weiß man gar nicht, um welche Art von Erreger es sich handelt, vielleicht ein Virus, und zweitens ist es nicht so ansteckend, wie du glaubst.»

Kargas Augen gewöhnten sich langsam an das Halbdunkel, erließ den Blick über das Durcheinander im Zimmer gleiten.

Dann zog er mit einer schnellen Bewegung die Gardine auf, um zu lüften.

Im selben Augenblick gewahrte er auf der gegenüberliegenden Hausseite eine Bewegung. Es war ein Fenster in der gleichen Etagenhöhe. Ein mattglänzender, zylindrischer Gegenstand, der ziemlich lang war, wurde hinter die Gardine zurückgezogen. Kein Objektiv, wie er eben noch erkannte, sondern es erinnerte an … ja, er war ganz sicher: das Ding mußte ein Richtmikrofon sein.

Der Fensterflügel drüben war weit nach innen zurückgeschlagen, und die Übergardine aus dunklem Stoff hing jetzt leicht vom Wind bewegt als einziges Hindernis im Fenster.

«Sie haben‘s auf uns abgesehen …», sagte er, ohne seine Stimme zu dämpfen, als er sich ins Zimmer zurückwandte.

«Wer?»

«Ich weiß nicht. Aber sie beschatten uns. Drüben im Fenster war gerade ein Richtmikrofon.»

Thaube stieg mühsam aus dem Bett und trat neben ihn, sein Gang war leicht schwankend, und auf seiner hohen Stirn glänzten Schweißtropfen. Er trug ein altmodisches weißes Nachthemd, das aus der Wäscheschublade des möblierten Zimmers stammen mußte. Die Vermieter, ältere Leute, hatten ihm ihre Sachen überlassen.

Neben Karga wirkte er sehr hager und lang; während er sich mit einer Hand am Fensterkreuz abstützte, erinnerte seine verzogene Figur an die Darstellungen des traurigen Ritters von la Mancha, der für einen Augenblick vom Klepper gestiegen war und seine Lanze in die Ecke gestellt hatte.

«Sicher wegen meiner zahllosen Anschläge auf den Papst und die europäischen Königshäuser», sagte er und drohte mit erhobener Faust zur anderen Seite hinüber.

«Ich bin nicht sicher, ob sie immer zwischen Scherz und Ernst unterscheiden können», gab Karga zu bedenken.

«Was kann mir noch passieren? Ich bin ein toter Mann.»

Karga beschloss, ihm nichts von den Männern in seiner Wohnung zu sagen. Es würde ihn nur zu unüberlegten Reaktionen provozieren. Er zog das Bettzeug ab und legte ein frisches Laken auf. Er arbeitete schnell und geschickt, und Thaube sah ihm dabei vom Lehnstuhl aus zu. Um unter die Matratze am Kopfende zu gelangen, mußte er das Bett abrücken; es verursachte ein quietschendes Geräusch auf dem Kachelboden.

«Alles vergebliche Mühe», murrte die Gestalt im Lehnstuhl.

«Du solltest deinen Pessimismus nicht wie einen Geburtstag abfeiern.»

«Meine Geburtstage waren immer pessimistisch.»

Als Karga nach einer halben Stunde wieder auf der Straße stand, atmete er auf. Es gab zwei Dinge, die er nicht ausstehen konnte: Hypochondrie und Willenlosigkeit. Sein eigenes Leiden entzog sich jeder willentlichen Beeinflussung.

Aber er machte nicht viel Aufhebens davon. Er mied Schiffsfahrten und Brücken und ging niemals Schwimmen. Wie andere ihren Analphabetismus, so hielt er sein Gebrechen wo er konnte geheim. Trotzdem ließ es sich nicht immer vermeiden, dass man davon erfuhr.

Bei Taxifahrten über die Rheinbrücken schloss er schon einige Straßen vorher die Augen, um im Ungewissen zu bleiben, wann sie das Wasser überquerten.

Während er das gegenüberliegende Haus passierte, spielte er einen Augenblick mit dem Gedanken, seine Beobachter dort oben zur Rede zu stellen.

Er trat in den Hauseingang und zündete mehrere Streichhölzer an. Der Wind blies die Flamme immer wieder aus.

Die mittlere Klingel war ohne Namensschild, wahrscheinlich eine leerstehende Wohnung. Sein Finger ruhte nachdenklich auf dem Klingelknopf.

Dann argwöhnte er, dass es sie nur um so vorsichtiger und geschickter vorgehen lassen würde. Je mehr er nach den Gründen seiner Beschattung suchte, desto rätselhafter erschien sie ihm. Vielleicht lag seine Chance darin, dass sie sich auf irgendeine Weise verrieten?

Er wartete es nicht ab. Als er erwacht war und beim Frühstück saß, fühlte er plötzlich Ärger aufsteigen. Der Gedanke, einer anonymen Verfolgung ausgesetzt zu sein, die sich offensichtlich nicht einmal durch den Gang zur Polizei abstellen ließ, war eine solche Ungeheuerlichkeit, dass seine Entschlossenheit obsiegte und seine angeborene Vorsicht ins Hintertreffen geriet. Warum nicht zum Angriff übergehen?

Er hatte die Adresse, und er war telefonisch angekündigt.

Doch er hätte nie geglaubt, über wie viele Personen man in einem Amt weitergereicht werden konnte, das sich angeblich mit nichts anderem beschäftigte, als die Verfassung zu schützen.

Für einen Tag im späten Februar war das Wetter erstaunlich mild, die Sonne verbreitete frühlingshafte Wärme, und während Karga aus dem Busfenster sah, erinnerte er sich ihrer Reise nach Poiana Brasov in den rumänischen Karpaten.

Er hatte einige Wochen Urlaub verdient. Sie würden in einem Berghotel wohnen. Nach Kronstadt gab es nur eine selten verkehrende Busverbindung, also konnten sie dort oben mit sehr viel Ruhe rechnen.

Angeblich war die Gegend so urwüchsig, dass junge Bären manchmal von den Hängen herabstiegen und nachts die Abfalltonnen der Hotels plünderten.

Der Verdacht – und mehr als ein Verdacht war es wohl nicht –‚ dass man seinen Pass zurückhielt, um die Reise zu verzögern, brachte ihn noch mehr in Rage. Er würde das alles hier zur Sprache bringen.

Die Auskunftsstelle befand sich im zweiten Stock. Sie war nur mit einem blassenjungen Mädchen besetzt, das seine dünnen Handgelenke massierte.

Es saß in einem bis auf das Telefonbuch und den Kalender völlig leeren Verschlag und verwies ihn an eine angeblich zuständige Stelle im vierten Stock, als er seinen Namen nannte.

Dort sagte man ihm, falls gegen ihn ermittelt werde, müsse erst die Genehmigung zur Auskunft eingeholt werden. Er wanderte von Zimmer zu Zimmer. Niemand schien zuständig zu sein. Es gab einen Sicherheitstrakt, Eintritt für Unbefugte verboten. Aber wie unterschied man Befugte und Unbefugte? War er als Betroffener nicht automatisch «befugt»?

Die Verfassung lebt von den Menschen, ohne sie wäre sie ein Nichts, eine ideale Konstruktion. Nun gut: er wollte nichts weiter, als dass man seine verfassungsmäßig niedergelegten Rechte schützte.

Man hatte ihm die Nummer eines Zimmers im Kellergeschoss gegeben; doch er war nicht mehr willens, das würdelose Spiel noch länger mitzumachen. Während er durch lange, hohe Gänge schritt, deren Gewölbedecken Ähnlichkeit mit den Gängen in Gerichten besaßen, las er auf einem Türschild:

FJ. Wagner, Zugang nur über das Sekretariat, Zimmer 49.

Entschlossen drückte er die Klinke, und tatsächlich ließ sich die Tür öffnen.

Ein weißhaariger Mann mit einem kurzen Zigarillo zwischen den Zähnen blickte vom Schreibtisch auf.

«Wagner?»

«Sie wünschen?»

«Aus der Schleuse nebenan schließe ich, dass Ihre Funktion hier keine untergeordnete ist?»

«Schleuse?»

«Das Sekretariat.»

«Ah – verstehe.» Die Augen des anderen blitzten amüsiert, er nahm den Zigarillo und drückte ihn im Ascher aus. «Sie haben sich in der Bürokratie verirrt?»

«So kann man es nennen, ja.»

«Ich bin Amtsbereichsleiter.»

«Seit einer guten Dreiviertelstunde schickt man mich von Zimmer zu Zimmer, weil ich eine Auskunft über Ermittlungen gegen mich wünsche. Ich werde von Ihren Leuten beschattet. Gestern brach man in meine Wohnung ein. Es gibt weitere Hinweise. Das alles muss mit meiner früheren Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei zusammenhängen.»

Wagner notierte sich seinen Namen und führte ein kurzes Telefongespräch, bei dem es um den Zutritt zu irgendeinem dubiosen Dateiraum im Kellergeschoss ging. Karga bemerkte, dass es die Nummer des Zimmers war, die man ihm weiter oben gegeben hatte. Anscheinend war man über seinen Fall unterrichtet. «Wir werden das ganz unbürokratisch regeln», beruhigte Wagner ihn und legte den Hörer auf. «Außerhalb des üblichen Amtsweges.»

«Ich habe schließlich ein Recht darauf.»

«Sie sollen nicht glauben, hier werde illegal gegen Sie ermittelt. Falls es einen Einbruch gab, wird man die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.»

«Mir liegt nichts an Bestrafung. Nur an Aufklärung

«Um so besser.»

Wie schon auf der Polizeiwache überkam Karga plötzlich der Verdacht, er sei vielleicht nur überempfindlich.

Ämter und Behörden hatten immer etwas Anonymes, Unpersönliches. Die Linke wusste nicht, was die Rechte tat. Ein Gewirr von Verordnungen lenkte das Handeln. Darüber mußte man hinwegsehen. Entscheidend war, was schließlich für den einzelnen dabei herauskam. In den Gewölbegängen hallten ihre Schritte.

Dann kam ein moderner Anbau aus Beton. Mit dem Paternoster gelangten sie in das Kellergeschoss.

Der Raum, nachdem sie eine dreitürige gläserne Kontrollschleuse passiert hatten, in der Wagner eine Weile eindringlich, aber offenbar erfolgreich auf einen merkwürdig gesichtslos wirkenden jungen Mann am Eingangstisch einredete, war die Datenbank: mehrere Monitore und Datenspeicher in glatten grauen Metallkästen gaben Karga das Gefühl, wieder vertrauten Boden zu betreten.

Die Wände waren hell gefliest, wie in einer Metzgerei oder Leichenhalle.

Ganz ähnlich sah es auch bei der VVG aus. Als er sich umwandte, bemerkte er, dass der junge Mann ihm missbilligend nachstarrte; Zugang zum Allerheiligsten wurde nur den Priestern gewährt.

«Mehr Menschlichkeit ins System …»‚ brummte Karga über die Schulter zurück. «Gewöhnen Sie sich daran, dass Ihre Arbeit für den Menschen da ist, nicht umgekehrt. Ihre Vorschriften sind nur Krücken.»

Zufrieden registrierte er die Sprachlosigkeit im Blick des anderen. Wagner hörte geflissentlich darüber hinweg. Er nahm an einem der Monitore Platz.

«Sie dürfen es sich als seltenes Privileg anrechnen, bis hierher vorgedrungen zu sein», meinte er, nachdem er Kargas Daten eingegeben hatte; dabei nahm er einen Zigarillo aus der Hemdentasche und steckte ihn sich kalt zwischen die Lippen.

Karga nickte und beobachtete aufmerksam die Datenreihen auf dem Bildschirm.

«Eintritt in die DKP März 1981 – Austritt drei Wochen später. Nach eigenen Angaben, weil Sie einer gewalttätigen Demonstration beiwohnten, die Sie nicht gutheißen konnten. Vermummte Mitglieder der Partei schlugen mit Holzknüppeln Schaufensterscheiben ein. Stiefmutter in Karl-Marx-Stadt. Über Richard Thaube Kontakte zu linksextremistischen Kreisen. Reisen in den Ostblock. Für den Lehrerberuf als nur bedingt geeignet eingestuft.»

 

«Was heißt bedingt? Ich bekam keine Einstellung.»

«Sie wissen ja, wie heutzutage die Arbeitschancen für Junglehrer sind.»

«Fragen Sie nach meiner Überprüfung.»

Wagners schlanke Finger spielten über das Tastenfeld; die Schrift wurde invertiert und zeigte:

NO

«Was heißt das schon wieder? No kann alles mögliche bedeuten. Zum Beispiel keine Auskunft.»

«Es heißt: Keine weiteren Überprüfungen. Sonst würde dort stehen: Informationszugang nur mit Code

«Und meine Ausweispapiere? Ich habe schon vor mehreren Wochen einen Pass beantragt. Als ich ihn abholen wollte, kam mir auf mysteriöse Weise mein Personalausweis abhanden.»

Wagner arbeitete wieder an der Tastatur. Nach einigen Versuchen schüttelte er den Kopf. «Darüber weiß die Anlage nichts.» Er betätigte eine Taste und ließ das Ergebnis ausdrucken. «Dies ist eine amtliche Bescheinigung», sagte er und reichte ihm das Papier. «Sie können sich jederzeit darauf berufen.»

«Aber irgend jemand ist hinter mir her.»

«Ich kann Ihnen nicht helfen, bedauere», sagte er freundlich. «Wenden Sie sich an die Polizei.»

Sein alter Wagen war schrottreif. Er hatte für die Reise in drei Wochen einen neuen bestellt: einen roten Zweisitzer. Anja schätzte extravagante Fahrzeuge. Sie würden unabhängig von öffentlichen Verkehrsmitteln sein.

Mit Anjas Pass gab es offenbar keinerlei Probleme, auch das Visum für Rumänien war ohne Verzögerung ausgestellt worden. Karga war jetzt festen Willens, sein Recht auf Ausweispapiere einzuklagen. Noch bevor er den Wagen auf der Autobahn ausprobierte, würde er das in Ordnung bringen.

Merkwürdigerweise bekam er sowohl seinen Pass wie auch den neuen Ausweis sofort ausgehändigt, als er seine Absicht ankündigte.

«Ihre Papiere liegen schon seit vorgestern hier bereit», sagte das Mädchen hinter der Theke.

Sie trug eine kreisrunde Brille. Die einzige modische Extravaganz, die sie sich leistete, schien eine dunkelrote, mit Eloxal eingefasste Plastikspange in ihrem altjüngferlichen Haarknoten zu sein. Karga schätzte sie auf höchstens achtundzwanzig.

Als sie zum Karteikasten ging, sah er, dass ihre Füße in bequemen Schuhen mit flachen Absätzen steckten. Auf dem hellgemaserten Aktenschrank lag eine Butterbrotdose.

Plötzlich ritt ihn der Teufel. Die Langeweile, die sie wie ein schlechtes Parfüm verströmte, war seine Chance. Er sah eine Möglichkeit, das Geheimnis zu lüften – auch wenn es nicht ganz die feine Art sein würde, die er eigentlich bevorzugt hätte.

Neugierde korrumpierte nicht weniger als Habgier oder Eifersucht.

«Sie sind ein Schatz …», stellte er fest und beugte sich mit möglichst einnehmender Geste über die Theke – den Arm lässig aufgestützt. «Für diese gute Nachricht sollte ich Sie eigentlich zum Essen einladen.»

«Ende gut, alles gut», sagte sie, als habe sie den Satz eben erst erfunden.

«Was halten Sie von einer kleinen Spritztour nach Dienstschluss? Ich bin gerade dabei, meinen neuen Zweisitzer auszuprobieren.»

«Eine Autofahrt?» Sie musterte ihn neugierig.

«Mit dem Sportwagen. Einmal um den Autobahnring.»

«Beim schnellen Fahren bekomme ich leicht Schluckauf.»

«Dann halten wir sofort an.»

«Ehrenwort?»

«Was denken Sie? Ich muss schließlich auf meinen guten Ruf bei den Ämtern denken», meinte er zweideutig.

Sie verzog keine Miene. «Alles in allem sehen Sie ja nicht aus wie ein Notzuchtverbrecher», sagte sie und schob ihren dunklen Haarknoten zurecht.