Wege zur Rechtsgeschichte: Gerichtsbarkeit und Verfahren

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2.3 Gerichtsbarkeit bei germanischen Stämmen?

Möglicherweise gab es neben dem ungeregelten Fehde-Sühne-Mechanismus durchaus Versuche, Selbsthilfe und Rache einzudämmen. Das jedenfalls behauptet Alfred Söllner in einer Untersuchung des zweiten Merseburger Zauberspruchs. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Sammelhandschrift durch Zufall entdeckten Formeln in althochdeutscher Sprache stellen, abgesehen von wenigen Runensprüchen, die einzige einheimische Schriftquelle der vorchristlichen Zeit dar. Gemeinhin erblickt man im zweiten Spruch einen Heil- und Segenszauber. Wotan und Phol, zwei germanische Götter, „fuhren zu Holze“, ritten also durch einen Wald. Auf diesem Ritt stürzte ein Pferd. Die versehrten Knochen und Wunden wurden durch eine Beschwörungsformel wieder „geleimt“ (geheilt). Angeblich soll man die Verse aber auch rechtshistorisch verstehen können. Die Verletzung von Pferden, Wunden und Knochenbrüche hätte man so auf dieselbe Weise vergelten müssen. Die Priester, die ihrerseits die Segens- und Fluchformeln bewahrten, könnten zugleich den Unrechtsausgleich überwacht und gelenkt haben. Ob es ein solches Talionsprinzip in den germanischen Stammesgesellschaften gab, erscheint jedoch höchst zweifelhaft. Die Forschung ist Söllners Auffassung bisher nicht gefolgt. Es spricht damit nichts dagegen, am Fehde-Sühne-Modell als Grundform der Interessendurchsetzung festzuhalten.

Freilich kannten die germanischen Stämme nach Tacitus auch andere Formen der Konfliktlösung. Eine zweite Stelle der „Germania“ berichtet von Anklagen, Versammlungen und sogar Hinrichtungen.

Gerichtsbarkeit bei den Germanen

Kap. 12 (1) Licet apud concilium accusare quoque et discrimen capitis intendere. distinctio poenarum ex delicto: proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et inbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt. diversitas supplicii illuc respicit, tamquam scelera ostendi oporteat, dum puniuntur, flagitia abscondi. [<<37]

(2) sed et levioribus delictis pro modo poena: equorum pecorumque numero convicti multantur. pars multae regi vel civitati, pars ipsi, qui vindicatur, vel propinquis eius exsolvitur.

(3) eliguntur in iisdem conciliis et principes, qui iura per pagos vicosque reddunt; centeni singulis ex plebe comites consilium simul et auctoritas adsunt.

(1) Man kann vor der Versammlung auch Anklage erheben und ein Verfahren über Todesstrafen anstrengen. Die Unterscheidung der Strafen (richtet sich) nach dem Vergehen: Verräter und Fahnenflüchtige hängen sie an Bäumen auf, Feiglinge, Unkriegerische und körperlich ‚Verrufene‘ ertränken sie im Sumpf oder im Moor, indem sie ein Geflecht darüber werfen. Die verschiedenen Todesstrafen nehmen darauf Rücksicht, daß man Verbrechen, wenn sie bestraft werden, bekanntmachen, Schandtaten (aber) verheimlichen muß.

(2) Doch auch leichteren Vergehen wird angemessene Strafe zuteil: Die Überführten werden (mit der Abgabe) einer Anzahl von Pferden und Vieh bestraft. Ein Teil der Strafe wird dem König oder dem Stamm, ein Teil demjenigen, dem Recht verschafft wird, oder seinen Verwandten gezahlt.

(3) Auf jenen Versammlungen wählt man auch die Fürsten, die in den Gauen und Dörfern Recht sprechen; ihnen stehen jeweils 100 Begleiter aus dem Volk als Rat und bevollmächtigtes Organ zur Seite.

Vorlage: Tacitus, Germania, Kap. 12, 1–3, in: Erich Köstermann (Hrsg.), P. Cornelii Taciti libri qui supersunt, tom. II fasc. 2: Germania, Agricola, Dialogus de oratoribus, Leipzig 1964, S. 12–13; Übersetzung von: Hans-Werner Goetz/Karl-Wilhelm Welwei (Hrsg.), Altes Germanien, Erster Teil (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 1a), Darmstadt 1995, S. 136–137; andere Übersetzung bei Herrmann/Perl (vgl. Kap. 2.2), S. 90–91.

Soweit dieser Bericht des Tacitus Glauben verdient, kannten die germanischen Stämme neben Fehde, Blutrache und privater Versöhnung noch andere Formen zur Beilegung rechtlicher Konflikte. Sie gingen über reine Familienangelegenheiten hinaus und waren Gegenstand von Versammlungen. Diese Beratungen der Stammesangehörigen nennt die Literatur Thing- oder Dingversammlung. Das „Ding“ im wörtlichen Sinne, die Sache nämlich, um die es dort ging, konnte durchaus ein Streit sein, den wir heute als rechtliche Auseinandersetzung ansehen würden. Offenbar durfte man dort andere Stammesmitglieder verklagen, wenn man ihnen todeswürdige Missetaten vorwarf. Im ersten Abschnitt der Quelle klingt das stark nach einer Art von Strafverfahren. Ob derjenige, der die Anklage erhob, hierzu in irgendeiner Weise ermächtigt sein musste, ist unwahrscheinlich. Vermutlich konnte jeder männliche freie Dingteilnehmer jeden anderen Stammesangehörigen öffentlich anklagen. Die Dinggenossen hatten sodann über diese Anklage zu beratschlagen und zu urteilen. Nach Tacitus verhängte die [<<38] Dingversammlung tatsächlich Todesurteile und vollstreckte sie auch. Die Taten, um die es hierbei ging, griffen wie gesagt über rein private und familiäre Konflikte hinaus. Die genannten Beispiele sind allesamt durch einen Gemeinschaftsbezug gekennzeichnet. Verrat, Fahnenflucht, Feigheit oder unkriegerische Weichheit mochten den Stamm gefährden, wenn er sich in Auseinandersetzungen mit befeindeten Gruppen oder Stämmen behaupten musste. Die corpore infames, die am Körper Verruchten, hatten ihr Leben ebenfalls verwirkt. Es könnte sich um Behinderte, vielleicht auch Homosexuelle gehandelt haben. Näheres bleibt unklar. Die Art der Hinrichtung spiegelte gleichsam das Vergehen wider, das die Dingversammlung den Tätern anlastete. Von kultischen oder religiösen Überhöhungen ist dabei keine Rede. Wenn aber bestimmte Taten durch die Hinrichtung ausdrücklich sichtbar gemacht wurden, scheint es doch die Vorstellung gegeben zu haben, durch das abschreckende Beispiel andere von ähnlichen Verfehlungen abzuhalten.

Hat man es hier mit dem ersten kleinen Finger obrigkeitlicher Gewalt zu tun? Darüber streitet die Forschung seit langem. Wie einige Autoren betonen, mögen selbst die von Tacitus genannten militärischen Vergehen durchaus noch mit einer privaten oder familiären Unrechtsverfolgung vereinbar gewesen sein. Wenn nämlich Familienverbände auf Kriegszügen als Kampfeinheiten auftraten, dann schädigte Feigheit vor dem Feind in erster Linie die eigenen Verwandten. Tötete man solche Abweichler, festigte dies zugleich den eigenen Kampf- und Familienverband. Doch diese Sichtweise vermag nicht zu erklären, warum die betroffenen Gruppen den Verräter aus den eigenen Reihen nicht einfach auslöschten, wie sie es mit einem Fehdegegner ja ebenfalls taten. Wenn man hierfür einer Versammlung und eines wie auch immer gearteten Verfahrens mit einer Entscheidung bedurfte, scheint die Angelegenheit wohl doch den rein familiären Rahmen überstiegen zu haben. In keiner Weise hat das etwas mit einem staatlichen Gewaltmonopol zu tun. Im Hinblick auf die Leitfragen liegt ein wichtiger Befund dennoch auf der Hand. Es war möglich, bestimmte Fragen, die heute als rechtliche Konflikte anzusehen wären, aus dem Kreis einzelner Beteiligter vor eine Institution zu bringen, die darüber beriet und entschied. Nicht alle Konflikte blieben Privatangelegenheiten, nicht überall herrschten blanke Gewalt und private Aussöhnung.

Bestätigt wird diese Sichtweise durch den zweiten Teil der Quellenstelle. Denn nicht nur Gemeinschaftsangelegenheiten, auch kleinere private Streitereien konnten vor die Dingversammlung gelangen. Die von Tacitus genannten leichteren Vergehen scheinen solche gewesen zu sein, die nicht den Stamm und seine Wehrkraft als solche gefährdeten. Hier standen in jedem Falle Fehde und Rachehandlungen offen, je nach Sachlage kam eine gütliche Einigung mit dem Gegner infrage. Wenn nach Tacitus’ Sicht die Dingversammlung für solche Taten, die nicht in Gemeinschaftsinteressen eingriffen, [<<39] eine poena verhängte, sprach sie auffälligerweise dieselben Folgen aus, auf die sich die Konfliktparteien bei ihren Sühneverhandlungen ebenfalls einigten. Die zum Ersatz gezahlten Pferde und andere Nutztiere sollten also auch im dinggenossenschaftlichen Rahmen Unfrieden beenden und das ruhige Zusammenleben in der Gemeinschaft von neuem befestigen.

Deswegen spricht einiges dafür, im dinggenossenschaftlichen Verfahren einen speziellen Fall von Sühneverhandlungen zu sehen. Die Fehdeparteien konnten also überlegen, ob sie einander bekämpften, ob sie in Ausgleichsgespräche eintraten oder ob sie die ganze Sache vor das Ding brachten. Im Beisein einer größeren Zahl von Stammesgenossen mochte es schwer fallen, sich vernünftigen Sühnevorschlägen zu verweigern. Deshalb könnte die Wahrscheinlichkeit, zu einer versöhnlichen Bußzahlung zu gelangen, gestiegen sein, wenn die Verhandlungen den Familienkreis verließen und vor der Gemeinschaft stattfanden. Bei dieser Sichtweise brauchte der Dinggenossenschaft selbst keinerlei Zwangsgewalt oder obrigkeitliche Autorität zuzukommen. Jede Seite konnte immer auch zur Gewalt schreiten, wenn sie mit einem dinggenossenschaftlichen Verfahren nicht einverstanden war oder die verhängte poena nicht hinnehmen wollte. Die vor dem Ding besprochene Zahlung von Vieh erscheint somit nicht als Gerichtsurteil oder gar Strafe, sondern eher als Entscheidungsvorschlag, auf den sich die Parteien einigen mochten oder auch nicht. Das dinggenossenschaftliche Verfahren fällt damit nicht aus dem Spannungsfeld von Selbsthilfe und Konsens heraus. In einer Zeit ohne obrigkeitliche Gewalt hing der Erfolg streitschlichtender Verfahren von der Zustimmung der Beteiligten ab. Gegen den Willen der Parteien konnte es keine Dingverhandlung geben, und wer mit einem Ergebnis nicht einverstanden war, schritt kurzerhand zur Fehde.

 

Ob es überhaupt die Pflicht gab, vor dem Ding zu erscheinen, wenn eine Anklage erhoben war, lässt sich nicht klären. Das altrömische Zwölftafelgesetz (um 450 v. Chr.) begann genau mit diesem Befehl. Wer vor Gericht gerufen war, sollte dort auch erscheinen. Doch in einer germanischen Stammesgesellschaft gab es niemanden, der so etwas hätte durchsetzen können. Die Mehrspurigkeit von Selbsthilfe und Gericht prägte die Geschichte der Rechtsdurchsetzung für viele Jahrhunderte. Die nachfolgenden Epochen zeigen freilich, wie die Autorität der Ding- bzw. Gerichtsversammlung stieg, die Handlungsmöglichkeiten der Parteien sich auf die Anrufung des Gerichts verengten und auch die Entscheidung selbst von einem bloßen Vorschlag immer stärker zu einem zwangsbewehrten Gebot erwuchs. Bis zur Grenze der Neuzeit lassen sich diese Linien verfolgen. Die Prozessrechtsgeschichte in der Zeit vor dem staatlichen Gewaltmonopol veranschaulicht damit, wie nach und nach die entstehende obrigkeitliche Gewalt Frieden erzwingt und ihre eigene Macht dadurch festigt, dass sie Gerichtsherrschaft ausübt. [<<40]

Bei Tacitus ist davon nichts zu sehen. Aber in der Quellenstelle taucht ein König auf, an den ein Teil der Bußzahlung fällt. Dieser Anführer scheint die größeren Dingversammlungen geleitet zu haben. Vielleicht bemühte er sich besonders, Streitparteien zu einer friedlichen Sühneleistung zu bewegen, vielleicht konnte er allein durch den dinggenossenschaftlichen Rahmen die Vergleichsbereitschaft erhöhen. Die Abgaben an den König wären in diesem Fall eine Art Vermittlungsgebühr gewesen. Im frühen 6. Jahrhundert sprach die fränkische Lex Salica vom fredus, vom Friedensgeld, das neben der Bußzahlung (faidus) zu leisten war. Sehr gewagt erscheint es dagegen, die Abgabe an den König als strafrechtliche Geldstrafe und die Zahlung an den jeweiligen Gegner als zivilrechtlichen Schadensersatz zu deuten. Mit keinem Wort legt die Quelle diese Sichtweise nahe. Vielmehr dürfte man es mit einem einheitlichen Streitschlichtungsverfahren zu tun haben. Zu viele juristische Subtilitäten scheint es nicht gegeben zu haben. Entsprechend wenig teilt Tacitus über die Gerichtsverfassung und das Prozessrecht mit. Bereits die modernen Termini wirken unpassend. Vermutlich nahmen am Ding alle waffenfähigen, freien, stammesangehörigen Männer teil. Ihre Zustimmung, mit einem mittelalterlichen Begriff Vollbort genannt, gaben sie kund, indem sie auf ihre Schilde schlugen. Ob sie die Möglichkeit besaßen, jemanden zu überführen, wie es in der Quelle heißt, erscheint zweifelhaft. Von Reinigungseiden und Spruchformeln ist dagegen ebenfalls keine Rede. Alles bleibt im Nebel. Dafür spricht Tacitus von principes, die in Dörfern und Gauen iura reddunt. Diese angeblich gewählten Fürsten oder schlicht Häuptlinge sollten nicht im Bereich des gesamten Stammes, sondern in kleineren Verbänden Rechte zurückgeben, wie es wörtlich heißt. Ob sie und ihre Begleiter, die der Quellentext zusätzlich anspricht, im dörflichen Rahmen dieselben Aufgaben erfüllten wie der König auf der Stammesversammlung und gleichermaßen Sühneverhandlungen erleichtern sollten, wird nicht deutlich. Jedenfalls wäre es grundfalsch, an verschiedene Ebenen der Gerichtsbarkeit oder gar an eine gestufte Gerichtsverfassung zu denken.

Es ist also nur wenig, was sich über Rechtsdurchsetzung, Gericht und Verfahren in der germanischen Zeit sagen lässt. Fehde, Selbsthilfe und Sühnezahlungen ersetzten funktional die nicht vorhandene obrigkeitliche Gerichtsgewalt. Dinggenossenschaftliche Streitschlichtungen standen jedermann offen, besaßen jedoch keine Zwangsgewalt und beruhten auf freiwilliger Mitwirkung aller Beteiligten. Die Hinrichtung bestimmter Abweichler und die Vermittlungszahlungen an den König bieten erste Ansätze dafür, wie Rechtsstreitigkeiten den rein privaten Rahmen übersteigen konnten. Gerade in ihrer verschwommenen Fremdheit sind diese wenigen Splitter der ältesten einheimischen Rechtsgeschichte besonders lehrreich. Wenn neuere Lehrbücher auf die Frühformen der Rechtsdurchsetzung verzichten, angeblich sogar aus didaktischen [<<41] Gründen, berauben sie sich selbst einer ganz wichtigen Vergleichsmöglichkeit. Die scheinbaren Selbstverständlichkeiten der modernen Rechtsordnung lassen sich nur dann gegen den Strich bürsten, wenn man den größtmöglichen Unterschied zum heutigen System im Auge behält. Und hierfür bieten die ältesten Quellen nicht nur eisenzeitlichen Ballast, sondern faszinierendes Anschauungsmaterial.

2.4 Fehde und Sühneleistungen seit der Völkerwanderungszeit

Gewalt und Versöhnung prägen die Geschichte der Rechtsdurchsetzung bis weit ins Mittelalter hinein. Vom Gerichtszwang ist dabei zunächst nicht viel zu sehen. Deswegen erscheint es sogar zweifelhaft, das Frühmittelalter als eigene rechtshistorische Epoche anzusehen. Traditionell spricht die Deutsche Rechtsgeschichte von der fränkischen Zeit. Sie beginnt mit der Völkerwanderung und endet mit dem Zerfall des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert. Die politischen Rahmenbedingungen waren im Vergleich zur römischen Eisenzeit nun ganz andere. Großreiche entstanden auf dem Boden des untergehenden römischen Imperiums. Der Übertritt zum Christentum eröffnete zugleich den Anschluss an kirchliche Verwaltungsstrukturen und an die lateinische Schriftkultur. Rechtshistorisch ändert sich vor allem die Quellenüberlieferung. In großer Zahl zeichneten germanische Stämme ihre Gewohnheiten und Rechte auf, häufig auf Befehl des Königs. Vom westgotischen Codex Euricianus (um 475 n. Chr.) bis hin zum Reichstag von Aachen (802) und darüber hinaus erstreckt sich eine über 300-jährige Zeitspanne lateinisch überlieferter germanischer Stammesrechte. Im 19. Jahrhundert sprach man romantisch und national begeistert von Volksrechten. Dann erschien diese Bezeichnung unpassend und man wich auf die lateinische Umschreibung als Leges oder Leges Barbarorum aus. Doch ist dieser aufgeheizte Streit inzwischen abgeklungen. Inwieweit der Begriff Germanen die Verhältnisse der Völkerwanderungszeit und des Frühmittelalters erfassen kann, steht ebenfalls in der Diskussion. Um einen Quellenterminus handelt es sich jedenfalls nicht.

Wichtiger als Periodisierung und Sprachklauberei bleibt allerdings der problemgeschichtliche Zugriff. Genau hier zeigen die so zahlreich überlieferten Stammesrechte nur die eine Seite der Medaille. Wie man die Leges auch deutet, gehören sie doch zu normativen Aufzeichnungen. Sie enthalten zahlreiche Sätze über Bußzahlungen und dinggenossenschaftliche Verhandlungen. Fehde, Gewalt, Selbsthilfe und eigenständige Sühnevereinbarungen tauchen nicht auf. Doch es gab sie weiterhin und mit Sicherheit in erheblich größerem Umfang, als die Rechtsaufzeichnungen vermuten lassen. Glücklicherweise werfen historiographische Quellen ein wenig Licht auf [<<42] die Rechtspraxis. Zweifelhaft sind freilich Überlieferungen, die deutlich nach dem geschilderten Ereignis unter ganz anderen Umständen aufgezeichnet wurden. So verhält es sich mit einem Bericht über das generale consilium, die Dingversammlung der Gesandten aus verschiedenen Gebieten der Altsachsen noch vor der Christianisierung. Dieser Stamm hatte im Gegensatz zu den übrigen Völkerschaften keinen König und war bis weit in das 8. Jahrhundert hinein noch nicht christianisiert. Angeblich kamen die Sachsen in einem Ort namens Marklo an der Weser zusammen. Dort „renovabant ibi leges, praecipuas causas adiudicabant“2. Sie erneuerten ihre Gesetze und urteilten über die wichtigsten Sachen. Doch ein heidnisches Volk ohne Schrift konnte kaum abstrakt-generelle Gesetze besitzen. Echte Gerichtsurteile, die über einen unverbindlichen Entscheidungsvorschlag der Dingversammlung hinausgingen, dürften ebenfalls ungebräuchlich gewesen sein. Die bekannte Quellenstelle entstammt der Vita Lebuini antiqua, einem Bericht über das Leben des Sachsenmissionars Lebuin (gest. um 780). Die Aufzeichnung entstand allerdings erst in der Mitte, vielleicht sogar in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts im kirchlichen Umfeld, Jahrzehnte nach dem Sieg Karls des Großen über die Sachsen. Die Schilderung ist überdies stark an antike Vorbilder angelehnt. Ein Gesandtenparlament in vorchristlicher Zeit, Gesetzgebung und Gerichtstätigkeit gibt die zweifelhafte Überlieferung nicht her.

2.4.1 Ein Blick auf Blutrache und Sühne im 6. Jahrhundert

Im Gegensatz zur zweifelhaften Vita Lebuini antiqua besitzen zeitgenössische Hinweise wie immer das größere Gewicht. Am berühmtesten wurde die Fehde des Sichar, ein Bericht aus dem 6. Jahrhundert. Seit langem sieht man hierin einen zentralen Text, um über die verschriftlichten Stammesrechte hinaus einen Blick auf die Rechtswirklichkeit der Merowingerzeit richten zu können.

Die Fehde des Sichar

VII, 47a. Graviab tunc inter Toronicosc cives bella civilia surrexerunt. Nam Sichariusd, Iohannis quondame filius, dum ad natalis dominicif solemnia apud Montalomaginsimg vicum cum Austrighyseloh reliquosquei pagenses caelebraret, presbiter loci misit puerum ad aliquorum hominum invitationemk, ut ad domum eius bibendi gratia venire deberintl. Veniente vero puero, unus ex his quim invitabantur, extracto gladio, eum ferire non metuitn. Qui statim cecidit et mortuuso est. Quod cum Sicharius audissetp, qui amicitias cum [<<43] presbitero retinebat, quod scilicet puer eiusq fuerit interfectus, arreptar arma ad eclesiam petit, Austrighyselums opperiens. Ille autem haec audiens, adpraehenso armorum apparatut, contra eum diregitu. Mixtisque omnibus, cum se pars utraque conlideritv, Sicharius inter clericosw ereptus, ad villam suam effugit, relictisx in domo presbiteri cum argentoy et vestimentis quattourz pueris sauciatis. Quo fugiente, Austrighyselusa iterum inruens, interfectis pueris, aurum argentumque cum reliquis rebus abstulit. Dehinc cumb in iudicio civium convenissentc et praeceptum essetd, ut Austrighyseluse, qui homicida erat et, interfectis pueris, res sine audientiaf diripuerat, censura legalig condempnaretur, inito placito, paucis infrah diebus Sicharius audiens, quod res, quas Austrighyselusi direpueratk, cum Aunonel et filio adque eius fratre Eberulfom retinerentur, postposito placito, coniunctusa Audino, motab seditione, cum armatis viris inruit super eos nocte, elisumquec hospicium, in quo dormiebant, patremd cum fratre et filio interemit resque eorum cum pecoribus, interfectisque servis, abduxit. Quod nos audientes, vehimentere ex hoc molesti, adiuncto iudice, mittimusf ad eos legationem, ut in nostri praesentiag venientes, accepta ratione, cum pace discederenth, ne iurgium in amplius pululareti. Quibus venientibus coniunctisquek civibus, ego aio: ‚Nolite, o viri, in sceleribus proficere, ne malumm longius extendatur. Perdidimusn enim aeclesiae filioso; metuemusp nunc, ne et aliosq in hac intentione careamus. Estoter, quaeso, pacificis; et qui malum gessit, stante caritate, conponat, ut sitis filiit pacifici, qui digni sitisu regnov Dei, ipso Dominow tribuente, percipere. Sic enim ipsex ait: Beati pacifici, quoniam filiiy Dei vocabuntur. Ecce enim! etsi illiz, quia noxae subditur, minor est facultas, argento aeclesiaeb redemiturc; interim anima viri non pereat‘. Et haec dicens, optulid argentume aeclesiae; sed pars Chramnesindif, quaeg mortem patris fratrisqueh et patrui requirebat, acceperei noluit. Hisk discedentibus, Sicharius iter, ut ad regem ambularetl, praeparat, et ob hoc Pectavumm ad uxorem cernendam proficiscitur. Cumquen servum, ut exerceret operao, commoneret elevatamquep virgam ictibus verberaretq, ille, extracto baltei gladio, dominum sauciarer non metuit. Quos in terrat ruente, currentesu amici adpraehensum servum crudeliterv caesum, truncatis manibus et pedibus, patibolow damnaverunt.

Interim sonus in Toronicumx exiit, Sicharium fuisse defunctum. Cum autem haec Chramnesindusy audissetz, commonitis parentibus et amicis, ad domum eius properat. Quibusa spoliatis, interemptis nonnullisb servorum, domus omnes tam Sicharic quam reliquorum, qui participes huius villae erant, incendio concremavit, abducensd secum pecora vel quaecumque moveree potuit. Tunc partes af iudice ad civitatem deductae, causas proprias prolocunturg; inventumque est a iudicibus, ut, qui nollensh acceperei prius conpositionem domusa incendiis tradeditb, medietatem praetiic, quod ei fuerat iudicatum, amitteret – et hoc contra legisd actum, ut tantum pacifici redderenture – aliamf verog medietatem conpositionish Sicharius reddereti. Tunc datumk ab aeclesia [<<44] argentum, quae iudicaverantl, accepta securitatem, conposuit, datis sibi partesn invicem sacramentis, ut nullo umquam tempore contra alterum pars aliao musitaretp. Et sic altercatio terminum fecit.

 

IX, 19a. Bellum vero illud, quod inter cives Toronicusb superius diximus terminatum, in rediviva rursum insania surgit. Nam Sichariusc, cum post interfectionem parentum Chramisindid magnam cum eo amicitiam patravissete et in tantum se caritate mutua diligerent, ut plerumque simul cibum caperent ac in uno pariter stratuf recumberent, quadamg die cenam sub nocturno tempore praeparat Chramisindush, invitans Sicharium ad epuluma suum. Quob veniente, residentc pariter ad convivium. Cumque Sichariusd crapulatus a vino multa iactaret in Chramisindoe, ad extremum dixisse fertur: ‚Magnasf mihi debes referre gratesg, o dulcissime frater, eo quod interfecerimh parentes tuos, de quibus accepta compositione, aurum argentumque superabundati in domum tuam, et nudusk nunc essisl et egens, nisi haec te causa paululum roborassitm‘. Haec ille audiens, amaron suscepit animo dicta Sichario dixitque in corde suo: ‚Nisi ulciscar interitump parentum meorum, amittereq nomen viri debeo et mulier infirma vocarer‘. Et statim extinctis luminaribuss, caputt Sichario secau dividit. Qui parvolamv in ipso vitae terminow vocem emittens, cecidit et mortuus est. Pueri vero, qui cum eo venerant, dilabunturx. Chramisindusy exanimumz corpus nudatum vestimentis adpendit in saepis stipitea, ascensisque aequitibusb eius, adc regem petiitd; ingressusque aeclesiae, ad pedes prosterniturf regis, dicens: ‚Vitam peto, o glorioseg rex, eo quod occiderim hominesh, qui, parentesi meus clamk interfectis, res omnes diripuerunt‘. Cumque, expositis per ordinem causis, regina Brunechildisl graviter accepissetm, eo quod in eius verbo Sichariusn positus taliter fuerato interfectus, frendere in eum coepit. Atp ille, cum vidisset eam adversamq sibi, Vosagensimr territuriis Biturigit pagum expetiit, in quou etv eius parentes degebant, eo quod in regno Guntchramniw regis haberetur. Tranquilla quoque, coniuxx Sichariy, relictis filiis et rebus viri sui in Toronicoz sive in Pectavo, ad parentes suos Mauriopes vicum expetiit; ibique eta matrimonio copulata est. Obiit autem Sicharius quasi annorum XX. Fuit autem in vita sua levis, ebriosus, homicida, qui nonnullis per ebrietatem iniuriam intulitb. Chramisindusc vero iterum ad regem abiit, iudicatumqued est ei, ut convincerete super se eum interfecissef. Quod ita fecit. Sed quoniamg, ut diximus, reginaa Brunechildisb in verbo suo posuerat Sicharium, ideoque res huius confiscaric praecepit; sed in posterum a Flaviano domestico redditae sunt. Sed et add Aginume properans, epistolam eius elicuit, ut a nullof contingeretur. Ipsig enim res eius a regina concessaeh fuerant.

VII. Cap. […] 47. A 1. B 1. 2. (D). Cap. 47. a) caput om. codices C. b) Graviter A 1. c) Turon. A 1. D. d) Sycharius D 2. e) qdam A 1. f) dominicis D 2. g) ita A 1 (corr. e Montalomagiinsim); Montalomagensim D 3. 4; Montalomagensem B 1. 2. h) Austrighysilo B 2; Austrigisilo D; Astrigisilo [<<45] A 1. i) rel. pagensis B 2; reliquisque pagensibus D 2 (non D 3). k) invitatione D 3. 4. l) deberent A 1. D. m) a quibus pro qui D 3. 4. n) metui | (t m. al. add.) B 1. o) mortuos B 2. p) audissit B 1. q) (eius om.) fuerat A 1. r) arreptis armis (ad om.) D 2 (non D 3). s) Austrigisil. deinceps constanter fere A 1. D. t) apar. B 2, corr. u) dirigit A 1. D. v) colliderit A 1; con(l)lideret D. w) clericus B 2; cleros A 1. x) relatus A 1. y) argentum A 1. z) quatuor B 2. a) Austrighiselus B 2; Austragisilus D 4. b) cui pro cum in B 1. 2. c) convenisset A 1. d) essit B 1. e) Austrighisilus B 2; Austrigilus D 4. f) audienciam B 2. g) legalia A 1. h) intra A 1. i) Austrighiselus B 2. k) deripuerat B 2; diripuerat A 1. D. l) Aunone et f. atque A 1; atque etiam D. m) Eberulfo B 2; Berulfo A 1. – [Seitenwechsel in Vorlage]VII. Cap. 47. A 1. B 1. 2. (D). Cap. 47. a) coniunct (us m. al. in litura) B 1. b) moda pr. m. B 1. c) aelisumque h. D 3. 4; elisoque hospitio D 2. d) patre A 1. e) vehementer A 1. D. f) leg. ad eos mitt. (mittemus B 2) B 1. 2. g) praesentiam D. h) discenderent B 2. i) polularet B 2; pullularet A 1. D 2. 4; pullularent D 3. k) coniunctis qui B 1, corr.; coniunctisque civ. om. D 3. l) nolite quiri B 1. 2. m) malo A 1; in add. D 2 (non D 3). n) perdedimus B 2. o) filius B 2. p) metuimus D 2. q) alius B 2; aliis D 2; nunc nec aliquos in A 1. r) stote B 2. s) pafici et q. m. iessit A 1. t) fili B 1. D 3. u) scitis A 1, corr. v) ita B 1. 2; regnum A 1. D. w) om. A 1. x) ipsi B 2. y) ita B 1 (ubi fili). 2; qu. ipsorum est regnum c(a)elorum. Ecce A 1. D (e Matthaeo 5, 3.10). z) ille B 1. a) om. A 1. b) ita B 1. 2. c) redimitur A 1. D 3. 4; redimetur D 2. d) obtuli D 2. 3; obtulit A 1. D 4. e) argento D 3. f) Chramnisindi A 1. D 2. 4; Chrannisindi D 3. g) qui B 1. 2. h) fratresque et p. requerebat B 2. i) accipere A 1 D. k) His disced. om. D. l) ambularit B 1. m) Pictavum (sed vum m. al. in ras. A 1) A 1. D. n) eumque serv. (ut om.) A 1. o) operam D. p) elevataque virga D 2. q) verbararet (?) pr. m. B 1. r) sautiare B 1. s) Quod B 2. t) ita A 1. D; terram B 1. 2. u) curr::ntes A 1. v) crudiliter B 1, corr. w) patibulo D; pativulo A 1. x) Toronocum B 1; Turonicum A 1. D. y) Chramnisindus A 1. D 2. 4; Crannisindus D 3. z) audissit B 1. a) Qui expoliatis B 2. b) nonnulli A 1. c) ita A 1. B 1. D 3. 4; Sicharii B 2. (D 2). d) adducens A 1. D 4. e) moveri B 2. f) ad D 4. g) proloquuntur A 1. D 3. h) corr. e nolens A 1. i) accipere A 1. D. – [Seitenwechsel in Vorlage] VII. Cap. 47. A 1. B 1. 2. (D). […] Cap. 47. a) domos D. b) tradidit A 1. D. c.) praecii B 1. 2. d) leges D. e) redirentur A 1. f) alia B 1. 2. g) om. D. h) conposiciones B 2. i) rediret A 1; reddered B 2. k) dato – argento D 2. l) iudicaverunt B 1. 2. m) securita(te m. al. suppl.) B 2. n) partem A 1. o) altera D 2. p) mussitaret B 1.

IX. Cap. […] 19. A 1. B 2. (D). Cap. 19. a) caput om. codices C. b) Turonicos A 1. D. c) Sicharus A 1. d) Cramisindi D 2. 3; Chraminsindi D 1; Chramsindi (corr. e Crams. B 2) A 1. B 2. e) patravissed B 2; patravissent D 3. f) strato D 2. 3. g) quandam B 2. h) Chrāmisindus A 1; Chraminsindus D 1; Cramisindus D 3; Cramissindus D 2; Chramsindus B 2. – [Seitenwechsel in Vorlage] IX. Cap. 19. A 1. B 2. (D). Cap. 19. a) aepulum A 1. D 1. b) cum B 2, corr. c) resedent A 1. d) Sicharus A 1. e) C(h superscr.)ramsindo B 2; Gramisindum A 1; Chraminsindum D 1; Cramisindum D 2. 4; Crasimindum D 3. f) Magna A 1. g) grat B 2. h) interficerem B 2. i) corr. superhabundat B 2. k) nunc nudus B 2. D 3. 4 (non D 1). l) ita B 2.; esisset egens A 1; esses et eg. D. m) roborasset A 1. D. n) amare B 2. D 3. 4. o) Sicharii D 1. p) interitu parentorum A 1, fortasse recte; mortem p. D 1. q) amitteri B 2. r) vocari A 1. D. s) luminibus A 1, corr. t) capud D 3. 4. u) sica div. D 1. 2; sicca div. D 3; sicam div. D 4; sic adivit A 1. v) parvulam A 1. D. w) terminum B 2, corr. x) delabuntur A 1. y) ita A 1. D 3. 4; Chraminsindus D 1; C(h superscr.)ramsindus B 2. z) exanime A 1. a) cespite A 1. b) equis A 1. D 2 (non D 1). c) om. D 2. d) ita B 2. D 1. 3; petit A 1. D 4. e) (a)ecclesiam A 1. D. f) prosternetur B 2. g) gloriose A 1. h) [<<46] omines B 2. i) parentibus meis A 1. D. k) chlam B 2. l) Brunichildis D 1. 2; Brunieldis A 1. D 3. m) accipisset B 2. n) Richarius B 2. o) fuerit int. D 2; fuisset operatus D 3. 4. p) et ille cǒm vidissed B 2. q) aversam A 1. r) Vosagensem D 2. s) teriturii B 2; territorii A 1. D. t) Biturgi B 2; Biturici A 1; Bituri D 3. u) co B 2. v) om. A 1. D. w) ita scripsi; Guntheramno corr. Guntheramni B 2; Gunthramni A 1. x) conius B 2; coniunx A 1; uxor D 1. y) ita A 1. D 3. 4; Sicharii rell. z) Turonico s. in Pictavo A 1. D. a) (et om.) matremunio cupulata B 2. b) intullit B 2; tulit D 2. 3. c) ita A 1; Cramisindus (Crammis. D 3) D (2). 3. 4; Chraminsindus D 1; Chramis. – abiit om. B 2; ad regem om. D 3. d) que om. B 2. e) convincerat B 2. f) eum et interficere A 1. g) quod B 2. – [Seitenwechsel in Vorlage] IX. Cap. 19. A 1. B 2. (D). […] Cap. 19. a) regi B 2. b) Brunecihldis B 2; Brunichildis D 1. 2; Brunieldis A 1. D 3. c) confischari pr. B 2; confiscali pcipit D 3. 4. d) om. A 1. D 1. e) Agynum A 1. D 2; Aginnum D 1. f) nulo B 2. g) ipse B 2. h) concessum fuerat B 2; concess(a)e sunt A 1. D 3.