Die Zerstörung der EU

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DIE EINZIGARTIGE RETTUNG DER IBERISCHEN HALBINSEL

Es gibt noch zwei Länder, auf deren aktuelles Wachstum die EU hinweist, wenn sie begründen will, wie sehr ihre Politik staatlichen Sparens sich bewährt: Spanien und Portugal. (Irland ist als wichtigste verbliebene EU-Steueroase ein extremer Sonderfall, den man nicht einmal seitens der EU fürs Gegenteil reklamiert, weil klar ist, dass sich jedes Land sanieren kann, indem es andere Volkswirtschaften um Steuereinnahmen bringt.)

Wie Griechenland lag Spanien, das ich auch persönlich recht gut kenne, in seiner wirtschaftlichen Entwicklung deutlich hinter den Staaten Mitteleuropas zurück. Nicht weil seine Bevölkerung faul oder untüchtig wäre, sondern weil es bis 1975 unter Francisco Franco eine ziemlich abgeschottete Diktatur gewesen ist. Als es 1986 der EU beitrat, waren die industriellen Branchen, in denen sich große wirtschaftliche Erfolge erzielen ließen – von der Metall- über die Automobil- bis zur chemischen Industrie –, bereits von deutschen, englischen, französischen, Schweizer oder italienischen Unternehmen besetzt. Und selbst in den „Nischen“ hatten bereits etwa Betriebe aus Österreich die besten Plätze inne.

Spanien musste sich mit dem zufrieden geben, was übrig blieb. Seine wichtigste Industrie besteht aus Automobil-Produktionsanlagen, die ausländischen Konzernen (Volkswagen, Ford usw.) gehören. Dazu gibt es eine höchst erfolgreiche Bekleidungsindustrie (Zara, Mango, Desigual, Massimo Dutti), die freilich fast nur im Ausland produziert. Neben dem Tourismus ist seine Landwirtschaft für einen bis heute viel zu großen Teil des BIP verantwortlich. Das aber ist ein grundsätzliches Problem: In der Landwirtschaft gab es sehr viel geringere Produktivitätsfortschritte als in der Industrie, so dass sie den Wohlstand sehr viel weniger steigern konnte..

Eigenständig hat sich neben der Bekleidungsindustrie aus dem Tourismus heraus nur eine auch im europäischen Vergleich starke Bauindustrie entwickelt, der relativ starke, auch in Lateinamerika erfolgreiche Banken zur Seite standen. Als Spaniens Beitritt zum Euro Kredite für Spanier wesentlich verbilligte, führte das im Verein mit billigem Baugrund zu einem extremen Bauboom. Viele Spanier meinten, voran Andalusien würde zum Florida Europas und seine Küsten wurden aufs Grässlichste verbaut. Jeder zweite Spanier glaubte, reich zu werden, indem er in Ferienwohnungen investierte.

Es entstand – anders als in den USA, aber ähnlich gefährlich – eine Immobilienblase, die dafür sorgte, dass die bis dahin hohe Arbeitslosigkeit massiv zurückging und die Löhne sich über Gebühr erhöhten: Sie stiegen – freilich von einem niedrigen Niveau ausgehend – bis 2007 fünf Mal stärker als die Produktivität.

Das Platzen dieser Immobilienblase, das mit der „Finanzkrise“ eher zufällig einherging, musste daher für Spanien zu einem gewaltigen Problem werden: Allein die Beschäftigung sank um eine Million Arbeitskräfte.

Allerdings – und das ist bei der Beurteilung der Ausgangslage des Landes mit zu bedenken – war es, im Gegensatz zu Nord-, West- und Mitteleuropa, kaum von den direkten Auswirkungen der Finanzkrise betroffen: Seine Banken hatten fast keine der toxischen US-Wertpapiere in ihren Tresoren, die deutsche, englische, französische oder österreichische Banken so sehr in Schwierigkeiten brachten, dass sie „gerettet“ werden mussten.

Die platzende Immobilienblase

Dennoch: Ein sehr großer Teil der spanischen Bankmisere war hausgemacht. Wenn auch einmal mehr mit gewaltiger deutscher Unterstützung: Nicht zuletzt deutsche Banken liehen, ähnlich wie in Griechenland, spanischen Banken Geld für deren viel zu leichtfertig vergebene Kredite. Und die spanische Bevölkerung investierte nicht nur in viel zu viel Beton, sondern sie verschuldete sich auch viel zu hoch, um voran deutsche Autos zu kaufen.

Als die Finanzkrise die Zinsen steigen ließ, vermochten die privat viel zu hoch verschuldeten Spanier ihre Hypothekarkredite nicht mehr zu bedienen; die Immobilienblase platzte und viele Banken gerieten nun wie in den USA massiv ins Wanken, so dass sie trotz des Fehlens toxischer Wertpapiere gerettet werden mussten.

Wie sieht es nun mit der Erholung Spaniens durch „Sparen“ und „Strukturreformen“ aus?

Spaniens Entwicklung als grafisches Schaubild


Quelle: The World Bank

Spaniens reales BIP pro Kopf, das 2007 dank des unnatürlichen Baubooms bei 34.329 US-Dollar lag, stürzte trotz des sparenden Staates (in Wirklichkeit wegen des sparenden Staates) bis 2013 ungebremst auf 30.679 US-Dollar ab, ehe es sich bis 2017 mit 34.272 US-Dollar wieder auf sein Ausgangsniveau erhöhte.

• Am stärksten hat sich, wie überall in den sparenden Staaten, die Arbeitslosigkeit erhöht: Lag sie 2006 aufgrund des Baubooms bei bis dahin rekordniedrigen 8,4 Prozent, so schnellte sie 2013 auf rekordhohe 26 Prozent hoch – lag aber 2017 bei immer noch dramatischen 17,2 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit erreichte gespenstische 38 Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen, die aussagekräftiger als die der Arbeitslosen ist, sank von 20,58 Millionen im Jahr 2007 auf 18,86 im Jahr 2017.

• Am Rande stieg, wie in allen sparenden Ländern mit Ausnahme Deutschlands, die Staatsschuldenquote von 69,5 Prozent noch im Jahr 2011 auf 100,37 Prozent im Jahr 2014 und liegt auch heute noch bei 98,4 Prozent, obwohl Spanien unverändert viel zu wenig für Forschung und Entwicklung ausgibt und kaum in die Zukunft investiert.

Der wahre Grund der Erholung

Der ab 2014 einsetzende eindrucksvolle Wiederanstieg des BIP hat leider fast ausschließlich eine Ursache: Spaniens Tourismus erlebte einen einzigartigen Boom. Weil alle Sonne-Meer-Destinationen Afrikas, aber auch jene der Türkei von Terror heimgesucht wurden, erreichte die Iberische Halbinsel nie dagewesene Nächtigungszahlen. Und weil der Tourismus in Spanien (anders als in Italien) nicht weniger als 14,9 Prozent des BIP bedingt, konnte es entsprechend zulegen. Ähnliches gilt für die Arbeitslosigkeit: Weil Tourismus die mit Abstand beschäftigungsintensivste aller Branchen ist, schnellte die Zahl der dort Beschäftigen in den letzten drei Jahren von 1,9 auf 2,2 Millionen hoch. Dennoch sind immer noch 17 Prozent aller Spanier und ist ein Drittel der 15- bis 24-Jährigen arbeitslos. Und wie in Griechenland sind selbst diese Horrorzahlen noch geschönt, da sie die Auswanderung viel zu wenig berücksichtigen: Während die Regierung 2015 offiziell z. B. die Auswanderung von 9792 Personen nach Großbritannien bekanntgab, meldeten sich dort 50.260 Spanier zur Arbeit bereit.

Die Industrieproduktion, die alleine echte Erholung und vielleicht einen positiven Strukturwandel signalisiert hätte, lag 2017 hingegen um ein Viertel unter dem Wert von 2008.

Dennoch hat Spanien aus der Krise gelernt: Die zu allen Zeiten habsburgisch ausufernde Bürokratie wurde ein wenig abgebaut. Der extrem unflexible Arbeitsmarkt, der Abfertigungen von bis zu zwei Jahresgehältern vorsah, wurde schon unter dem Sozialdemokraten José Luis Zapatero so weit reformiert, dass Unternehmen es wieder riskierten, jemanden anzustellen; die Löhne sanken um 15 Prozent und liegen der Produktivität wieder etwas näher, vermindern freilich die Kaufkraft. Aber das alles ist schon vor dem Beschluss des Sparpaktes passiert – er selbst hat auch Spaniens Erholung einmal mehr nur gebremst.

Portugal spart etwas weniger – und fährt etwas besser

Recht ähnlich wie Spaniens Wirtschaftsgeschichte verlief auch die Portugals. Auch dieser Teil der Iberischen Halbinsel war bis 1975 eine Diktatur und industriell entsprechend zurückgeblieben. Auch dort bedingen Landwirtschaft und Tourismus einen viel zu großen Teil des BIP. Auch dort gab es kaum toxische Wertpapiere bei den Banken und einen etwas zu heftigen Bau- und Autokaufboom angesichts der Euro-Einführung, auch wenn die Fehlinvestitionen in Beton nie spanisches Niveau erreichten.

Dementsprechend fiel auch die Krise etwas sanfter aus. Von 27.575 US-Dollar im Jahr 2007 ging das reale BIP pro Kopf „nur“ auf 26.743 US-Dollar im Jahr 2009 zurück, erholte sich bis 2011 auf 27.238 US-Dollar, um dann wegen des Sparpaktes bis 2013 auf 25.654 US-Dollar abzusacken, ehe auch dort die Erholung dank Tourismus einsetzte und es 2017 mit 27.936 US-Dollar sogar über die Ausgangshöhe steigen ließ.

Denn anders als die spanische Rechtsregierung Mariano Rajoys hat Portugals Linksregierung ab 2015 den Sparpakt gegen alle Warnungen der EU-Kommission und Deutschlands in aller Stille missachtet, indem sie die Lohnsteuern gesenkt und ihre Beamten höher entlohnt hat – was auch den privaten Betrieben Anstoß zu Lohnerhöhungen gewesen ist. Prompt beendete nicht nur das BIP seinen Sinkflug deutlicher als in Spanien, sondern halbierte sich die Arbeitslosigkeit sogar von 16 auf acht Prozent. Dennoch sagt einmal mehr die Zahl der Beschäftigten mehr über den wirtschaftlichen Zustand des Landes aus: von 5,1 Millionen sank sie auf 4,8 Millionen.

Der Sparpakt hat somit in Spanien und Portugal nicht zu einer raschen Erholung, sondern, im Gegenteil, zu einer besonders langsamen Erholung geführt. Nur das Tourismus-Wunder hat beide Länder gerettet.

Nun werden Sie vielleicht dennoch einwenden, dass es unfair ist, den Extremfall Griechenlands, Italiens oder selbst Frankreichs als beispielhaft für die Wirtschaftspolitik der Eurozone anzuführen, obwohl es – siehe Experimentum Crucis – in der Wissenschaft die Norm ist, eine These unter den extremsten Voraussetzungen zu überprüfen. Aber der Einwand hat in jedem Fall keine ziffernmäßige Basis. Die zentrale Erfahrung aus Griechenland trifft nämlich auf die gesamte Eurozone zu – bei allen Mitgliedern, selbst in Deutschland und sehr wohl auch in Österreich, hat das intensivierte Sparen des Staates, welches im Jänner 2012 auf Initiative Angela Merkels mit dem Sparpakt zementiert wurde, das bereits wieder kräftige Wachstum des BIP massiv eingebremst. Die Staatsschuldenquoten stiegen ab 2014 aufgrund der Wachstumsschwäche fast durchwegs – mit Ausnahme Deutschlands, worauf ich später ausführlich eingehe – um ein paar Prozentpunkte an. Ich greife die Niederlande als eines von vielen Beispielen heraus; 2011, vor dem Sparpakt, hatte seine Staatsschuldenquote 61,6 Prozent betragen, 2014, nach zwei Jahren Sparens, betrug sie 68 Prozent. In Österreich stieg sie im gleichen Zeitraum von 82,4 auf 84 Prozent. Selbst in Deutschland war sie 2012 höher als 2011.

 

Christian Ortner (siehe www.ortneronline.at, „Das Zentralorgan des Neoliberalismus“) meint, der dürftige Erfolg des Sparens beruhe darauf, dass die genannten südlichen Staaten gar nicht wirklich – ihre Budgets zeigten es – gespart hätten. In Wirklichkeit bestätigte sich, was der österreichische Nationalökonom Erich W. Streissler behauptet hatte: „In der Krise kann der Staat nicht sparen.“ Die Budgetansätze, die jeweils sehr wohl Einsparungen vorsahen, konnten nie eingehalten werden, weil die wegen Sparens schlechter funktionierende Wirtschaft relativ geringere Steuereinnahmen bedingte und die steigende Arbeitslosigkeit gleichzeitig zu höheren Ausgaben für Arbeitslosengeld bzw. Sozialhilfe führte. Ich werde später ausführen, warum das mathematisch zwingend so sein muss und denkunmöglich anders sein kann.

WIE DER SPARPAKT ÖSTERREICH SCHADET

Wahrscheinlich ist Österreich das anschaulichste Beispiel dafür, wie Sparen des Staates auch einer sehr starken, sehr gut strukturierten Wirtschaft schadet und wie nicht einmal Österreich, das ebenfalls „Lohnzurückhaltung“, wenn auch nicht im deutschen Ausmaß, geübt hat, diesen Nachteil ganz wegstecken kann. Das Schaubild sagt mehr als alle Worte:


Quelle: The World Bank

Auch in Österreich ist das reale BIP pro Kopf des Jahres 2008 von stolzen 44.441 US-Dollar 2009 deutlich um 1790 US-Dollar zurückgegangen. Aber schon 2011 hatte es dank eines von den Sozialpartnern besonders geschickt geschnürten Investitionspakets mit 44.452 US-Dollar wieder die alte Höhe erreicht. Danach wurde der im Jänner 2012 beschlossene Sparpakt wirksam und der Aufstieg war zu Ende und ging, anders als in Großbritannien, das den Sparpakt verweigerte, bis 2016 in eine abwärts gerichtete Seitwärtsbewegung über, ehe die rundum etwas bessere Konjunktur im Verein mit Exporterfolgen dank „Lohnzurückhaltung“ 2017 eine Steigerung auf 45.436 US-Dollar mit sich brachte. Deutschland freilich, das noch 2008 mit 40.989 US-Dollar pro Kopf klar hinter Österreich lag, hat dank seines so exzessiven Lohndumpings bis 2017 mit 45.229 US-Dollar pro Kopf so gut wie gleichgezogen. Das United Kingdom, das dem Sparpakt nicht beitrat und durch Lohndumping keine Marktanteile verlor, entwickelt sich wesentlich kontinuierlicher.

Die Deutschen halten grundsätzlich das für optimale Wirtschaftspolitik, was ihnen nutzt, andere einzuholen und demnächst zu überholen, auch wenn es andere Länder, die sich, wie Frankreich, korrekt und vereinbarungsgemäß verhalten, die größten Probleme bereitet und Italien an den Rand des Zusammenbruchs führt.

Österreich hat einen halben Anschluss an Deutschlands Politik vollzogen – daher ist der Schaden noch nicht so spürbar, wie er es in zehn Jahren sein wird. Es hat noch keinen Salvini und es steht noch keine Marine Le Pen vor der Tür. Allerdings sitzt die Strache-FPÖ in der Regierung, wird aber vorerst von einer neoliberalen ÖVP in Schach gehalten. Wenn die Regierung aber ihre derzeitige Wirtschaftspolitik fortsetzt, könnte der Vorsprung in absehbarer Zeit schmelzen: Sparen des Staates ist wirtschaftlich schlichtweg dumm. Ich werde nach den empirischen Belegen den mathematischen Beweis dafür liefern.

Es ist allerdings möglich, dass die Deutschen den Wahnsinn ihrer Wirtschaftspolitik früher, als von mir erwartet, am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es ist zwar noch nicht sicher, aber durchaus möglich, dass eine Delle in der deutschen Konjunktur, die im November 2018 erstmals sichtbar wurde, sich zur innerdeutschen Rezession ausweitet, weil die Wachstumsschwäche aller anderen EU-Volkswirtschaften auch Deutschlands eigene Wirtschaft nicht mehr wachsen lässt.

Wird die Delle der deutschen Konjunktur zur gemeinsamen Rezession?

„Die fetten Jahre sind vorbei“, verkündete Finanzminister Olaf Scholz und bezog sich damit zweifellos auf Deutschland – denn für Frankreich, Italien oder Spanien konnte von „fetten Jahren“ schwerlich die Rede sein. Wenn seine Aussage stimmt, gilt sie jedoch sehr wohl für Österreich, denn Deutschland ist sein mit Abstand größter Handelspartner: Wenn Deutschlands Industrie zu boomen aufhört, schwächelt Österreichs Zulieferindustrie zwingend mit.

Scholz Sorge liegen folgende Zahlen zugrunde: Auch im November 2018 ist die Produktion der deutschen Industrie entgegen der Erwartung von Fachleuten – nicht entgegen meinen Erwartungen – geschrumpft: Deutsche Unternehmen haben 1,9 Prozent weniger als im Vormonat hergestellt. Das ist, was die Industrie betrifft, bereits der dritte Rückgang in Folge, doch davor war davon öffentlich kaum die Rede. Diesmal aber sah auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung darin „mehr als eine Randnotiz, weil die gesamte deutsche Wirtschaft im dritten Quartal 2018 um 0,2 Prozent geschrumpft ist. Die neuen Zahlen der Industrie lassen auch deshalb hellhörig werden, weil nicht nur die Autoindustrie, die noch immer unter der Umstellung auf neue Abgastests leidet, schlechte Ergebnisse lieferte. Der Rückgang betrifft vielmehr sämtliche Bereiche: Bauproduktion, Maschinenbau sowie Konsumgüterhersteller.“

Ich war hier schon etwas früher hellhörig: Schon als Deutschlands Medien die leise Delle in Deutschlands Konjunktur mit Donald Trumps „Protektionismus“ begründeten, meldete ich Zweifel an: Sein Zoll auf Aluminium und Stahl hat Deutschland höchstens hinterm Komma getroffen. Ich erwartete die Delle vielmehr grundsätzlich: weil es nicht möglich ist, dauerhaft gegen die Saldenmechanik zu verstoßen. Selbst wenn sich Scholz’ Sorge im kommenden Quartal noch einmal als unbegründet erweisen sollte, ist sie früher oder später unabwendbar: Man kann einer großen volkswirtschaftlichen Zone wie der EU denkunmöglich „Sparen des Staates“ verordnen, ohne dass irgendwann auch die Konjunktur des Landes leidet, das diese Politik initiiert hat und bisher nur deshalb von ihren Folgen verschont blieb, weil es durch seine gleichzeitige Lohnpolitik anderen Volkswirtschaften Marktanteile abgejagt hat und die Stagnation innerhalb der EU zudem durch Mehrverkäufe in die USA, nach Russland oder China mehr als wettmachen konnte.

Wenn einer der drei großen Einkäufer jeder Volkswirtschaft – Endverbraucher, Unternehmen oder Staat – aufgrund eines Sparpaktes weniger einkauft, ist Mehrverkauf denkunmöglich, sofern man nicht einen neuen zusätzlichen Einkäufer bzw. Schuldner findet. China, Russland, die USA waren für eine Weile diese zusätzlichen Einkäufer. Aber irgendwann ist dort nicht mehr so viel zu holen, wie der Sparpakt die EU an Einkäufen kostet.

Dass es vielleicht schon jetzt im Frühjahr 2019 so weit ist, hängt einmal mehr mit Deutschlands Politik zusammen: Donald Trumps Auto-Zoll-Pläne, die zweifellos auf Deutschlands Konjunktur drücken, sind ja nichts als die Reaktion auf Deutschlands abenteuerlichen Zahlungsbilanzüberschuss gegenüber den USA. Und dass deutsche Exporte nach China nicht mehr wie zuvor wachsen, hat natürlich vor allem damit zu tun, dass auch Chinas Exporte in die sparende EU nicht mehr wie zuvor wachsen.

Ich gebe die Hoffnung nicht völlig auf, dass das irgendwann auch Olaf Scholz und Angela Merkel, Hartwig Löger und Sebastian Kurz begreifen: Es ist die dumme deutsche Sparpolitik und sadomasochistische Lohnpolitik, die die Rezession herbeiführt, die vielleicht schon 2019 in Deutschland Wirklichkeit wird.

Wie können intelligente Menschen glauben, dass es die Konjunktur dauerhaft befördert, wenn ein großer Teil der Arbeitnehmer des größten europäischen Marktes – Deutschland – dank „Lohnzurückhaltung“ Reallohnverluste erleiden? Wie können intelligente Menschen glauben, dass „Überschüsse“ im Staatshaushalt – also Gelder, die Staaten sparen, statt sie zu investieren – die Konjunktur befördern?

Zum Leidwesen der Euro-Zone, der ich das schwierigste Jahr ihrer Geschichte prophezeie, ist der angerichtete Schaden nur unendlich schwer zu reparieren: Den Sparpakt kann man noch relativ einfach ad acta legen, so dass er zumindest keinen weiteren Schaden anrichtet – aber der bereits angerichtete bleibt bestehen und wirkt fort. Doch fast unmöglich scheint es mir, die wirtschaftliche Zerstörung zu revidieren, die Deutschlands „Lohnzurückhaltung“ in Frankreich oder in Italien angerichtet hat: Um die verlorenen Marktanteile zurückzugewinnen, müssten die betroffenen Länder ihr Lohnniveau, wie ausgeführt, um 25 (Frankreich) bis 35 (Italien) Prozent absenken. Das aber ließe die Inlandskonjunktur in der Sekunde zusammenbrechen und wäre von Revolutionen begleitet, neben denen sich die Proteste der „Gelbwesten“ zahm und geordnet ausnähmen.

Ich weiß jedenfalls nicht, was Marine Le Pen und Matteo Salvini daran hindern soll, in ihrer Heimat endgültig an die Macht zu gelangen. Wahrscheinlich ist die rechte EU-kritische Fraktion, die FP-Mandatar Harald Vilimsky im EU-Parlament zu einen versucht, dort schon nach der EU-Wahl im Mai vor den Sozialdemokraten zweitstärkste Fraktion und kann zumindest jeden Fortschritt verhindern.

Es kann Deutschland bereits gelungen sein, die EU zu ruinieren.

DER VERSCHWIEGENE VORTEIL DER BRITEN

Den überzeugendsten empirischen Beweis für die katastrophale, von Deutschland initiierte Wirtschaftspolitik der EU liefert das Land, dem man eine Katastrophe vorhersagt, weil es die EU verlässt: Großbritannien.

Die wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens beweist nämlich, wie vorteilhat es ist, sich so weit wie möglich von der EU-Wirtschaftspolitik abzukoppeln. Denn eben das hat Großbritannien getan: Es ist dem Sparpakt nicht beigetreten. Und es hat seine eigene Währung und seine eigene Zentralbank beibehalten. Indem es so gehandelt hat, hat es sich das Missmanagement des Euro durch Merkels Sparpakt ebenso erspart wie dessen Missbrauch durch Deutschlands Lohndumping. Das hat den Briten eine wirtschaftliche Entwicklung beschert, die, anders als die der beiden anderen großen „alten“ EU-Volkswirtschaften Frankreich und Italien, eine vergleichsweise hervorragende war.

Die wirtschaftliche Entwicklung des United Kingdom


Quelle: The World Bank

2009, nach dem Absturz durch die Krise, lagen die realen BIP pro Kopf von Frankreich (36.324 USD), United Kingdom (36.042 USD) und Italien (35.710 USD) noch relativ nahe beisammen. Aber ab 2009 bewegte sich das britische BIP kontinuierlich nach oben und überholt 2013 das ursprünglich knapp höhere BIP Frankreichs, das durch Sparpakt und Marktanteilsverluste an Deutschland gebremst wird. Bis 2017 wächst der britische Vorsprung auf 1148 US-Dollar, obwohl die Diskussion um den Brexit die britische Wirtschaft zweifellos in Mitleidenschaft gezogen hat. Der Abstand des United Kingdom zu Italien vergrößerte sich von nur 332 US-Dollar im Jahr 2009 gar auf gewaltige 4533 US-Dollar pro Kopf im Jahr 2017. Als einziges Land der EU erholt sich das „United Kingdom“ nach der Finanzkrise sogar kontinuierlicher als Deutschland, das fortgesetzt von seinem Lohndumping profitiert, aber vom Sparpakt gebremst wurde.

Es scheint mir angebracht, an dieser Stelle kurz zu resümieren. Ich glaube anhand überprüfbarer Daten bisher Folgendes nachgewiesen zu haben:

1. Die Erholung Frankreichs, Italiens oder Österreichs wurde durch den Sparpakt jeweils massiv eingebremst.

 

2. Griechenland beweist nicht den Erfolg, sondern den totalen Misserfolg des deutschen Rezeptes wirtschaftlicher Sanierung.

3. Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung war jeweils deutlich besser als die aller anderen EU-Volkswirtschaften, insbesondere der hier genannten. Dafür bieten Marktanteilsgewinne durch verringerte Lohnstückkosten deutscher Unternehmen dank der seit Gerhard Schröder geübten „Lohnzurückhaltung“ die mit Abstand plausibelste Erklärung.

4. Großbritannien, das beide Entwicklungen vermied, indem es sich dem Sparpakt nicht anschloss und indem es seine eigene Währung und Nationalbank behielt, so dass es sich durch Abwertung des Pfund gegen das deutsche Lohndumping wehren konnte, bestätigt 1. und 2. indem es sich wirtschaftlich ungleich besser, ja um nichts schlechter als selbst das lohndumpende Deutschland entwickelt hat. Die Abkoppelung von der Wirtschaftspolitik der EU hat Großbritannien also zumindest vorerst gewaltige mess- und nachprüfbare Vorteile beschert. (Und könnte dem Land in Zukunft noch weitere bescheren, weil sich Theresa Mays neuer Schatzkanzler Philip Anthony Hammond für mehr Investitionen des Staates und eine Erhöhung der Mindestlöhne entschieden hat und damit noch deutlicher gegen die kontraproduktiven, von Deutschland vorgegebenen Maximen der Euro-Wirtschaftspolitik verstößt.)

Für die Thesen meines Buches sind dies die entscheidenden Ergebnisse.

Was wird aus dem Brexit?

Darüber, wie es mit dem Brexit weitergeht, kann und will ich hier nur spekulieren. Entschieden ist so lange nichts, als man eine Volksabstimmung über den „Exit aus dem Brexit“ nicht ausschließen kann, und bei Redaktionsschluss dieses Buches (am 20. Jänner 2018) konnte man das nicht.

Für mich ist britisches Verhalten am besten aus einer angeblich wahren (vielleicht auch nur gut erfundenen) Überschrift der Londoner Times zu erahnen: “Terrible fog on the channel – the continent has been separated.”

Im Hinterkopf britischer Politiker wohnt unverändert das Bewusstsein, ein „Weltreich“ zu vertreten, das allen anderen Weltreichen der Geschichte wirtschaftlich wie politisch weit überlegen war. Aus Brüssel auch nur mitregiert zu werden war für die Briten daher immer schwierig und sie haben sich der EWG entsprechend lange nicht angeschlossen. Die Tories deshalb nicht, weil man den Hinterkopf bei gesteiften Krägen besonders hoch trägt, und Labour, weil unter ihren Führern stets auch sehr „linke“ waren, die in der Europäischen Gemeinschaft, wie heute Jeremy Corbyn, eine Gemeinschaft der „Konzerne“ sehen. (Abseits der vom Kreml geforderten „Neutralität“ führte auch Bruno Kreisky Österreich deshalb nicht in die EWG, sondern zog es vor, der EFTA als bloßer Freihandelszone beizutreten.)

Dass die EFTA-Mitglieder England, Österreich oder Schweden letztlich doch zur EWG wollten, hatte einen einzigen Grund: Die EWG erwies sich als wirtschaftlich ungleich erfolgreicher.

Ich kann leider nicht behaupten, dass auch die aktuelle EU ein wirtschaftlich besonders erfolgreiches Modell ist: Auf den bisherigen Seiten habe ich begründet, warum ihr Sparpakt und die deutsche „Lohnzurückhaltung“ ökonomisch denkbar kontraproduktiv sind. Großbritannien hat aber – siehe oben – beide Fehler vermeiden können: Anders als Frankreich oder Italien war es in der aktuellen EU daher wirtschaftlich vergleichsweise gut aufgehoben. Es profitierte vom gewaltig vergrößerten Markt und genoss darüber hinaus bei seinen Beitragszahlungen zum EU-Budget den von Margaret Thatcher abgepressten „Britenrabatt“, der sicherstellte, dass diese Zahlungen stets relativ niedriger als die anderer Nettozahler waren. Gleichzeitig erschloss die EU-Mitgliedschaft der einzigen wirklich starken britischen Industrie, der Geldindustrie, einzigartige Gewinne auf einzigartiger Basis: Die City of London untersteht dank eines historischen Vorrechts nicht in allen Bereichen der britischen Steuergesetzgebung, und so konnte sich dort mittels eine Geflechts von Steueroasen, die von den Caymaninseln über Bermuda bis Gibraltar reichen, die größte Steuervermeidungszone der Welt etablieren.

Es kann die Briten daher einen nicht unerheblichen Teil der aus dieser gigantischen Steuerfreizone resultierenden alljährlichen Milliardengewinne kosten, wenn es wirklich zum totalen, ungeordneten Austritt aus der EU kommt – das ist in Wahrheit ihr entscheidendes Risiko. (Großbritanniens sonstige Industrie wird auf längere Sicht im einstigen Empire genügend neue Absatzmärkte finden.)

Aus der City of London kommt denn auch begreiflicherweise der mit Abstand größte Widerstand gegen den Brexit. Dieser geballte Widerstand der „City“ ist es, der mich unverändert an einen geordneten, nicht so totalen Austritt Großbritanniens aus der EU glauben und eine Volksabstimmung für den Exit aus dem Brexit zumindest weiterhin für möglich halten lässt.

Im Gegensatz zu Theresa May und diversen politischen Beobachtern hielte ich diese neuerliche Abstimmung in keiner Weise für demokratiepolitisch bedenklich, sondern bin genau umgekehrt der Ansicht, dass jede Volksabstimmung ein zweites Mal stattfinden sollte, die nicht mit einem Abstand von mindestens zehn Prozent entschieden wurde. Denn gerade Volksabstimmungen über „große“ Fragen tragen – selbst bei den Schweizern, die sie gewohnt sind – die Gefahr großer Emotionalität in sich. Es ist nicht demokratiefeindlich, sondern demokratiefreundlich, das Volk nach einer Abkühlungsphase zu fragen: Nun kennt ihr die Konsequenzen eures Votums – wollt ihr die wirklich? Wenn das wiederholte Votum diese Frage bejaht, trifft das den Volkswillen mit wesentlich größerer Sicherheit. Die Kosten eines solchen zweiten Wahlganges sind unerheblich neben den Unkosten einer falschen Entscheidung.

Es gab in der Zeitschrift Profil ein Statut, das dieses Problem illustriert: Der Herausgeber sollte seinen Abschied nehmen müssen, wenn ihm die Redaktion das Misstrauen ausspricht. Obwohl ich nicht in die Lage eines solchen negativen Votums gekommen bin, habe ich das Statut in dieser Form immer für ungeeignet gehalten: Selbst erwachsene, politisch geschulte Redakteure sind nicht erhaben über die Emotion, die eine bestimmte Entscheidung ihres Chefs in einem bestimmten Moment hervorgerufen hat und sie wünschen lässt, ihm einen „Denkzettel“ zu verpassen. Jeder Einzelne kann bei diesem Denkzettel keineswegs gewollt haben, ihn damit zu stürzen – aber am Ende können sich diese Voten zu aller Bestürzung sehr wohl zu seinem Sturz addieren. Profil hat so einen seiner besten Herausgeber – Peter Rabl – per Mitarbeiterabstimmung verloren und ich weiß, dass es danach „britische“ Katerstimmung gab.

Auch die Briten könnten also nach erfolgter Abkühlungsphase und in besserer Kenntnis möglicher Konsequenzen zu neuen Einsichten gelangen. Am Exit aus dem Brexit zweifle ich aus folgenden Gründen:

• Boris Johnson, der Anführer der Fundamentalisten unter den Brexitiers, ist ein Politiker vom Schlage Nigel Farrages: Er nimmt jedes Problem Großbritanniens und schon gar Nordirlands in Kauf, wenn er bei dieser Gelegenheit nur Theresa May beerben und Premierminister werden kann.

• Jeremy Corbyn, auf den Theresa May jetzt zugeht, wünscht zwar, wie die meisten Labour-Abgeordneten, einen „weichen“, geordneten Brexit, will aber nichtsdestotrotz in erster Linie den Sturz der Regierung und steht Brüssel unverändert skeptisch gegenüber. Den Exit vom Brexit unterstützt er daher kaum.

Für das Wahrscheinlichste halte ich daher, dass die EU nicht bei ihrer starren Haltung – entweder der von Michel Barnier ausgehandelte Scheidungsvertrag oder gar keiner – bleiben wird. Vielmehr spekuliere ich mit einer Ergänzung des Scheidungsvertrags durch ein Papier, das den „Backstopp“ neu und anders regelt.

Es ist zwar emotional wie realpolitisch verständlich, dass alle EU-Akteure im Hinterkopf das intensive Bedürfnis hatten und haben, den Briten zu beweisen, dass sie mit der Scheidung einen Fehler machen. Auch dass Parlamentspräsident Antonio Tajani für unumstößlich hält, „dass es mit ihnen keine Vereinbarung geben kann, die besser als eine Mitgliedschaft in der EU ist“, ist aus ihrer Warte verständlich, und der Barnier-Vertrag trägt dem auch vollauf Rechnung: Die Briten unterstünden, wenn sie ihn akzeptierten, weiterhin den Regelungen der EU, hätten diese aber nicht mehr mitzubestimmen.

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