Ebbe und Blut

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10

»Bitter Lemon, wie immer?«

»Genau.« Nanno nickte der Bedienung, die gerade den überflüssigen Stuhl mit routiniertem Schwung an den Nachbartisch geschlenzt hatte, freundlich zu. Hier im Taraxacum scheint er ja gut bekannt zu sein, dachte Sina und bestellte sich einen Bordeaux. In dem ziemlich voll besetzten Café, das in der Leeraner Altstadt hinter einem altertümlich anmutenden Buchladen lag und nach Ladenschluss nur durch eine schmale Seitengasse zu erreichen war, wurde ihr schnell wieder warm. Musik von Sting rieselte aus den Lautsprechern, gerade laut genug, um vom allgemeinen Stimmengewirr nicht verweht zu werden. Viele waren von der Turnhallen-Veranstaltung direkt hierher gekommen; entsprechend lebhaft war die Unterhaltung.

Unterwegs hatte Sina Gelegenheit gehabt, ihre Gedanken und Gefühle zu sortieren. Sicher, irgendwer hatte ihr seinerzeit erzählt von dem Motorradunfall, und dass Nanno »wohl etwas zurückbehalten« würde. Aber damals hatte sie so viele andere Dinge im Kopf gehabt, und irgendein anderer Junge – sie dachte von ihren Ex-Liebhabern nur als von »Jungen« – hatte das Bild des von ihr leidend, weil ohne echte Hoffnung angeschmachteten Nanno zum Verblassen gebracht. Der mit dem geheimnisvollen Blick, vom anderen Gymnasium, ein paar Klassen älter – Backfischkram. Sie hatte beruhigt registriert, dass er mit dem Leben davongekommen war, und angenommen, alles andere würde schon wieder werden.

Kein Gedanke an Rollstuhl.

Die Getränke kamen schnell, noch ehe ihr Gespräch in diesem schweren Geläuf Fuß gefasst hatte. Sie strahlte Nanno an, wohl etwas zu heftig, denn er lächelte nur nachsichtig zurück, und das tat weh. Sina senkte den Blick in ihr Weinglas. Der funkelnde Bordeaux war dunkel, fast schwarz.

Dann fing er einfach an zu erzählen, berichtete knapp von dem Unfall – ein Trecker mit abgesenktem Frontlader, er hatte keine Chance gehabt – und von der Zeit danach. In Andeutungen nur, ohne so mitleidheischend ins Detail zu gehen, wie Sina das von ihrer Mutter kannte. Sie ahnte auch so, was für eine harte Zeit das gewesen sein musste mit Krankenhaus, Reha-Kliniken und unzähligen Therapiestunden. Eine verdammt lange Zeit.

»Mir war klar, dass ich mich entschließen musste«, sagte er dann. »Jeder Rolli hat seinen Entschluss gefasst, das weiß ich inzwischen. Du hast die Wahl zwischen einem langen Tod und einem neuen Leben. Ich habe mich für das Leben entschieden.« Sein Unterkiefer war hart, als er das sagte, wie von einer großen Anstrengung. Seine Wangen waren hohl und straff, und seine Augen glitzerten. Dann lächelte er wieder.

Sina weinte, kramte nach einem Papiertaschentuch, sagte: »Entschuldige bitte.«

»Diesmal ja«, sagte er. »Aber mach’s dir nicht zur Gewohnheit.«

Sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Und wo lebst du jetzt? Und was machst du?« Was man eben so fragte unter alten Freunden, nach so langer Zeit.

Nanno erzählte, dass er sich eben erst wieder in Ostfriesland niedergelassen hatte. »Auch ein Stück mehr Unabhängigkeit, weißt du. Bis vor kurzem war ich noch auf die Großstadt angewiesen, wegen der vielen Fachärzte und Einrichtungen, die ich so brauchte. Jetzt kann ich schon wieder auf dem Dorf leben, wie andere ganz normale Menschen auch.«

»Und da bist du so scharf drauf?«

»Mal ’ne Weile gucken.« Er zuckte die Achseln. »Weißt du, in gewisser Weise habe ich ja auch Vorteile. Die Waisenrente, die Versicherung – ich bin einigermaßen versorgt. Und kümmern muss ich mich nur um mich selbst.«

Sina spähte durch die gesenkten Wimpern, versuchte herauszubekommen, ob das jetzt sarkastisch gemeint gewesen war, konnte aber keine Anzeichen dafür entdecken. Was nichts heißen musste.

»Also wohne ich jetzt auf dem Fehn, als Untermieter beim alten Kapitän Thoben. Starker Typ irgendwie.« Nanno erzählte von seinem Glücksgriff und ein bisschen von der ganz persönlichen Tragödie seines neuen Hauswirts. »Auf alle Fälle ist es da draußen sehr ruhig, da lässt es sich bestimmt prima schreiben.«

Richtig, die Lyrik. »Kann mich nicht erinnern, schon mal etwas von dir gelesen zu haben«, sagte Sina. »Ich war ganz gespannt, aber heute ist ja leider nichts aus deinem Auftritt geworden.«

Nanno winkte ab. »Mit der Gitarre bin ich eigentlich ein Fossil. Politische Liedermacherei, ich bitte dich! Wird ja schon seit Jahren nicht mehr hergestellt.« Jetzt lachte er endlich richtig, breit und mit großzügiger Präsentation prächtiger weißer Zähne. So wie früher eben. »Dabei ist es sogar von Vorteil, dass ich ein Krüppel bin. Da traut sich keiner zu pfeifen, und alle bleiben brav sitzen.«

Mit dem provokanten Wort Krüppel, das wohl alle selbstbewussten Behinderten hin und wieder einsetzten, hatte Sina gerechnet. Sie lachte schallend mit.

»Na, so gute Laune hier?«

Toni Mensing stand plötzlich an ihrem Tisch wie aus dem Boden gewachsen. Ein halbwüchsiges Grinsen hing schief auf seinem Asketengesicht, ein für seine Verhältnisse schon richtig leutseliger Ausdruck.

»Ist es gestattet, dass ich mich zu euch setze? Ich kann Melanie nirgends finden, aber vielleicht taucht sie ja hier auf.« Im Kneipenlicht wirkten die Höhlungen in seinen stoppeligen Wangen grundlos tief, und seine kohlschwarzen Augen schienen zu glühen.

»Klar, setz dich«, sagte Sina und dachte: »Gleunig Oogen.« Das stand im Plattdeutschen für Gier, auch für Verrücktheit. Oder Fanatismus. Ihr war Toni immer unheimlich gewesen.

Das Gespräch stockte, während Toni umständlich einen Stuhl zurechtrückte und sich vorsichtig darauf niederließ. Hexenschuss, vermutete sie, während sie sich daran erinnerte, wie Melanie damals von ihm geschwärmt hatte: »Das ist einer mit Idealen, verstehst du, mit richtigen Zielen. Der hat Tiefe, mit dem könnte ich tagelang reden.« Das war so dick aufgetragen gewesen, da hatte sie natürlich fragen müssen, ob die beiden denn schon miteinander gepennt hätten und was er so drauf habe. Was ihr einen vernichtenden Blick eintrug: »Natürlich nicht. Das ist was Echtes zwischen uns, das hat doch damit nichts zu tun.« Jetzt, mit so vielen Jahren Abstand, glaubte sie ihr aufs Wort.

Toni hatte damals an der Fachhochschule Emden studiert, was genau, wusste sie nicht, aber er hatte viel von alternativen Energien erzählt. Später hatte sie dann gehört, er habe sein Studium geschmissen und sich diesen Laden gekauft, um endlich etwas Konkretes tun zu können, etwas mit den Händen, etwas »unmittelbar Erfahrbares«, so sagte man wohl.

Man hatte ihm ein schnelles Scheitern prophezeit, denn Toni war kein Kaufmann und alles andere als ein umgänglicher Typ, eine Fehlbesetzung hinter jeder Art von Theke. Dass es seinen Laden trotzdem noch gab, war wohl nur seiner Hartnäckigkeit zu verdanken. Man konnte auch von Besessenheit reden, und Sina kannte Leute, die das taten.

Er hatte sich Nanno zugewandt, und Sina konnte in Ruhe sein Profil studieren. Fast klassisch mit scharfer Nase und ausgeprägtem Kinn. Die Haut stark pigmentiert, die Haare fast schwarz, halblang, dicht und lockig. Äußerlich ein reizvoller Gegensatz zur lichten Melli, charakterlich zwei von einem Holz: zielstrebig, selbstbewusst, selbstverliebt, mit einem leichten Hang zum Fanatismus. Kreuzritter alle beide.

Sie erschrak, als sie plötzlich direkt in seine dunklen Augen schaute. »Und wie geht’s dir bei der Zeitung? Kommst du zurecht?« Das war wieder typisch, und Sina spürte die Wut in sich aufsteigen. Klar, die kleine Sina fragte man nicht, ob sie denn Erfolg habe. Bei der war es schon was, wenn sie nur zurecht kam. Sie packte ihr Rotweinglas, das noch zur Hälfte gefüllt war, und leerte es hastig. »Kein Grund zur Klage«, sagte sie dann. »Ich habe jetzt das Wochenend-Journal übernommen. Eigenverantwortlich. Jede Woche eine Reportage, Sonderseite, vierfarbig. Die von voriger Woche handelte übrigens von Wal-Strandungen, und nach meinem Urlaub will ich etwas über Windenergie machen.«

Die letzten Worte schienen einen Funken Interesse bei Toni hervorzurufen, aber eigentlich hatte er nichts von dem verstanden, was sie da gesagt hatte. Zeitungmachen schien allzu weit außerhalb des Reservats derjenigen Gedanken zu liegen, für deren Lauf er Interesse aufbrachte. Verachtung, die in der Beschränktheit wurzelt, dachte sie wütend. Auch so eine alte Rechnung, die noch nicht beglichen ist.

Schon hatte er sich wieder Nanno zugewandt, und die beiden sprachen über Literatur. Nannos Gedichte schienen Gnade vor Tonis Augen zu finden, und Sina stellte verärgert fest, dass das diese Texte, von denen sie immer noch keinen Einzigen kannte, auch für sie selbst aufwertete. Sie ignorierte Nannos Versuche, sie in das Gespräch einzubeziehen, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und winkte der Bedienung mit ihrem leeren Weinglas.

Das Café schien zu brodeln. Alle Tische waren dicht belagert, die Theke doppelreihig umstellt, und im Eingang ballte sich eine Traube von Platzsuchern. Wahrscheinlich wäre an einem Abend wie diesem auch der Biergarten besetzt gewesen, wenn man nur die Dreistigkeit besessen hätte, im Februar die Stühle rauszustellen.

Dass sich im Taraxacum die unterschiedlichsten Leute trafen, wusste sie; mit Kornemann hatte sie hier allerdings nicht gerechnet. Aber da schob er sich gerade herein, in seinem Kielwasser eine Frau, die wohl die seine war. »Sie: fruchtig-herb, er: wuchtig-derb«, schlagzeilte sie im Kopf – ein Reflex aus ihrer Zeit als Gesellschaftsreporterin bei der Regionalen Rundschau.

Diese blonden Locken! Echt konnten die nicht sein. Oder? Jedenfalls verliehen sie Kornemanns Erscheinung etwas Unwirkliches. Lächerlich sah er aber nicht aus, o nein, nicht mit diesem Gesichtsausdruck, diesem Blick.

Ganz anders als der da, der eben gerade aufstand und Kornemann die Hand schüttelte. Älter war er und größer und hatte fast den gleichen Kopfputz. Der sah aus wie ein Clown, und er führte sich auch so auf. Nickte devot, wohl weil für eine Verbeugung kein Platz war, und bot Kornemann seinen Stuhl an. Kornemann setzte sich hin wie selbstverständlich, zog die Frau auf seine Knie und beherrschte augenblicklich die Tischrunde. Der andere Blondgelockte stand dahinter, grinste stolz und verlegen, wusste nicht wohin mit den Händen, griff sich schließlich sein Glas und wühlte sich zur Theke durch.

 

»Das ist Rademaker.« Nannos Blick war Sinas gefolgt, und auch Toni hatte sich halb umgedreht. »Kornemanns Mann fürs Grobe. Eine unglaubliche Zecke. Überall steckt der mit drin, und überall lachen sie über ihn. Allerdings nicht mehr ganz so laut, seit er für Kornemann den Laufburschen macht.«

Sina fiel auf, das Toni nicht zu Rademaker schaute. Sein Blick war an Kornemann haften geblieben, und als er sich etwas später wieder zurück zum Tisch drehte, schienen seine Augen mehr denn je zu glühen.

»Eine von Kornemanns Stärken ist es, dass er immer die Konfrontation sucht«, sagte Nanno. »Ich bin sicher, dass er auch nur deswegen heute hier ist. Er will’s immer am liebsten ungefiltert. Und wer auf Gegenkurs geht, den nimmt er frontal. Ansonsten hat er ja Rademaker, zum Aufstöbern.«

»Hört sich so an, als wolltest du was über ihn schreiben«, sagte Sina.

Nanno lächelte. »Das könnte gut sein. Ich weiß nur noch nicht was. Entweder ich nehme ihn nur als Typus, verschlüsselt also, oder ich schreibe eine nette Enthüllungsgeschichte.«

»Hast du da was?« Sina beugte sich vor: »Aufpassen, du sprichst mit einer Enthüllungsjournalistin übelster Sorte!«

»Ich werd’s dir bei Gelegenheit mal enthüllen.« Nanno ließ keinen Zweifel daran, dass er diese Gelegenheit hier nicht für gegeben hielt. Obwohl Toni äußerst interessiert schaute. Oder gerade deshalb? Toni Mensing kniff die Lippen zu einem Strich zusammen.

»Ohne Kornemann wäre Boelsen nie das geworden, was er heute ist.« Nanno spann den Faden weiter. »Nicht nur wegen des Kapitals, das hätte er sich auch anderswo besorgen können, und alles Geld kam ja außerdem auch nicht von Kornemann.«

»Von wem denn?«

»Keinen Schimmer, da wird ein ziemliches Geheimnis draus gemacht. Aber wie auch immer: Ohne Kornemann hätte Boelsen sich hier niemals so durchsetzen können, in der Öffentlichkeit wie in der Bürokratie. Kornemann hat ihm die Bahn freigemacht wie ein Caterpillar.«

»Boelsen hat aber doch so eine nette Ausstrahlung. Müsste doch gut ankommen.« Sina erinnerte sich an den Turnhallen-Auftritt kurz vor dem Tumult.

»Das kann man nicht vergleichen.« Nanno argumentierte mit Eifer, so, als sei er soeben in sein wahres Fachgebiet eingestiegen. »Er ist nett, und er ist kompetent. Aber dieses gewisse Ausgefuchste, das hat er nicht, und das brauchst du, wenn du in Ostfriesland etwas Neues durchsetzen willst. Die Aura, dass du weißt, wie der Hase läuft, verstehst du? Das und die Volkstümlichkeit, die Basisnähe, den Stallgeruch. Korne­mann hat das. Und darum ist er auch heute Abend hier und Boelsen nicht.«

Mit einem Ruck stand Toni auf. »Macht’s gut, man sieht sich«, sagte er und drängelte sich Richtung Kasse.

»Was ist denn jetzt los?« Sina war über diesen plötzlichen Abgang nicht unbedingt traurig, hätte ihn sich aber gerne erklären können. »Ich dachte, er wollte hier auf Melanie warten?«

Nanno zuckte die Achseln.

11

Seine Finger öffneten sich, ohne dass er es wollte, und der Werkzeugkasten krachte auf die Stegplanken. Schraubenschlüssel sprangen heraus wie kleine silbrige Fische, hüpften über seine Schuhe, prallten vom Holz ab, klingelten aneinander, schlidderten, fielen über die Kante, plumpsten aufs Eis. Eilert Iwwerks bemerkte es nicht. Er blickte starr geradeaus, auf sein Schiff. Auf sein schönes, sein altes, sei frisch erworbenes Schiff. »Gottverdammich«, sagte er leise.

Vrouwe Alberta hieß das Schiff, das er bei sich nur »die Tjalk« nannte, weil ihm der Name nicht zusagte und weil er noch nicht wusste, ob er sich trauen sollte, ihn zu ändern. Das brachte ja Unglück, hieß es, und wenn er selbst auch nicht daran glaubte, andere taten es.

Dabei war »Tjalk« noch nicht einmal die korrekte Bezeichnung. Diese Plattbodenschiffe holländischer Herkunft waren eine Sache für sich, ein richtiger maritimer Mikrokosmos, in dem es neben verschiedenen Grundtypen auch alle möglichen Abweichungen und Abwandlungen gab, je nachdem, welchen Anforderungen das jeweilige Schiff und seine Erbauer gerade zu genügen hatten. Quasi die ganze Weltgeschichte des Schiffbaus noch einmal, nur eben in den engen Grenzen, die das eigenwillige Küsten- und Binnenrevier steckte.

»Seine Tjalk« hatte den vorspringenden Steven und das rechts und links davon eingezogene Schanzkleid, wie es typisch war für einen Kanalfrachter. Der ganze Bug aber war viel zu schlank, die Bordwände waren nicht gerade, sondern nach allen Richtungen gewölbt, und das Heck war vergleichsweise hoch – wie bei einer »Hoogars«, was nichts anderes als »hoher Arsch« bedeutete und ein besonders seetüchtiges Fischereifahrzeug war. »Seine Tjalk« aber war auf gar keinen Fall ein Fischerboot, auch kein ehemaliges. Er würde schon noch dahinterkommen, was für ein Schiff das war. Aber diese Nachforschungen mussten jetzt wohl noch etwas warten. Iwwerks machte einen kleinen Bogen um seinen Werkzeugkasten herum und ging langsam weiter auf sein Schiff zu.

Das Eis rund um den schwarzen Rumpf war aufgehackt, dicke Schollen bildeten einen massiven, grünlichweißen Wall. Vrouwe Alberta lag in schwarzgrauem, offenem Wasser. Draußen die Ems und auch der größte Teil des Emder Hafens waren inzwischen eisfrei, aber in den Einschnitten, wie hier im Jarssumer Hafen, war die weiße Decke noch fest geschlossen. Und das am 21. Februar! Aschermittwoch, dachte Iwwerks. Seine leichtfertige Frühlings-Prognose war schon länger als die vorausgesagten vierzehn Tage her. Ich sollte wirklich vorsichtiger sein, dachte er. Dann schossen ihm Tränen in die Augen.

Das Schiff, sein Schiff war über und über mit Farbe besudelt. Dicke rote und silberne Placken klebten auf dem Kajütdach wie verwesende Quallen, geronnene Ströme griffen über die Bullaugen hinweg nach den Teakplanken der Seitendecks. Die Verzierungen am Bug waren mit Zickzacklinien übermalt, die Ankerwinde sah aus, als hätte sich jemand darauf übergeben. Überall an Deck, an der Schanz und an den Aufbauten waren Spritzer und Farbfäden. Die Seitenschwerter, in deren schmale obere Enden aufgehende Sonnen geschnitzt waren, hatte man regelrecht übergossen. Iwwerks’ Blick folgte dem Farbstrom, dessen Oberfläche seltsam porös war und an einigen Stellen erstarrte Tropfen ausgebildet hatte. Tränen, dachte er und heulte, während er vorsichtig über die verschmierten Decksplanken tappte.

Von der Ruderpinne hatten sie den goldenen Löwen heruntergeschlagen, die bleiverglasten Fenster der Kajüttüren waren eingedrückt. Farbe auch hier, rot und silbern.

Eine kurze, harte Böe fiel über die Boote her und griff zwischen die winterkahlen Masten wie in die Saiten einer Harfe. Der ganze Yachthafen jaulte auf, vielstimmig an- und abschwellend wie ein gut gedrilltes Katzenorchester.

Iwwerks wandte sich ab, schaute über den Hafen, sah die anderen Boote am Steg, die hölzernen Dalben, die in den Tagen zuvor schon genug Wärme gespeichert hatten, um das Eis ein paar Spannen weit zurückzudrängen. Da lag das verrostete Passagierschiff auf der anderen Seite des Hafens, weiter rechts das blaue Stahlboot, aus dessen Schornstein sich Rauch kräuselte. Dort hinten waren die Sommertonnen vertäut, die großen roten und grünen Seezeichen, die wieder ausgebracht werden würden, wenn es ganz sicher keinen Eisgang mehr gab. Fast alle waren mit Sonnenkollektoren ausgerüstet und blinkten hilflos und wie anklagend vor sich hin.

»Wer kann mich nur so hassen«, sagte Iwwerks und klang genau so.

Sein Blick fiel auf das Ufer, den Stegkopf, sein eigenes Auto; er hatte sich beinahe einmal um die eigene Achse gedreht. Jetzt vollendete er die Drehung, ganz der alte Dickkopf, zog sein Taschentuch, schnäuzte sich. Das wollen wir doch mal sehen, dachte er. Natürlich die Guntsieter Fischer. Die stecken mir nicht das Haus an, die kommen mir auf mein Schiff. Aber denen werd ich helfen.

Steifbeinig stakste er zum Bug, der zum toten Ende des Hafeneinschnitts wies. Hinter dem schmalen Straßenband gab es dort große überwucherte Brachflächen. Vor gar nicht so langer Zeit hatten dort noch die Ungetüme gestanden, diese Riesen-Monstren, die auch nach Jahren im Regen kaum hatten rosten wollen. Die hatten diesem Phantasten gehört, dem sie dann gründlich …

Iwwerks blieb stehen, eine Hand auf die Schanz gestützt. Der alte Kapitän? Jetzt noch, nach all den Jahren? Er schüttelte den Kopf, setzte den rechten Fuß aufs Bergeholz und sprang zurück auf den Steg. Unsinn.

Er kramte nach den Autoschlüsseln. Die Wasserschutzpolizei war ganz auf der anderen Seite des Hafenbeckens. Da musste er hin, Anzeige erstatten. Was sollte er denen sagen, wenn sie fragten: gegen wen?

»Vandalen«, murmelte Iwwerks und fletschte die Zähne.

12

Das Brennholz lag in einem wirren Haufen zwischen Schuppen und Trockenplatz, genau so, wie es die Jungens von Bauer Ites vom Anhänger geworfen hatten. So lag es nun schon seit über einer Woche. Und seit über einer Woche maulte und schimpfte die alte Henrika, seine Haushälterin. »Musst nicht glauben, dass ich dir das aufstapel, Rademaker«, sagte sie jeden Tag ein paarmal. Auch heute Morgen hatte sie das wieder gesagt, als sie bei klirrendem Frost die Bettwäsche aufgehängt hatte. Aber vor dem Aufschichten musste das Holz erst einmal gehackt werden. Bei Kornemann waren schließlich auch keine Stämme gestapelt, sondern saubere Scheite. Also holte Rademaker das Beil aus dem Schuppen.

Der Holzhaufen war gleichmäßig mit Schnee eingestäubt und sah aus wie ein ungekämmter Riesenigel.

»Scheißschnee«, murmelte Rademaker, während er sich Jacke, Mütze und Handschuhe überzog. Er prüfte die Schnei­de des Beils: eher rund als scharf. Das konnte ja heiter werden. Und wo war überhaupt der Hauklotz? Er hatte na­tür­lich keinen mehr; den alten hatte er damals vor Jahren, als die Gaszentralheizung kam und die alten Öfen herausgerissen wurden, gleich mit zum Müll gegeben. Na klar, weg mit dem Plunder. Hatte ja keiner ahnen können, dass Kaminöfen wieder in Mode kommen würden. Kornemann hatte gleich zwei von den Dingern und einen richtigen Kamin dazu. Also hatte Rademaker sich jetzt auch so ein Kachelteil besorgt. Mithalten hieß die Devise, dranbleiben, nicht zurückfallen. Neue Trends beizeiten erschnuppern, in der Politik ebenso wie im Geschäftsleben. Und auch sonst.

Ites wollte doch einen Hauklotz mitliefern, erinnerte er sich. Lag wahrscheinlich ganz unten im Haufen. Er stapfte hin, bückte sich und zerrte an einem dicken Aststück, das an der Seite herausragte. Festgefroren, auch das noch. Rademaker spürte die ersten Schweißtropen am Hals und unter den Armen, als er das unbenutzte Beil auf den Boden fallen ließ.

Im Schuppen lagen zwei Balken; einen davon nahm er und rammte ein paar von den angefrorenen Holzkloben auseinander. Einen Hauklotz förderte er zwar nicht zutage, wohl aber ein Stück Birkenstamm. Das konnte es notfalls tun, obwohl es am einen Ende leicht schräg abgesägt war. Rademaker sah sich um. Zum gepflasterten Trockenplatz hin stieg der Boden leicht an. Dort stellte er das Holz vorsichtig hin. Es blieb stehen.

Er spreizte die Finger, griff sich das Beil und den ersten Kloben, setzte Holz auf Holz, holte aus und schlug zu. Die rostige Klinge traf seitlich auf, drang nicht ein, sondern federte zurück, der Kloben fiel nach rechts, der Hauklotz nach links, beide auf seine Füße. Das weiße Bettlaken an der Leine direkt vor seiner Nase schien ihm höhnisch zuzuwinken. Unterdrückte Wut im Bauch und heftiger Schmerz in den Zehen trieben ihm ein heiseres Fauchen aus der Kehle. Sofort ertönte die Antwort vom Zwinger her. Rademaker presste die Lippen zusammen.

Hauklotz aufstellen, Kloben drauf, Beine breit, Beil fest gefasst. Er musste das Holz nur mittig treffen, dann musste es sich doch einfach spalten lassen, ob die Klinge nun stumpf war oder nicht. Er peilte genau, hob die Arme, schwang den ganzen Oberkörper zurück. Und wieder nach vorn, immer das gemaserte Rundstück im Blick. Zuschlagen!

Etwas wischte durch sein Blickfeld, etwas Weißes. Wo war das Holz geblieben? Und warum steckte das Beil plötzlich auf halbem Wege fest, mitten in der Luft? Rademaker war zu perplex, um seinen mitschwingenden Körper abzubremsen. Der Rücken der Beilklinge sauste auf ihn zu. Dann sah er rote Fünkchen.

 

Richtig weggetreten war er wohl nicht, denn als er die Augen wieder aufschlug, stand er immer noch auf seinen Füßen. Rote Fünkchen aber sah er immer noch. Oder vielmehr rote Pünktchen. Es wurden sogar immer mehr.

Rademaker taumelte, suchte nach Halt, griff ins Laken. Natürlich! Das Laken war ihm vors Beil geweht, hatte es überraschend mitten im Schwung aufgehalten, und er war mit der Stirn aufs Beil geschlagen. Wieder so eine Sache, die er niemandem erzählen durfte. Aber was waren das für Pünktchen? Er beugte sich vor: Blut. Blutspritzer genauer gesagt, und sie kamen von seiner Stirn. Offenbar war eine Ader geplatzt.

Er ging ein paar Schritte weiter, zu einem weißen Bettbezug. Tatsächlich, auch hier erschienen die roten Pünktchen: spritz – spritz – spritz, immer im Rhythmus seines Pulsschlags. Er lief die Wäscheleine entlang Richtung Hintertür, von einem Wäschestück zum anderen: spritz – spritz, faszinierend. Fahrig suchte er nach der Türklinke: spritz – spritz – spritz, immer gleichbleibend. Er drehte langsam den Kopf, um sich davon zu überzeugen. Wölkchen erschien neben Wölkchen, bis er beim Rahmen angelangt war.

Er stieß die Tür auf und ging den geweißten Gang entlang, wandte sich kurz der Mauer zu – spritz, spritz – und stieß dann die Küchentür auf. Da stand Henrika neben dem Küchenschrank und machte große Augen: »Rademaker, was ist mit dir denn los?«

Als er den Mund aufmachte, spürte er plötzlich, wie ihm übel wurde. Er brachte kein Wort heraus.

Stattdessen beugte er sich vor zum Schrank: spritz – spritz – spritz erschienen die roten Wölkchen auf dem weißen Lack.

Henrika brach lautlos zusammen.

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