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Memoiren einer Grossmutter, Band II

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Weitere Schicksale

Luben hieß der Ort, in dem wir unsere selbständige Existenz begründen wollten. Die jüdische Bevölkerung in diesem zu Kleinrußland gehörenden Städtchen war in der Kultur weiter fortgeschritten als die in Konotop; zumal in der äußeren Lebensweise, den Gebräuchen und Sitten näherte sie sich mehr der europäischen Art. Die wenigen Juden in Luben, die dem überlieferten Judentum noch treu anhingen, spielten hier keine Rolle. Man führte hier ein Leben, das durchsetzt war mit Sitten und Gebräuchen der großen Mehrheit der christlichen Bevölkerung. Es gab dort keine Talmudisten, keine großen jüdischen Gelehrten, nicht einmal eine große Synagoge. Es war aber nicht eine Irreligiosität, die die Aufklärung mit sich bringt. Es war einfach ein Mangel an Tradition, Unwissenheit und ein Aufgehen in fremder Art.

Es existierte in Luben eine kleine jüdische Gemeinde, deren Mitglieder ganz ungebildete und unwissende Leute waren, die uns als die geistige Aristokratie betrachteten.

In Luben fanden wir bereits eine kleine Wohnung vor, welche die Schwiegereltern unseren Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechend eingerichtet hatten. Es dauerte nicht lange, und ich fand mich in meiner ziemlich großen Wirtschaft zurecht und führte sie mit Sachkenntnis. Mein Mann übernahm das Geschäft, für das er, wie sich erwiesen hat, Fähigkeiten besaß.

Nun war die Rücksicht auf die Eltern nicht mehr wirksam. Mein Mann durfte frei nach eigenem Willen sein Leben gestalten. Das tägliche Beten in Tallis und Tefillin hörte jetzt auf. Aber das Interesse am Talmud dauerte noch an. Er diskutierte gern und lange mit dem Rabbiner der Stadt, welcher häufig als Gast in unserem Hause verkehrte; doch hatte dieses Interesse, wie ich schon früher bemerkte, einen rein wissenschaftlichen Charakter angenommen.

Die berühmte kleinrussische Gastfreundschaft herrschte auch in unserem Hause; wir wurden schnell bekannt und beliebt, und die Besuche von Verwandten, Freunden und Bekannten hörten gar nicht auf. Dreimal täglich war der Tisch reichlich für acht bis zehn Personen gedeckt. Es gab fast nie eine Mahlzeit ohne Gäste. Unsere Wirtschaft vergrößerte sich von Tag zu Tag. Sie wurde freilich viel zu groß für unsere Verhältnisse. Die Schwiegereltern machten uns schwere Vorwürfe wegen dieser Verschwendung.

»Es ist eine Nachricht von Kathy gekommen.« Mit diesen Worten trat mein Mann an einem Samstag Morgen in mein Schlafzimmer und reichte mir ein Blatt Papier, auf dem mit Bleistift folgendes geschrieben war: »Schwester, schicke mir etwas zu essen, ich und mein Kind sind hungrig und wir haben nichts bei uns.« Mein Mitleid und mein Schreck waren grenzenlos, und ich überhäufte meinen Mann mit Fragen. Ich erfuhr, daß der Bote in der Küche wartete, warf hastig etwas über und lief zu ihm hinaus. Von dem Überbringer des Briefes, einem jungen Bäuerlein, erfuhr ich, daß der jüdische Fuhrmann, mit dem meine Schwester gekommen war, Freitag abends in einem Dorfe unweit Luben haltgemacht hatte und wegen der Sabbathruhe und eines Schadens an dem Wagen nicht hatte weiter fahren wollen, trotzdem er selbst, sowie seine Passagiere, auf diese Weise ohne Lebensmittel bis zum Abend des nächsten Tages unterwegs zu bleiben gezwungen waren. »Heute Abend«, fügte das Bäuerlein hinzu, »kann sie schon hier sein.«

Ich überlegte nicht viel, lief ins Speisezimmer, packte in eine Serviette lauter gute, schmackhafte Speisen ein: ein Sabbathbrot, kaltes gekochtes Huhn, Butter, Käse, etwas Likör und Mandeltorte, die meine Schwester, wie sie mir nachher erzählte, sofort an unsere Kindertage, an die Heimat erinnerte. Dieses Paket sollte der Bauer, welcher für seine Mühe einen Silberrubel erhielt, schleunigst meiner Schwester hinbringen.

Nachdem der Bote abgefertigt war, kleidete ich mich an, ordnete das Nötige in der Wirtschaft, wobei mich eine nervöse, freudige Ungeduld gar nicht verlassen wollte. Am liebsten hätte ich den Wagen anspannen lassen, um meiner Schwester entgegenzufahren und sie abzuholen. Aber es war ja Samstag, und in jenen Zeiten, in denen die Religion bei uns Juden in Rußland das ganze Leben, Tun und Handeln regelte und bestimmte, durfte ich meinem Herzenswunsch nicht nachgeben; hatte doch auch der Kutscher fast nur des Sabbaths wegen seine Passagiere beinahe verhungern lassen…

Es wurde dunkel; ich deckte den Teetisch, traf Vorbereitungen für die lieben Gäste und wartete. Endlich kamen sie. Wie herzlich war unsere Begrüßung! Wir freuten uns so sehr miteinander! An diesem Abend gingen wir spät zur Ruhe. Ich begleitete meine Schwester in das für sie bequem eingerichtete Zimmer, küßte sie herzlich und lud sie ein, gemeinsam mit uns morgen zu frühstücken. Als wir am nächsten Morgen zum Tee erschienen, erwartete uns bereits mein Mann. Ich bemerkte sogleich eine Befangenheit im Benehmen meiner Schwester, suchte nach der Ursache, konnte sie aber nicht finden. Mein Mann verließ uns. Wir beide blieben noch lange am Teetisch sitzen und plauderten von unseren Erlebnissen. Wir vergaßen vollkommen die Gegenwart und verloren uns in der Vergangenheit. – Dann kehrte mein Mann vom Geschäft zurück. Wir speisten in munterer Stimmung zu Mittag und plauderten immerfort bis spät in die Nacht hinein. – Das Fragen und Erzählen hatte kein Ende; was wollten wir alles voneinander erfahren nach der vierjährigen Trennung!

Als ich Schwester Kathy an diesem zweiten Abend unseres Zusammenseins auf ihr Zimmer begleitete, lud ich sie wieder herzlich ein, mit mir und meinem Manne gemeinsam das Frühstück einzunehmen. Da umarmte sie mich und bat befangen, in ihrem Zimmer allein frühstücken zu dürfen, und als ich sie befremdet nach der Ursache fragte, antwortete sie mir verlegen: »Ich habe außer meinem Manne noch keinen Mann im >Chalat< (Morgenrock) gesehen, und das geniert mich bei deinem Manne.« Obwohl ich diese für die damaligen Jüdinnen bezeichnende Schamhaftigkeit etwas seltsam fand, bat ich doch meinen Mann, dem Wunsch der Schwester nachzugeben. Er erschien von nun an, trotz seines Hanges zur Bequemlichkeit, am Frühstückstisch vollständig angekleidet. So rücksichtsvoll blieb er die ganze Zeit; er bezeigte seiner Schwägerin vom ersten Tage ihrer Ankunft an stets die größte Ehrerbietung und Aufmerksamkeit und fand es ganz in der Ordnung, daß ich ihr stets den ersten Platz am Tisch einräumte, auch wenn die vornehmsten Gäste zugegen waren. Ihr fünfjähriges Töchterchen wurde von uns allen zärtlich geliebt und gepflegt.

Drei Monate vergingen seit der Ankunft der Schwester Kathy, als wir von unserer älteren Schwester Marie die Nachricht erhielten, daß sie uns in den nächsten Tagen besuchen würde. Wieder umfing mich eine ungeduldige, freudige Spannung. Es vergingen aber mehrere Tage, und sie kam immer noch nicht. Auch blieb jede weitere Nachricht von ihr aus. Unsere Unruhe wuchs. Eine Möglichkeit der schnellen Verständigung in die Ferne wie heute gab es nicht. Und so blieb uns nichts anderes übrig, als geduldig zu warten, bis sie uns eines Tages überraschte. Stürmisch war die Freude des Wiedersehens. Ihr Aufenthalt in unserem Hause verbreitete allgemeinen Frohsinn. Wir wurden lustiger, jugendlicher. Das Verhältnis zwischen meinem Mann und Marie gestaltete sich viel gemütlicher und unbefangener als seine Beziehungen zu Kathy. Man lachte, sang und scherzte den ganzen lieben Tag. Wir suchten alles, was Luben an Unterhaltung bot, auszunutzen, um uns gut zu amüsieren.

Zu den Belustigungen, die Luben während des Aufenthalts meiner Schwester Marie bei uns bot, gehörte auch das Theater, das regelmäßig einmal im Jahre zur Zeit des großen Jahrmarkts in unser Städtchen kam. Dieses Theater, das aus einer wandernden Truppe bestand, befand sich noch in einem sehr primitiven Zustande. Als Theatergebäude diente hier, wie auch sonst in Provinzstädten, eine Scheune. Die Wände schmückte man mit bunten Bettüchern. Aus Brettern wurde eine Erhöhung, die Bühne, hergestellt. Bänke, Stühle, sowie das ganze notwendige Mobiliar, ja selbst einzelne Kleidungsstücke lieferten die wohlhabenden Bewohner von Luben. Dafür hatten sie freien Zutritt. Man erhielt aber keine Freikarten, wie es heute zu geschehen pflegt. Es genügte, wenn man vor der Kasse den geliehenen Gegenstand laut nannte, um ohne weiteres hineingelassen zu werden. »Ein Leuchter«; »drei Kattundecken«; »zwölf Stühle«; »ein Rock«, hörte man die Gäste rufen. Gleich zog sich der geliehene Kattunvorhang zurück, und der Gast konnte seinen Platz einnehmen.

Die Vorstellung in diesen Theatern sollte gewöhnlich um neun Uhr abends beginnen, fing aber fast nie vor elf Uhr an, weil stets auf die Würdenträger des Ortes gewartet wurde.

Während der Pausen spielte eine Musikkapelle, zumeist ausschließlich aus jüdischen Musikanten – »Klesmorim« – bestehend. Da diese mit dem Publikum gut bekannt waren, so geschah es oft im Theater, daß die Gäste von ihren Sitzen aus den Musikanten ihre Wünsche zuriefen: »Jankel, spiel a Polke!« Dann wieder »a Walzer« usw. Jankel erfüllte selbstverständlich den Wunsch seines Bekannten, sein Kollege wieder den des seinigen, so daß die Pausen sich bis ins Unendliche hinauszogen. Oft kam es vor, daß es schon heller Tag war, wenn die Leute das Theater verließen.

Das Theater war ein Ereignis im Städtchen. Man begrüßte es immer mit großer Freude und besuchte es jeden Abend. Von den Juden ging nur die Jugend ins Theater. Die Alten und Frommen besuchten es nie, ließen aber die Jugend gewähren und schwiegen weise dazu.

Da wir zu den Wohlhabendsten des Städtchens gerechnet wurden und sehr viele Gegenstände geliehen hatten, so überließ man uns mehrere Plätze. Wir gingen fast jeden Abend dorthin in großer, lustiger Gesellschaft und amüsierten uns köstlich.

Wir hatten in dieser Zeit viel Besuch; an den drei täglichen Mahlzeiten nahmen bis fünfzehn Personen teil. Dabei wurde streng auf »Koscher« geachtet; Milch- und Fleischgeschirr waren voneinander geschieden sowohl im Gebrauch, wie auch beim Abwaschen.

 

Am Freitag abend wurden nach dem jüdischen Gebrauch für jeden Herrn zwei ganze Brote (»Challes«) zur »Mauze« seinem Gedeck beigelegt; und die Zahl der Herren in jenen lustigen Wochen war nicht gering… da gab es viel zu tun!

Marie blieb einige Wochen bei uns und verließ uns sehr entzückt über die gastfreundliche Aufnahme. Die Solidarität zwischen den Angehörigen einer Familie gehörte zu den größten Tugenden, die sogar unter dem Einflusse der ganzen Sturm- und Drangperiode, die so manche gute Sitte des jüdischen Familienlebens zerstörte, bestehen blieben, wenn auch nicht in dem hohen Maße wie vorher. Wie alle Ethik bei den Juden, wurzelte sie in den religiösen Gesetzen, in denen es heißt: »Du sollst dich deinem Blute nicht entfremden.«

Und so blieb Kathy, da sie wegen des Krimkrieges nicht zu Haus bleiben konnte, vierzehn Monate unser Gast – lange, lange Monate, in welchen die arme Frau viel Leid und Kummer durchgemacht hat.

Tage und Wochen vergingen. Ihre Niederkunft stand nahe bevor. Die Großmutter meines Mannes, von deren ärztlichen Kenntnissen und Fähigkeiten ich ausführlich gesprochen habe, erbot sich, zu uns nach Luben herüberzukommen. Im November erhielten wir die Nachricht, daß die opferwillige Frau auf dem Wege zu uns war. Der böse Zufall wollte es, daß nicht Frost und Schnee, wie sonst um diese Zeit in Rußland, sondern regnerisches Wetter herrschte, und statt einer bequemen, schnellen Fahrt im Schlitten mußte die alte Frau den beschwerlichen Weg in der »Postkibitka« machen, einer höchst primitiven Kutsche ohne Federn. Nach zweitägigen Reisestrapazen langte sie bei uns an, ermüdet und erschöpft. Zum Glück war sie in einen Riesenpelz gehüllt, der sie vor Erkältung bewahrte.

Der neue Familiensprößling ließ nicht lange auf sich warten. Es war ein Sohn. Nach dem Briß reiste die Großschwiegermutter fort. Kathy erholte sich allmählich, wir kehrten zu unserm normalen Leben zurück. Nach wie vor verging keine Mahlzeit ohne Gäste. Der Keller und der Geflügelhof waren stets voll und boten den Gästen die schmackhaftesten Leckerbissen. Das Geflügel war in Luben zu jener Zeit sehr billig. Ich glaube, es ist nicht ohne Interesse die damaligen Preise anzuführen: es kostete ein Truthahn 15 Kop. = ca. 35 Pf., eine Gans 30 Kop. = 65 Pf., ein großes fettes Huhn 30 Kop. = 65 Pf.

Das Jahr 1855. Eine wichtige Epoche für das russische Reich, die Epoche des Krimfeldzuges. Die Zeitungen, die dreimal in der Woche nach Luben kamen, brachten unaufhörlich die schrecklichsten Nachrichten vom Kriegsschauplatze. Eine Niederlage folgte der anderen. Die russische Armee, in der der unglaublichste Wirrwarr herrschte, hatte viele Schwierigkeiten, denen sie nicht gewachsen war, zu überwinden, wie den Transport des Militärs, der Munition, des Proviantes. In den endlosen Steppen der Krim fand man im Frühjahr so manche Militärabteilung, die im Winter zu Fuß nach dem Kriegsschauplatze befördert worden war, vom Schneesturm verschüttet, erstarrt, erfroren. Der russische Adel, die Gutsbesitzer und die Kaufmannschaft rüsteten ganze Regimenter auf eigene Kosten aus, die »Ratniki« genannt wurden. Aber es waren nur undisziplinierte, ungeschlachte Bauern, die man auf dem Kriegsschauplatze nur als Kanonenfutter verwerten konnte.

Wenn einmal die russische Armee ausnahmsweise einen Sieg davontrug oder ein General wie Malakoff auf eine geniale Idee verfiel7, so war es nur ein momentaner Triumph, der die vollständige Niederlage nicht verhindern konnte. Es war nicht nur ein Kampf feindlicher Heere, sondern der Kampf zweier Systeme; und der Sieg gehörte dem neuen, besseren, vervollkommneten, das alle Errungenschaften der europäischen Kultur in den Kampf begleiteten.

Die Stimmung im russischen Volke wurde immer düsterer. Nur denen, die schon längst im stillen gegen das bisherige Regime murrten, war diese Niederlage eine traurige Genugtuung. Denn nur durch äußere Erschütterungen, glaubten sie, könnte das gewaltige Reich von seinen Schäden geheilt werden.

Im April wurde ich wieder Mutter. Mein Söhnchen erhielt den Namen Simon. Ich erholte mich sehr rasch.

Der Frühling kündigte sich in diesem Jahre mit ungewöhnlicher Hitze an. Und dazu brachten die Zeitungen die Schreckensnachricht, daß auf dem Kriegsschauplatz und in seiner Umgegend die Cholera zu wüten anfinge, und sie mahnten die Bevölkerung zur Vorsicht im Essen und Trinken.

Ich hatte von dieser Krankheit nur eine dunkle Erinnerung von meiner Kindheit her. Eine furchtbare Angst packte mich, so daß keine Vernunftgründe imstande waren, mich zu beruhigen. Wie ein Gespenst verfolgte mich der Gedanke an die Seuche. Er wurde zu einer Zwangsvorstellung, von der ich mich gar nicht befreien konnte. Meine Gesundheit litt sehr darunter. Melancholisch, niedergeschlagen ging ich im Hause umher.

Und nun wollte das trotzige Schicksal, daß ich in nahe Berührung mit der schrecklichen Krankheit kommen sollte. – Es war gegen Ende Mai, als wir von der Tante meines Mannes eine Einladung erhielten, sie in Kremenschuk, wo sie wohnte, zu besuchen. Wir nahmen unser ältestes Kind Lise mit auf die Reise nach dem Süden. Wir wurden dort mit großer Freude empfangen. Am vierten Tage unseres Aufenthaltes versammelten sich viele Verwandte und Bekannte, um mich, die angeheiratete Nichte, kennen zu lernen. Es war sehr lustig, und die Zeit verging uns auf die angenehmste Art. Am nächsten Morgen trat die Tante zu uns ins Schlafzimmer und kündigte uns an, daß die Seuche schon in Kremenschuk eingezogen sei, und mit Tränen in den Augen erzählte sie, daß manches Mitglied der gestrigen munteren Gesellschaft sich nicht mehr unter den Lebenden befinde. Mein Entsetzen war grenzenlos. Wir rafften unsere Sachen zusammen, und in einigen Stunden verließen wir traurig und tief erschüttert die Stadt.

Auf der ersten Poststation ließ man uns nicht mehr ins Wartezimmer hinein. Wir vernahmen von dorther das Stöhnen und Schreien eines in Schmerzen sich krümmenden Cholerakranken. So mußten wir für die Nacht draußen im Freien lagern. Es war eine Juninacht, warm und kurz. Um zwei Uhr morgens ging die Sonne auf. Doch uns kam diese Nacht wie eine Ewigkeit vor. Meine Angst und Beklommenheit steigerten sich noch, als mein Töchterchen Lisenka über Magenschmerzen zu klagen anfing. Mit zitternden Händen gab ich dem Kinde Medikamente, die wir von der Tante mitgenommen hatten. Gegen hohes Entgelt erhielt ich von den Bauern ein wenig warmes Wasser, womit ich dem Kinde Pfefferminztee bereitete, und bangenden Herzens erwartete ich den kommenden Tag. Endlich bekamen wir Pferde und setzten die Reise fort. Das Kind fühlte sieh besser. Die Schmerzen ließen nach, und als wir abends zu Hause eintrafen, war es wieder ganz munter.

In Luben erfuhren wir, daß die Cholera auch hier bereits wütete. Der Arzt kam und verordnete strenge Diät. Noch an demselben Abend erkrankte meine Schwester ganz unmittelbar und plötzlich, nachdem sie noch einige Augenblicke vorher an der Abendmahlzeit teilgenommen hatte. Ich war vor Angst einfach wie besessen, brach zusammen und mußte ins Bett gebracht werden. – Meine Schwester genas. Aber ihr Kindchen, das sie selber nährte, steckte sie an, und es starb nach einem Tage furchtbarer Schmerzen.

Die Seuche verbreitete sich von Sebastopol über das ganze Land mit Riesenschritten, und tausende Menschen fielen ihr zum Opfer. Und es waren gar viele Verwandte und Freunde dabei.

Kein Wunder! Es konnte bei den damaligen hygienischen Verhältnissen nicht anders sein, bei dem vollkommenen Mangel aller Vorsichtsmaßregeln. Wie günstig mußten die Bedingungen für die Verbreitung der Cholera in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts gewesen sein, wenn noch jetzt, 1908, die Cholera den ganzen Sommer, Herbst und bis spät in den Winter hinein wütet und ihr so viele Menschen wie Fliegen auf der Straße zum Opfer fallen. Und doch liegt ein halbes Jahrhundert dazwischen, ein Zeitraum, in welchem gerade die westeuropäische Kultur nach dieser Richtung so große Fortschritte gemacht hat. Aber zwischen Westeuropa und Rußland besteht eine strenge Grenze, und der Fortschritt schleicht sich in Rußland nur auf Schmugglerwegen ein: St. Petersburg besitzt noch heute keine Kanalisation, und das Volk glaubt nicht an die kleinen verderblichen Bakterien, die im klaren Wasser leben sollen.

Nicht ohne Interesse ist es, daß unter den Juden die Epidemie ungleich weniger verbreitet war als unter der übrigen nichtjüdischen Bevölkerung. Ihr Leben war durch das Gesetz geregelt, war einfacher und entsprach mit seinen zahlreichen Waschungen, den strengen Speiseverboten wesentlich mehr allen hygienischen Forderungen.

Ich selbst litt furchtbar, wurde immer schwächer und lag tagelang apathisch und melancholisch zu Bett. Mein Gemüt war unter dem Eindruck der letzten Erlebnisse erschüttert.

Und so kam der Juli. Eines Tages erhielt meine Schwester die frohe Nachricht von der Ankunft ihres Mannes. Wir freuten uns alle herzlich auf sein Kommen; und diese freudige Erwartung brachte einen freundlichen Schein in unser so düsteres Leben. Während der Anwesenheit unseres Schwagers Abraham Sack, der ein munteres, heiteres Wesen besaß, verlor sich meine Schwermut ein wenig, und ich atmete freier auf. In den zehn Tagen seines Aufenthaltes bei uns führten wir alle unser altes normales Leben. Er verreiste voll Hoffnung auf eine Besserung seiner materiellen Verhältnisse. Mit ihm verließ die Freudigkeit wieder unser Haus. Ich verfiel von neuem in trübe, melancholische Stimmung. Meine Schwester blieb zurück und wartete weiter und harrte von Tag zu Tag, von Woche zu Woche auf Nachrichten. Sie litt unsäglich und fürchtete schon das Schlimmste. Aber Gott hat Erbarmen. Je größer die Not, um so näher die Hilfe. Der langersehnte Brief kam an. Er war an mich adressiert und enthielt ein Schreiben für mich, ein zweites für Schwester Kathy. Mein Schwager berichtete von der glücklichen Wendung in dem Gange seiner Geschäfte, die ihm nunmehr endlich gestatteten, seine Frau wieder zu sich zu nehmen. Unsere Freude hatte keine Grenzen. Wir jauchzten den ganzen Tag vor Glück, und meine Schwester vergoß Tränen der Rührung und Dankbarkeit. Ich half ihr beim Packen, und in kurzer Zeit war sie zur Abreise fertig. Ich begleitete sie mit meinem Mann bis nach Poltawa, wo wir ihr halfen, eine elegante Equipage mit drei guten Pferden zu kaufen, einen Kutscher und eine jüdische Köchin mieteten und sie sodann weiterbeförderten.

Meines Schwagers Hoffnungen hatten sich erfüllt. Er war ein reicher Mann geworden. Das war eine der großen Schicksalswendungen, die das Kriegsjahr 1855 mit sich brachte, das Jahr, in dem das launische, verschleierte Weib Fortuna das Rad der Menschenschicksale in Rußland in rascherem Tempo rollen ließ und mit einem mächtigen Stoß alles Obere zu unterst, alles Untere zu oberst kehrte.

Meines Schwagers Genius führte ihn immer höher und höher, sein Selbstvertrauen gab ihm Beharrlichkeit in seinen Bestrebungen. Und auch die Zeit war günstig. Alexander II. hatte den Thron bestiegen. Eine neue Ära war angebrochen. Tüchtige und ehrliche Menschen konnten sich jetzt in Rußland auf allen Gebieten betätigen. —

– Wir blieben in Luben bis 1859. In diesem Jahre übernahmen die drei großen »Otkupscheriki« – der Großvater und der Vater meines Mannes und Herr Kranzfeld – die Konzession auf die Akzise des Branntweinmonopols – eine Pachtung, die sich auf das ganze Gouvernement Kowno erstreckte. In diesem Unternehmen erhielt mein Mann einen hohen Posten. Er wurde Chef des Bureaus.

Mein Wanderlied konnte ich wieder singen. – Wir liquidierten unser Geschäft in Luben, packten unser Hab und Gut zusammen und gingen nach Kowno.

Ehe ich aber von meinen weiteren persönlichen Lebensschicksalen weiter erzähle, will ich zuerst noch einmal vom Jahre 1855 sprechen, das nicht nur im Leben ganz Rußlands, sondern speziell für die Juden den Beginn einer neuen Epoche bedeutet. Es ist das Jahr der Thronbesteigung Alexanders II.

7Malakoff-kurgan (Schanze). Auf Veranlassung des General Malakoff füllte man unzählige tausende Säcke mit Sand und baute daraus eine Schanze, indem man sie in Quadraten dicht aneinander legte. Die Kugeln, welche vom feindlichen Lager herüberflogen, blieben in den Säcken stecken.