Sympathy For The Devil

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Im Dezember 1960, wenige Monate nach dem Zwischenfall mit Brians Mutter, zeigten sich eindeutige Trennungslinien, da Lewis, Louisa und Barbara über Weihnachten verreisten und Brians Reisetaschen einfach in der Einfahrt stehen ließen. Lange bevor Andrew Oldham das Image der Stones als Ikonen der gegengesellschaftlichen Aggressivität kreierte, hatte Brian Jones schon endgültig die Grenzen der anständigen und karrierebewussten Mittelschicht hinter sich gelassen.

Enge Freunde und Bekannte von Brian beobachteten oft, dass er nach der Zerstörung einer Beziehung mit Ignoranz reagierte oder wenig überzeugende Entschuldigungen vorbrachte. Das geschah aber nicht nach dem fundamentalen und prägenden Zerwürfnis mit den Eltern. Es gab keinen Weg zurück: Die Ablehnung durch die Eltern ließ ihn erstarren. Er erzählte so gut wie niemandem etwas über das Geschehene. Stattdessen leitete er all die Energie, die er zuvor in der Beziehung zu seinen verständnislosen Erzeugern vergeudet hatte, direkt in die Musik. Als Brian der puritanischen Gesellschaft den Rücken kehrte, unterstützten ihn zwei Wegbegleiter: Dick Hattrell, der Sohn eines erfolgreichen Rechtsanwalts aus Tewkesbury, und John Keen, der Schulfreund, dessen Eltern eine enge Freundschaft mit Lewis und Louisa geknüpft hatten.

Dick gehörte zu den Stammgästen des Filbys und sah Brian bei Jazzshows in der Bishop’s Cleeve Village Hall und dem Waikiki am Queen’s Circus (auch unter den Namen Barbecue bekannt). Eines Abends sprach er ihn im Rotunda an. Brian veränderte sich schnell zu der Zeit: „Die Jazzszene nervte ihn ständig“, verrät Dick. „Er wusste, dass ich das Jazz Journal las, und so fragte er mich am ersten Abend: ‚Kannst du mir eine komplette Diskografie von Muddy Waters aufschreiben?‘ In der darauf folgenden Woche überreichte ich ihm eine Auflistung aller Aufnahmen, die Muddy Waters für diverse Label eingespielt hatte – also nicht nur Chess –, und er freute sich total. Das ging so weiter: ‚Kannst du mir einige Informationen über Elmore James ausgraben?‘ Ich meinte, dass es kein Problem sei, und so lief es dann weiter.“

Dick steckte voller Enthusiasmus und war ein aufgekratzter Teenager, vergleichbar mit einem jungen, quirligen Welpen. Obwohl sechs Jahre älter als Brian, blieb er doch in der Beziehung immer der „Jüngere“, was teils daran lag, dass er kein Instrument spielte, teils an der mangelnden Durchsetzungsfähigkeit und der Gutmütigkeit, mit der er Brians Launen ertrug. Dicks Vater zählte zu den gesellschaftlichen Säulen des Establishments von Tewksbury. Als Informationen über die Partyfreuden seines Sohnes und die Liebe zum Jazz in diese Kreise durchsickerten, überreichte ihm sein Dad – höflich, aber bestimmt – den „Marschbefehl“. Das geschah ungefähr zu der Zeit, als Brian in der vorläufigen Bleibe, einem Zimmer im Haus von Pat Andrews’ Bruder, den Bogen überspannt hatte. Brian fand daraufhin eine Wohnung im Selkirk House, einem beeindruckenden, mit Stuck verzierten Gebäude an der Prestbury Road 73, und überredete Dick, sich die geräumige Bleibe mit ihm zu teilen. Die beiden führten einen Lebensstil, der Brians musikalischen Helden nicht fremd gewesen wäre. „Wir hatten ein tolles Leben“, schwärmt Dick. „Wir kamen über die Runden, indem wir die Räume für Partys vermieteten, wie in den Zeiten des alten New Orleans. Wenn traditionelle Jazzbands in Cheltenham auftraten, luden wir sie zu ein paar Bier ein und ermunterten sie, sich so richtig gehen zu lassen. Wir kauften ’ne Menge Bier, animierten die Musiker dazu, in der Wohnung zu spielen, und kassierten dann an der Tür Eintrittsgeld, das allerdings für die Miete drauf ging. Tags darauf brachten wir die leeren Flaschen zurück und kassierten das Pfand. Wir verbrachten eine tolle Zeit miteinander.“

Die beiden standen für gewöhnlich mittags auf, schlenderten in die Stadt, meist zum Barbecue, in dem am Abend Jazzshows stattfanden. Meist war es Brian, der zu den Shows ging und Musiker wie Eric Allendale und viele andere überredete, nach dem Gig noch zu der Wohnung zu kommen. Er überzeugte sie mit unglaublichen Charme und seinem fokussierten Stil. Aber auch die Desillusionierung, mit der sich viele Teenager konfrontiert sahen, spielte bei ihrem Lebensstil eine Rolle, wenn auch nur eine unbedeutende: „Es ging viel tiefer. Er wollte ein guter Musiker werden und befand sich auf einer musikalischen Reise.“

Brian hatte der Gesellschaft von Cheltenham den Rücken zugekehrt – und umgekehrt. Doch die Geschehnisse wirkten sich auf seinen Werdegang als Musiker aus. In jenen Monaten, die er mit dem Üben auf der Höfner Archtop mit länglich-schmalen F-Löchern verbrachte, überflügelte er die meisten seiner Zeitgenossen bei Weitem.

Aller Wahrscheinlichkeit nach traf Brian John Keen am Montag, dem 18. April 1960, im Filbys, als dessen Gruppe in dem Keller spielte. Wie auch Dick war Keen einige Jahre älter als Brian. Erst kürzlich von der Handelsmarine zurückgekehrt, hatte er sich auf lokaler Ebene einen Namen gemacht, da er Bill Nile’s Delta Jazzmen weiter führte, während Bill den Wehrdienst ableistete. Der freundliche und selbstironische Keen – obwohl ihm in Cheltenham und der Londoner 100-Club-Szene der Ruf eines schwierigen Menschen voraus eilte – ist der wertvollste Zeitzeuge und Beobachter von Brians Frühphase. Er stammt aus einem ähnlichen gesellschaftlichen Hintergrund, und seine spätere zweite Karriere als Pädagogischer Psychologe erlaubt ihm einen wichtigen Einblick in die Interaktionen und die Dynamik von Rock ’n’ Roll-Bands. Keen mag wohl schon eine längere Zeit auf diesem Planeten verbracht und mehr erlebt haben, als sich die beiden zusammenschlossen, doch er beharrt darauf, dass „Brian uns um Längen voraus war. Er war musikalisch fähig und kompetent, unglaublich beeindruckend auf der Gitarre. Seine Akkordarbeit – die kapierten wir gar nicht! Meine Fähigkeiten lagen eindeutig unter Brians Niveau.“

Die beiden arbeiteten fast das ganze Jahr 1961 zusammen, wobei Keen im Kontrast zu Dick und Brians späterem Mitbewohner Graham Ride eine andere Seite des Gitarristen kennenlernte. Sie alle erlebten Brians Launen, doch bei Keen gab sich der 19-jährige seriöser. Natürlich kam der Spaß nie zu kurz – der beinahe schon telepathische Humor, den man in einer kleinen Band entwickelt, nicht zu vergessen die ständigen Eroberungsversuche –, doch was die Musik anbelangte, war Brian ernst und zielstrebig. „Er wusste genau, was er wollte. Er war ambitioniert und fühlte sich in Cheltenham wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die geschäftliche Seite des Ganzen interessierte ihn nicht, und so übernahm ich die Verhandlungen. Brians Hauptinteresse lag in der Musik – und wenn es nicht gut genug klang, sagte er das unverhohlen. Obwohl er drei oder vier Jahre jünger war, übernahm er oftmals die Rolle des Bandleaders. Heute erkenne ich die Zusammenhänge, doch damals wurde mir das nicht klar.“

Keen, wie auch Graham Ride, war 1961 Brians engster Musikerkollege, obwohl er sich auch unabhängig bei anderen Auftritten sehen ließ und gegen Ende des Jahres Kontakte zu einem neuen Bekanntenkreis in Oxford knüpfte, der sich für Jazz interessierte und bei der Kampagne gegen nukleare Aufrüstung engagierte. In der Ära war Oxford für viele Teenager aus Cheltenham ein beliebtes Ziel. Mit einigen spontan ausgewählten Musikern und schon kurz darauf mit Graham Ride am Saxofon traten sie unter dem Namen John Keen’s Jazz Band oder Brian Jones Blues Band auf, abhängig davon, wer gerade den Gig an Land gezogen hatte. Ihre Setlist enthielt Klassiker wie den „Tin Roof Blues“, den „St. Louis March“, „Memphis Blues“ und „Careless Love“, alles Nummern, die beim Publikum im Filbys gut ankamen. Die Gruppe gastierte in kleinen Dorf-Pubs in der Region Cotswolds wie dem Royal George in Birdlip und dem Bear Pools in Stroud, bei Haus-Partys in Evesham oder sogar in Cheltenhams Barbecue. Für größere Auftritte wie zum Beispiel in der Stadthalle als Vorgruppe für Acker Bilk formierte Keen ein Sextett mit einem Banjo-Spieler, und Brian blieb zu Hause. „Banjos sind nicht mehr in“, meinte er zu Keen. „Eine Gruppe mit einem Banjo-Spieler hat keinen Swing.“

Brian langweilte die puristische Jazz-Bewegung schon lange. Stattdessen nahm er sich Freddie Green, den Gitarristen in Count Basies Band, zur Brust. „Hör dir den Typen mal an“, versuchte er Keen zu überzeugen, „wie seine Akkordarbeit die ganze Band zum Swingen bringt!“ Von Green inspiriert, setzte sich Brian intensiv mit den komplizierten Feinheiten des Gitarrenspiels in einer Bigband auseinander. „Er differenzierte nicht zwischen traditionellem Jazz, Mainstream Jazz, Modern Jazz und Blues“, erzählt Keen. „Er bediente sich aller Stile, wobei der Blues sich als sein Hauptinteresse herausstellte.“ Obwohl der Rock ’n’ Roll in den USA und in Großbritannien zu einer Selbstparodie verkommen war, zeigte sich Brian immer noch von Elvis, Little Richard und Chuck Berry begeistert und brachte darüber hinaus anderen Gitarristen Chuck-Berry-Licks bei. Er hörte auch die Musik von Charlie Christian, Benny Goodmans visionärem Gitarristen. „Damals gab es einen Wissensschatz, auf den man nicht zugreifen konnte“, führt Keen weiter aus. „Darüber stand nichts in Büchern. Wie hätten wir etwas darüber erfahren können? Doch Brian hatte die Finger einfach überall drin.“

Obwohl er sich häufig in Begleitung von Dick Hattrell oder John Keen zeigte, hatte Brian auch das Selbstvertrauen, bei einem Konzert in der Stadthalle oder in einem Club über den Schwimmbädern aufzutauchen. Dort überredete er ältere und erfahrenere Musiker, ihn auf die Bühne zu lassen. Nach einem Abend in der Stadthalle saß Bandleader Kenny Ball mit Brian zusammen und sprudelte beinahe über vor Lob: „Du bist so jung – wie hast du gelernt, so zu spielen?“ Keen, der an dem Abend ebenfalls anwesend war, saß da und unterbrach den Leader nicht. Er war vollkommen zufrieden damit, dass dessen Lob auch auf ihn abstrahlte. Ein ähnliches Ereignis ergab sich mit Alex Welshs Band in der St. Luke’s Hall, wo Brian während mehrerer Songs einen kräftigen und treibenden Rhythmus ablieferte, worauf ihm die älteren Musiker anerkennende Blicke zuwarfen. „Die wussten das zu schätzen“, meint Keen. „Ein so junger Bursche, und dann noch in der Provinz – die zeigten sich ganz offen verblüfft.“

 

Keen nimmt an, dass Brian 1961 „gut über einhundert“ Gigs und Gastauftritte hinlegte, darunter einige Dutzend Shows mit der eigenen Gruppe. Rechnet man noch die Stippvisiten bei Bill Nile dazu, Auftritte mit den Barn Owls und ganz frühe und eher unbedeutende Einsätze im Keller vom Filbys, steht eine Tatsache außer Frage: Der junge Gitarrist häufte viel schneller als seine Zeitgenossen einen unübertrefflichen Erfahrungsschatz an.

Seine rasante und obsessive Suche nach neuer Musik intensivierte sich ab Sommer des Jahres, als sein neuer Mitbewohner Graham Ride in der Szene aufschlug. Graham hatte die Musik von Leadbelly schon einige Jahre zuvor entdeckt und kannte den Chicago Blues durch die Pionierarbeit eines Chris Barber. Barber war 1959 zur South Side in Chicago gereist und vermittelte danach innovative Musiker wie Muddy Waters und Sister Rosetta Tharpe nach Großbritannien, direkt vor den Augen der britischen Musikergewerkschaft, die alles versuchte, um „fremde“ Künstler fernzuhalten. Graham war von Liverpool aus nach Cheltenham gezogen und spielte in einer Lokalband Klarinette, als er im Mai Dick und Brian kennenlernte. Während des ersten gemeinsamen Nachmittags hörte sich Graham die musikalischen Schwärmereien der beiden an und den Streit, wer denn nun wieder das Essen aus dem Kühlschrank gestohlen hatte – halt ein typischer Tag im Selkirk House. Später im Sommer bezog Graham die Wohnung und brachte eine EMI/Vee Jay-Compilation mit dem Titel The Blues mit. Darauf befanden sich Songs von Elmore James und Jimmy Reed, die beide wichtige Eckpfeiler in Brians kleiner Welt werden sollten. Aus Graham und Brian wurden gute Kumpel. Graham trat im Gegensatz zu dem locker-lässigen Dick energischer auf. Ihm konnten Brians Launen kaum etwas anhaben. Allerdings fielen ihm schon von Anfang an die Spannungen auf, die der junge Gitarrist provozierte. Das war auch nicht schwer. In dem Sommer trafen sie Brians Schwester Barbara auf der Promenade: Die 15-Jährige, die ihrem Bruder ein wenig ähnelte, wirkte ängstlich, als hätte man ihr ein Gespräch mit ihm verboten. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ sie die beiden einfach stehen. Brian erzählte Graham oder John Keen nie etwas über Lewis und Louisa, obwohl die Eltern des Letzteren die Jones’ gut kannten: „Falls das Thema aufkam, vermied er jedes Gespräch. Man hatte schnell den Eindruck, als wolle er ihrem Einfluss entkommen, egal wie.“ Pat Andrews, die den Großteil des Sommers mit Brian verbrachte, glaubt, dass seine Entfremdung nie zu einem Abschluss kam, dass sie sich weiterhin auswirkte und einen schweren psychologischen Schaden verursachte. „Er wollte eigentlich nur, dass sie ihn einmal lobten. Er wollte nur das, bekam es aber nie.“

Graham war sich der Fehler von Brian bewusst, mochte ihn aber trotz der Defizite: Brian war klug, belesen und enthusiastisch. Seine Fähigkeit zu manipulieren wirkte sich „nie bei mir aus. Ich glaube nicht, dass er bei mir eine Charme-Offensive startete. Klar, er schwatze mir indirekt Geld ab, da ich für Zigaretten und Drinks zahlte. Doch das ist ja eigentlich ganz normal, gehört zum Erwachsenwerden. Du wohnst nicht mehr zu Hause und Freunde sind dann sehr wichtig.“

Tatsächlich gefiel Graham die leicht chaotische Grundstimmung. Er und Brian konnten sich über die Begegnungen, die das Leben des zukünftigen Stone bestimmten, schlapp lachen. Im Mai oder Juni vertraute er sich Graham und Dick an, verriet ihnen, dass seine Freundin Pat schwanger war. Den Rest des Sommers verhielt sich Brian nach Dicks Aussage vorbildlich – „er blieb Pat treu“ –, doch ohne dafür Anerkennung zu erlangen. Einige Zeit später schlenderten er und Graham die Promenade auf dem Weg zum Waikiki entlang, als Brian plötzlich fluchte. Pat Andrews’ Mutter und ihre Schwester hatten ihn gesehen. Die Mutter marschierte auf ihn zu, ließ eine Tirade unflätiger Bemerkungen vom Stapel und prügelte mit ihrem Schirm auf Brian ein. Auch Graham musste sich ducken, um den Schlägen auszuweichen, die jetzt auf ihn niedergingen. Brian nutzte die sich ihm dadurch bietende Chance und rannte lachend in einem Höllentempo davon, während Graham das Rückzugsgefecht einleitete.

Graham, John und Dick erlebten Brians ungeordnetes Leben; immer stand er am Rand der Pleite. Ständig schnorrte er Geld. Viele Stammgäste der Cafés von Cheltenham sahen sich plötzlich von Brian in eine Ecke gedrängt, wie gebannt von seinem jungenhaften, entschuldigenden Lächeln und fühlten sich genötigt, ihm einige Schilling für eine Tasse Tee oder ein Sandwich zu spendieren. Doch für die drei jungen Männer, mit denen er musikalisch arbeitete, überwog seine Leidenschaft für die Musik diesen störenden Charakterzug.

Im Herbst 1961 wurde aus den Obsessionen, die sein Leben bestimmten, ein musikalisches Manifest. Er hatte schon viel Blues gehört, doch der Sound von Jimmy Reed und Elmore James, nicht zu vergessen die gerade entdeckten Muddy-Waters-Alben, entwickelten eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Es ist den Stones zu verdanken, dass man diese Giganten des elektrischen Blues begeistert feierte und ihr Einfluss die Sechziger- und Siebzigerjahre durchdringen sollte. Doch 1961 galten sie noch als mysteriöse Figuren. Wollte man an Informationen über ihr Leben und ihre Veröffentlichungen gelangen, musste man sie sich in mühevoller Kleinarbeit aus verschiedenen Quellen beschaffen.

Zuerst faszinierte Brian die Musik von Elmore James, der für einen schillernden, glänzenden und aufwühlenden E-Gitarren-Sound stand, nicht zu vergleichen mit allem, was er bislang gehört hatte. Er spielte unentwegt „Coming Home“ von Graham Rides Vee-Jay-Compilation und entdeckte dabei, dass James einen metallischen Gegenstand oder einen Flaschenhals benutzte, um über die Saiten zu gleiten, wobei er die Gitarre in „Open D“ stimmte. [Bei den sogenannten „Open Tunings“ werden meist mehrere Saiten im Gegensatz zur Standardstimmung tiefer oder höher gestimmt. Dadurch ergibt sich eine bestimmte Harmonik, die für das Slide-Gitarre-Spiel notwendig ist., A.T.] Brian begann mit einem Stahlröhrchen und dem Mundstück eines Blechblasinstruments zu experimentieren, die er auf einem Müllplatz in Cheltenham gefunden hatte, fand aber später heraus, dass sich ein abgebrochener Flaschenhals besser eignete. Erst mal die Gitarren-Stimmung entdeckt, richtete er seine Konzentration auf den Sound. „Ich weiß wirklich nicht, wie er das anstellte, doch irgendwie verwandelte er eine Bandmaschine in einen Verstärker“, spekuliert Dick Hattrell. „Er steckte das Kabel der Gitarre da rein, eine Akustikgitarre mit einem DeArmond-Tonabnehmer, und kopierte den Stil von Elmore James so gut er konnte. Hätte man nicht gewusst, dass es Brian war, hätte jeder geglaubt, es liefe eine Platte von Elmore James.“

Gegen Ende des Jahres 1961 putschte Brian das Publikum mit dem neuen Sound auf. Der erste Gig fand vermutlich in einem Dorf-Pub am Rande von Gloucester statt, in Birdlip oder Painswick. Mit einem Vox-AC15-Verstärker – er hatte John Keen dazu überredet, ihm den Amp per Ratenkauf zu beschaffen – startete Brian eine neue Ära der Musikgeschichte. In ganz Großbritannien fand man keinen anderen E-Gitarren-Slide-Gitarristen – und möglicherweise noch nicht mal unter den weißen Musikern in den USA (es dauerte noch etwas, bis sich Elvin Bishop in den Chicagoer Clubs blicken ließ). Brians Einsatz der verstärkten Bluesgitarre fand innerhalb weniger Wochen nach Chris Barbers ersten Gehversuchen im elektrischen Blues statt, wofür dieser Alexis Korner rekrutierte. Barber hatte eine wichtige Rolle bei der Popularisierung des Blues gespielt, doch Brian nutzte die Steilvorlage und überführte die Musik in bisher unbekannte Dimensionen. Abgesehen von John Lennon und Paul McCartney gab es in Großbritannien nur wenige, die daran arbeiteten, unterschiedliche Fäden zu einem kohärenten Ganzen zu verknüpfen.

Ein weiterer Eckpfeiler der Musik von Brian Jones entstand 1961, als er das Album King Of The Delta Blues Singers von Robert Johnson mit nach Haus brachte. Die Platte mit 16 Tracks – zusammengestellt vom „Musikologen“ Frank Driggs – wurde eines der Schlüssel-Artefakte des britischen Blues, von Keith Richards mit fast schon mystischen Tönen gelobt, der Brians Scheibe in der Edith Grove hörte (wo sich beide eine Wohnung teilten). Im Selkirk House spielte Brian die Platte rauf und runter. Nach der Lektüre der Artikel von Paul Oliver in der Jazz Monthly, einem Pionier der Erforschung des frühen Blues, kaufte er sich kurz nach Veröffentlichung eine Ausgabe von dessen beeindruckendem Standardwerk Blues Fell This Morning. „Er spielte nicht nur das Zeug“, meint Keen. „Er las auch darüber. Es war faszinierend.“

Johnsons Musik entfaltete sich zum Leitmotiv von Brians Leben. Die kurze Lebensdauer des Bluesman umgaben Mythen, und sie schien dunkle Energie zu verbreiten. Johnson war der Mann, der ihm bekannten Musikern wie zum Beispiel Son House erzählte, dass er seine geradezu teuflischen Gitarrenfähigkeiten an den „Crossroads“ erlernt hatte, einer nicht näher bezeichneten Straßenkreuzung in den Tiefen Mississippis. Dort traf er einen „Schwarzen Mann“, der seine Gitarre nahm und sie neu stimmte. Der „Schwarze Mann“ war, wie einige Gelehrte vermuten, eine Repräsentation des alten afrikanischen Gottes Elegua oder Legba – einer Manifestation des Teufels. Für Brian, der den Wert von Olivers bahnbrechender Recherche unmittelbar erkannte, stellte das eine durchschlagende Geschichte dar.

Doch der Crossroads-Mythos entbehrt nicht jeglicher Grundlage. Robert Johnson hatte die Geschichte zweifellos aufgepeppt, um Musikerkollegen zu beeindrucken und gottesfürchtige Christen zu schockieren. Sein Freund Honeyboy Edwards hörte Johnsons Erzählung und rückte sie mit den Worten zurecht: „Robert war ein totaler Aufschneider.“ Allerdings bekamen auch Honeyboy und andere die Präsenz des Teufels in Mississippi der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts zu spüren, jedoch in einer speziellen Ausprägung. Ein schwarzer Mann, der die Straßen mit einer Gitarre bereiste, wurde oft zum Opfer eines unverzüglichen Gefängnisaufenthalts, und es konnte sogar noch schlimmer kommen: Musiker, die vor dem weißen Mann nicht mit einem untertänigen „Yes, Sir – No, Sir“ krochen, starrten allzu häufig in die Mündung des Colts eines Gesetzeshüters. Viele von ihnen wurden von ihren Familien geächtet, da sie sich für den Blues entschieden, also die Teufelsmusik, und nicht für den gottgefälligen Gospel. Brian war ein Pionier, vermutlich der erste britische Musiker, der sich Johnsons Mythos und seiner Story bediente. Zum Vergleich: Während Brian in die dunkle Welt des Robert Johnson eintauchte und per Anhalter den Südwesten Großbritanniens auf der Suche nach einem Musiker durchquerte, der sich mit ihm die Bühne teilte, sang Mick Jagger im Wohnzimmer in Dartford Buddy-Holly-Songs, um ein Publikum von Muttis zu bezaubern.

In späteren Jahren war es für die Brian überlebenden Musiker der Stones, wie beispielsweise Charlie Watts, wichtig, ihn auf eine eklige Art als Mittelschichtjunge aus Cheltenham herabzuwürdigen: „Er war ein angeberischer kleiner Bengel und stammte aus Cheltenham. Sagt das nicht schon alles?“ Einige Kritikpunkte waren berechtigt, andere glichen einem konfuzianischen Dilemma: Wir hassen einen Mann, der uns einen Gefallen erwiesen hat. Brian Jones war nicht nur die musikalische Inspiration der Rolling Stones, sondern zugleich Symbol ihrer schwarzen Magie. Er war der Stone, den etwas Dunkles umgab. Auch andere Aspekte seiner Persönlichkeit, wie die Sexualität, muteten verhängnisvoll an. Barry Miles erinnert sich, dass es in dem respektablen und höflichen Cheltenham einen Buchhändler gab, der seine Kunden mit den Werken von Marquis de Sade versorgte – Werke, die während der Ära der auch von Brian inspirierten Gegengesellschaft der Sechziger verschlungen wurden, die aber 1961 mehr als exotisch wirkten. „Brian kannte de Sade“, bestätigt Miles, „ich glaube, sogar schon in Cheltenham.“

Cheltenham … das angeblich vornehme Provinzstädtchen entpuppte sich als Zentrum einer Reihe verruchter Aktivitäten. Aufgrund der Rolle als Basis des traditionellen Jazz fungierte Cheltenham zudem als Gaststadt für eine revolutionäre Blues-Performance, als Chris Barber, der bei einigen Gigs 1959 mit Muddy Waters auftrat, sich mit der Hilfe von Alexis Korner am elektrischen Blues versuchte. Korner lässt sich als eine faszinierende Persönlichkeit beschreiben und wurde zu einer der Schlüsselfiguren in Brians Leben. Der Mann, der auf australische, jüdische und griechische Vorfahren zurückblicken konnte, ergatterte 1947 mit viel Glück einen Job beim British Forces Network und entdeckte wenige Jahre später den Blues durch Leadbelly. Innerhalb eines Jahres spielte er Gitarre in einer traditionellen Jazzband, der auch Barber angehörte. Barber hatte seine Hinwendung zu Jazz und Blues dank einer weggeworfenen Biografie des Jazz-Klarinettisten und Drogenkonsumenten Mez Mezzrow begonnen, die er auf einem Müllplatz der US-Air-Force gefunden hatte. Die beiden schlossen sich 1961 erneut zusammen und sollten retrospektiv als die wichtigsten britischen Verfechter des Blues gelten, trotz ihrer allgemein unvereinbaren Persönlichkeiten. „Chris leitete eine Jazzband, wohingegen Alexis den traditionellen Jazz nun wirklich nicht mochte“, erinnert sich Korners Frau Bobbie. „Chris zeichnete sich als erstklassiger Geschäftsmann aus, Alexis als ein fürchterlicher. Die beiden ähnelten sich überhaupt nicht.“

 

Trotz aller Unterschiede erwiesen sich Barber und Korner als ausschlaggebende Katalysatoren. Brian hatte Korners Aktivitäten mit beinahe schon religiösem Eifer auf den Seiten des Jazz Journal verfolgt. Als Barber und seine Band ein Konzert in der Stadthalle von Cheltenham für den 10. Oktober 1961 ankündigten, stand Brian in den Startlöchern. Hier lag seine Chance, zum Herzen der sich noch im Embryonalstadium befindenden Blues-Szene Großbritanniens vorzudringen.

Brian sicherte sich Dick Hattrell und John Keen zur moralischen Unterstützung. Dann sagte Barber den Programmteil an, bei dem Korner im Vordergrund stand. „Brian und ich schrien uns die Lunge aus dem Hals!“, meint Dick. „Ich glaube, wir waren die einzigen dort, die je etwas von ihm gehört hatten.“

Brian konnte problemlos zum Backstage-Bereich gelangen, wo er direkt den Chef vom Dienst, Barber, ansprach. Die beiden plauderten über gemeinsame Bekannte, erzählt Barber und bezieht sich damit vermutlich auf Bill Nile. „Er wusste eine Menge über das Geschäft, wusste genau, was er tat. Meiner Meinung nach war er ein sehr netter Junge. Sehr ernst, was die Musik anbelangte. Doch ich überließ Alexis das Gespräch mit ihm, da er ja der Bluesman war.“

Die drei Freunde schleppten Korner ins Patio, einen von Brians Lieblingsclubs. „Dort erzählte uns Alex, dass er eine neue Band aufbaut, um die Musik von Muddy Waters zu spielen“, erklärt Dick. „Und dass sie in einem neuen Club ihren Einstand geben wollten. Die Antwort war klar: ‚Wir werden da sein.‘“ Bei diesem Gespräch erzählte Brian von seiner Absicht, nach London zu ziehen, um Blues zu spielen. Korners Reaktion war sehr aufschlussreich. Wie John Keen mitteilt, hielt der Vater des britischen Blues Brians Plan für regelrechten Schwachsinn. „Er sagte zu Brian: ‚Geh bloß nicht nach London! Das ist nicht gut, dort wirst du es nie schaffen. Da ist alles viel zu kommerziell – dieser Blues-Stil wird niemals populär werden.‘ Brian zeigte sich von der Aussage unbeeindruckt. In manchen Belangen war er zuversichtlich und überaus willensstark.“

Trotz der Überzeugung, dass der Blues niemals im Mainstream münden würde, wurde Alexis Korner, damals 33, Brians wichtigster Förderer. Chris Barber und sein Manager Harold agierten gemeinsam wie eine gut geölte Geschäftsmaschine, die bedeutende Veranstaltungsorte wie das Marquee oder Festivals wie das National Jazz and Blues Festival etablierten. Im Gegensatz dazu war Korner eher eine Vaterfigur, ein väterlicher Freund. Das Apartment in der Moscow Road in Bayswater, Westlondon, das er mit seiner Frau Bobbie, selbst ein wichtiger und engagierter früher Blues-Fan, sowie dem Schriftsteller Charles Fox bewohnte, wurde zu einem Künstlertreff, einem Anziehungspunkt für die Bohème. Zu den ersten jüngeren Besuchern in der Moscow Road gehörten Brian Jones und Dick Hattrell.

Korner stand voll und ganz hinter der Musik, die er liebte, und ging damit wie mit einem Besitz um, was zu Auseinandersetzungen mit den vermeintlichen Rivalen Chris Barber und Paul Oliver führte. Jüngere Musiker empfanden die besten Charakterzüge des Musikers als inspirierend. In Brians Leben nahm er immer den Platz einer sympathischen, väterlichen Figur ein. „Alexis war ein netter Kerl, auch in der Art, wie er Brian ernst nahm“, meint Keen. „Einige Menschen hätten einen 19-Jährigen abgeschrieben, der sich zwar durch Leidenschaft und Interesse auszeichnete, aber nicht so richtig wusste, was er da gerade machte. Alexis erkannte Brians absolute Hingabe an die Sache.“

Schon von Anfang an gab sich der zukünftige Stone beharrlich und gewissenhaft in der Beziehung zu Korner. Er und Graham Ride waren erst vor Kurzem in die Bath Road 56 gezogen, in ein kleineres Apartment näher am Stadtzentrum gelegen, da sie sich mit ihrem Vermieter hinsichtlich eines verschwundenen Geldbetrags für die Gaskosten zerstritten hatten. Die beiden hassten die neue Wohnung – zu klein, um sie für Partys zu vermieten –, doch in der Nähe stand ein praktisches Telefonhäuschen, das Brian manipulierte. Indem er eine exakte Zahlenfolge vorwählte, gelang es ihm, Korners Londoner Nummer kostenlos anzurufen. Bald erfuhr er von einem geplanten Auftritt Korners im Oktober in Cheltenham. Erneut ebneten er und Graham sich den Weg zur Garderobe des Gaumonts, wo Brian die schlappe und lustlose Bill-Haley-Show gesehen hatte. Danach gingen die beiden mit Korner sowie Sonny Terry und Brownie McGhee ins Waikiki – zwei Blueser, die das gewerkschaftliche Auftrittsverbot für US-Musiker dadurch umgingen, dass sie sich als „Entertainer“ ausgaben.

Brian war in der Gegenwart von Brownie und Sonny völlig unbefangen. Letzterer hatte ein so schlechtes Sehvermögen, dass Brian und Graham ihm die Speisekarte des Waikiki vorlesen mussten. Sonny entschied sich für Steak and Kidney Pie. Während die Bluesmen aus Mississippi sich das klassisch britische Essen herzlich schmecken ließen, hielt Brian das Gespräch am Laufen. „Er ließ seinen Charme spielen“, erinnert sich Graham. „Darin war er gut, und zugleich kenntnisreich und beredt.“ Es sollte eine weitere Stufe zur Aufnahme in Korners großer Familie sein.

Brian und Dick Hattrell fuhren oft per Anhalter nach London. Die Trips waren strapaziös, trotz der gelegentlichen Freundlichkeit des einen oder anderen LKW-Fahrers, der auf Brians Masche hereinfiel, und das Geld für Eier und Fritten an einem Rastplatz springen ließ. „Mein Gott, wie schrecklich. Das dauerte immer so lange“, meint Dick. „Doch es lohnte sich. In Alexis’ Haus angekommen, beschlich einen schnell das Gefühl, im Anwesen eines Lords zu wohnen.“

Korner erläuterte Brian seine Pläne – wie er eine rein elektrische Blues­band gründen wollte, gemeinsam mit Cyril Davies, dem meist gereizten Mundharmonikaspieler und ehemaligen Arbeitskollegen vom Barrelhouse Blues Club. Cyril, von Haus aus Autoschlosser, ähnelte optisch ein wenig Lyndon B. Johnson, doch war er Großbritanniens erster Meister des „Mississippi Saxofons“ – der durch ein Mikrofon verstärkten Mundharmonika, wie sie auch von Little Walter und James Cotton gespielt wurde. Daraufhin schmiedete Brian eigene Pläne. Mehrere Wochen lang versuchte er Gordon Harper, einen Sänger aus Cheltenham, zu überreden, mit ihm eine elektrische Bluesband aufzuziehen. „Gordon war ein Versicherungsverkäufer mit einer Topffrisur, ein netter Kerl“, meinte der gemeinsame Freund Ken Ames. Harper verbrachte seine Wochenenden mit dem Bluesspiel im Stil von Big Bill Broonzy, was ihm sichtlich Spaß bereitete. Jedoch glaubte er felsenfest an wirtschaftlich schlechte Perspektiven. „Mit einer Bluesband wird man es niemals schaffen“, warnte er Brian. „Das ist nicht kommerziell. Es ist Musik für Spezialisten.“