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3.2.2. Die weitere lehramtliche Entwicklung

Dei Verbum bildet den Rahmen für die weitere Lehrentwicklung der römischen Kirche.1 Im vorliegenden Zusammenhang sind dabei vor allem zwei Texte der Päpstlichen Bibelkommission2 interessant: Aus dem Jahr 1993 stammt das Dokument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (IBK)3 und 2014 erschien „Inspiration und Wahrheit der Heiligen Schrift“ (IWHS). Beide Texte können und sollen im vorliegenden Rahmen nicht umfassend gewürdigt, sondern lediglich auf die in Frage stehenden Probleme untersucht werden.4

IBK weist der Exegese die Aufgabe zu, Orientierung für die Kirche zu leisten (29). Angesichts der langen Ablehnung der historischen Methode im Rahmen der katholischen Kirche erstaunt fast, wie eindrücklich festgehalten wird: „Die historisch-kritische Methode ist die unerläßliche Methode für die wissenschaftliche Erforschung des Sinnes alter Texte.“ (30)5 Der Text führt dann verschiedene Zugänge zu den biblischen Texten vor und kommt zur Bewertung: „Zusammen mit anderen Methoden und Zugängen öffnet sie so dem modernen Leser den Zugang zum Verständnis der Bibeltexte, wie sie heute vorliegen.“ (36) Ein umfangreicher Methodenstrauß mit verschiedenen Blickwinkeln wird begrüßt, um das Sinnpotential der Texte zu erheben. Interessant ist dabei, dass es laut der Bibelkommission eine „verwandtschaftliche“ Beziehung zwischen Ausleger und Text geben muss, um den Textgehalt erheben zu können. Charakteristisch für die katholische Interpretation der Bibel sei eine innere „Verwandtschaft“ als „eine Bedingung der Möglichkeit für alles exegetische Arbeiten.“ (75) Dieses familiäre Verhältnis stehe „in Kontinuität mit der Interpretationsdynamik, die innerhalb der Bibel selbst zutage tritt und sich im Leben der Kirche fortsetzt“ (75). Eine skeptische Distanz zum Text ist der Interpretation deshalb nicht förderlich. Da sich zudem erkennen lasse, dass die biblischen Texte „in fortwährendem Dialog mit den Glaubensgemeinschaften“ stehen, aus denen sie hervorgegangen sind (81), müsse zwischen Gemeinschaft und Interpretation ein notwendiger Zusammenhang bestehen. Für die Gegenwart heißt dies, „daß die Auslegung der Heiligen Schrift innerhalb der Kirche stattfindet, in ihrer Pluralität und ihrer Einheit, und in ihrer Glaubenstradition“ (81).6 Hier setzt die Bibelkommission einen Analogieschluss an: „Die Glaubenstraditionen bildeten das lebendige Umfeld, in das sich die literarische Tätigkeit der Verfasser der Heiligen Schrift einfügen konnte. Hierzu gehörten auch das liturgische Leben und die äußere Tätigkeit der Gemeinschaften, ihre geistige Welt, ihre Kultur und ihr geschichtliches Schicksal. Die biblischen Verfasser nahmen an alledem teil. In ähnlicher Weise verlangt also die Auslegung der Heiligen Schrift die Teilnahme der Exegeten am ganzen Leben und Glauben der Glaubensgemeinschaft ihrer Zeit“ (81). Die historische Beobachtung wird damit zu einem hermeneutischen Argument, das die Kirche in ihrer Gemeinschaft zur Auslegerin der Schrift erklärt. Dieser Schluss ist jedoch exegetisch nicht statthaft, da sonst die Verbindung zur Kirche eine Vorbedingung der Exegese darstellte. Die Exegese ist allerdings gerade als Ergebnis der Emanzipation der Vernunft von der Kirche offen für kirchlich nicht gebundene Ausleger. Eine Exegese, die nur innerhalb der Kirche verfolgt werden dürfte, kann deshalb ihr kritisches Potential der Kirche gegenüber nicht entfalten.

Die Kirche ist weiterhin nicht nur die einzige legitime Auslegerin der Schrift, durch sie ist die Schrift als Kanon auch erst festgestellt worden: „Vom Heiligen Geist geleitet und im Licht der erhaltenen, lebendigen Überlieferung hat die Kirche die Schriften festgestellt, die als Heilige Schrift zu betrachten sind“ (82). Dieser durchaus kompliziert gedachte Prozess der Kanonisierung7 durch die Kirche verleiht den Texten ihre einzigartige Dignität und Funktion: „Indem die Kirche den Kanon der Schriften feststellte, hat sie ihre eigene Identität deutlich erkannt und definiert, so daß die Heilige Schrift fortan wie ein Spiegel ist, in dem die Kirche ihre Identität immer wieder entdecken und durch die Jahrhunderte hindurch die Art und Weise verifzieren kann, wie sie selbst fortwährend auf den Ruf des Evangeliums antwortet und wie sie sich ihrem Auftrag als dessen Übermittlerin entsprechend verhält (vgl. Dei Verbum, 7). Dies verleiht den kanonischen Schriften einen Heilswert und eine theologische Stellung, wodurch sie sich radikal von anderen alten Texten unterscheiden. Wenn diese zwar auch Licht auf die Anfänge des Glaubens werfen können, so können sie doch niemals die Autorität der heiligen Schriften beanspruchen, die als kanonisch und damit als für das Verständnis des christlichen Glaubens grundlegend erachtet werden“ (IBK 83). Die Schrift wird demnach zum Maßstab der kirchlichen Identität und diese Funktion verleiht ihr ihre unüberbietbare Autorität. Damit wird „noch deutlicher als in den Konzilstexten die materielle Suffizienz und die normative Funktion der Schrift zum Ausdruck gebracht.“8

Die auch von IBK 80 erkannte Pluralität der Texte zeigt angesichts dieser Funktionsbestimmung allerdings die Schwierigkeit einer normativen Interpretation im Hinblick auf kirchliche Entscheidungen. Dieser Urteilsprozess ist zunächst dem ganzen Volk Gottes anvertraut, da sich die Gesamtheit der Gläubigen laut Lumen Gentium 12 nicht irren kann und so geleitet vom Heiligen Geist unverbrüchlich in der Wahrheit bleibt. IBK stellt deshalb fest: „So haben alle Glieder der Kirche eine Rolle bei der Interpretation der heiligen Schriften zu übernehmen“ (86).9 Als Nachfolger der Apostel haben allerdings die Bischöfe „die ersten Zeugen und Garanten der lebendigen Tradition [zu sein], in deren Licht die heiligen Schriften in jeder Zeit interpretiert werden.“ (86) Ihnen stehen als Mitarbeiter die Priester zur Seite, die „als erste Aufgabe die Verkündigung des Wortes“ haben (87). Ortskirche und einzelne Christen werden im Hören der Verkündigung durch die Priester zu dem Ort, an dem der Heilige Geist die Herzen der Gläubigen entzündet (87). Damit ist deutlich, dass der Heilige Geist am Interpretationsprozess der Schrift beteiligt sein muss, soll diese wahrhaft ausgelegt werden.10 Dieser Gedanke erinnert an den evangelischen Gedanken des Testimoniums, wird aber weiter ausgezogen. Er erfolgt hier nicht lediglich individuell, sondern setzt sich gleichsam „nach oben“ fort. Denn entscheidend ist letztlich, dass die Interpretation in der Kirche verbürgt wird durch das kirchliche Lehramt, bei dem der Geist bleibend verortet ist.11 Auch wenn Ortskirche und einzelne Gläubige in den Prozess der Urteilsbildung einbezogen werden, so ist doch klar, dass die Entscheidung über eine Interpretation letztlich vom Lehramt vollzogen wird: „So ist es in letzter Instanz also Sache des Lehramtes, die Echtheit der Interpretation zu garantieren und gegebenenfalls zu sagen, daß diese oder jene besondere Interpretation mit dem authentischen Evangelium unvereinbar ist“ (89).12

Soweit folgt die IBK der kirchlichen Lehre von Dei Verbum. Genauer legt IBK aber fest, wie diese Echtheit zu garantieren ist. Dem Lehramt kommt die „Aufgabe innerhalb der koinônia des Leibes Christi“ zu, festzustellen, welche Interpretation normativ gelten soll. Dies stellt eine wichtige Weichenstellung dar, da so das Lehramt in die Kirche eingebunden wird.13 Genauer legt IBK 89 fest, dass das Lehramt „zu diesem Zweck […] die Theologen, die Exegeten und andere Experten“ konsultieren soll, um die richtige Entscheidung zu finden. Das Lehramt erscheint in diesem Zusammenhang nicht von der Kirche losgelöst, sondern in den lebendigen Austausch eingebunden. Damit wird der Eindruck abgewehrt, den das 1. Vatikanische Konzil in der Konstitution „Pastor Aeternus“ 21 macht, wenn dort gesagt wird, dass der Papst eine Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen genießt, die „von sich aus, nicht erst infolge der Zustimmung der Kirche“ Bestand hat.

Eine solche Loslösung des Lehramts von dem Dialogprozess in der Kirche kennt IBK nicht. Gerade dieser Gedanke ist ökumenisch wichtig und hält Anschluss an die moderne Diskussion um die Schriftautorität.14 Deshalb gilt: „Das Dokument stellt einen Meilenstein auf dem über lange Zeit nicht konfliktfreien Weg des kirchlichen Lehramts mit der katholischen Exegese dar.“15 Deutlich ist aber auch, dass das fundamentaltheologische Problem, wie historische Methode und Autorität der Schrift zusammen gedacht werden können, nicht gelöst ist. Für IBK gilt deshalb: „Die Integration der historischen Kritik gelingt nur unter Hinzuziehung von Kategorien, die ihr selbst fremd sind.“16

Den Gedanken, dass die Kirche den Kanon feststellt und deshalb auch dessen autoritativer Ausleger ist, greift auch das zweite im vorliegenden Zusammenhang interessante Dokument der Bibelkommission auf: „Die Bücher, die heute unsere Heilige Schrift ausmachen, bestätigen sich nicht selber als ,kanonisch‘. Ihre Autorität muss auf Grund ihrer Inspiration von der Gemeinschaft anerkannt und angenommen werden, sei es die Synagoge oder die Kirche“ (60).17 IWHS widmet sich der Frage, warum gerade diese Texte kanonisch sein sollen und betrachtet deshalb die Inspiration der einzelnen Schriften eingehend.

Es geht also um die interessante Aufgabe, die antike Feststellung der Kirche näher zu begründen, also zu fragen, worin die Dignität der biblischen Texte gründet: „Unser Beitrag soll es sein, etwas besser die Natur der Inspiration zu klären, so wie es aus dem Zeugnis der biblischen Schriften selber hervorgeht“ (6). Dazu will die Kommission feststellen, „was die biblischen Schriften selber über ihre Herkunft von Gott sagen“ (3). Diese Formulierung kommt der Idee der vorliegenden Arbeit sehr nahe, da es ebenfalls darum geht, das „Selbstzeugnis“ (6) der Texte zu erheben. Allerdings wird dieses Vorgehen im Rahmen von IWHS durch dogmatische Vorgaben belastet, was die Durchführung zweifelhaft scheinen lässt. Offenbarung und Inspiration werden nämlich in eins gesetzt, sodass die biblischen Bücher daraufhin untersucht werden, was sie über „die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott“ (6) erkennen lassen. Dies setzt ein – exegetisch methodisch unhaltbares und deshalb unzulässiges – Vertrauen in die oft anonymen oder pseudepigraphen Autoren der biblischen Texte voraus. Denn es ist praktisch undurchführbar und auch methodisch abzulehnen, „die Beziehung ihrer Verfasser zu Gott“ (10) als Beleg ihrer Inspiration anzuführen. Wenn für Inspiration tatsächlich „die göttliche Mitteilung und die gläubige Aufnahme der Inhalte“ als „fundamental“ wichtig gesehen wird (51), dann lässt sich historisch Inspiration nicht greifen, da eine „besondere Beziehung zu Gott“ (52) intersubjektiv nicht nachvollziehbar ist. Vor allem nicht durch das unkritische Vertrauen in die Angaben der biblischen Autoren.

 

So zeigt der Durchgang durch IWHS den methodischen Mangel deshalb gerade in den historischen Urteilen, die oft wirken, als ob dogmatische Vorgaben der kirchlichen Tradition diese leiten würden.18 Hier scheint vor allem Dei Verbum 12 entscheidend, wonach die Texte in dem Geist gelesen werden müssen, in dem sie geschrieben wurden (53). Es scheint, als ob IWHS diesen Grundsatz umdreht und das gegenwärtig fromme Lesen zum Maßstab historischen Urteilens macht. So kommt der Text oft zu dem Ergebnis, das er bereits voraussetzt, also der Inspiration der Texte.

Die kirchliche Hochschätzung der Evangelien wird z.B. durch ihre „einschlussweise“ Mitteilung begründet, „dass ihr Text von Gott herkommt“ (23). Historisches Bewusstsein und Kritikfähigkeit scheinen hier in den Hintergrund zu treten: „Indem die Evangelien die besondere Formung der Zwölf berichten, zeigen sie die konkrete Art ihrer eigenen Herkunft von Jesus und von Gott“ (24). Inwieweit die historischen Zwölf mit den Evangelien in Verbindung gesetzt werden können, wird nicht thematisiert. Es genügt, dass die Evangelien ihre Herkunft von Gott bezeugen, „indem sie Jesus und sein Offenbarungswerk darstellen“ (51). Die Bibelkommission erkennt göttliche Inspiration also bereits in der Behauptung von Offenbarung oder in der Wiedergabe einer Erzählung, die Offenbarung sein soll. Diese wird dann unmittelbar mit der Heilswahrheit der Überlieferung verbunden: „Die Evangelien gewähren also eine wahrhaftige Verbindung mit dem wirklichen Jesus.“ Sie sind nicht als Chronik der Geschehnisse um Jesus aufzufassen, sondern drücken „den theologischen Wert dieser Ereignisse“ (123) aus, woraus folgt, „dass die theologischen Aussagen über Jesus einen direkten und normativen Wert haben, während den rein historischen Elementen eine untergeordnete Funktion zukommt“ (123). Wie sich beide Ebenen präzise voneinander trennen lassen, ist für IWHS kein Thema.

Wenn z.B. Lukas den Traditionszusammenhang benennt, in dem er steht (51), erkennt IWHS darin die ausdrückliche Beziehung des Lukas zu Jesus und so die Autorität von Offenbarung. Außerdem ist sein Zeugnis durch die „Wir-Abschnitte“ der Apg besonders glaubwürdig, da dadurch „auf die Beziehung des Verfassers zu Paulus und durch Paulus zu Jesus“ verwiesen werde (34). Weiter sei auf Grund der „klaren Eigenschaft des Inhalts der Apostelgeschichte“ deutlich, dass auch „ihr Text von Jesus und von Gott“ herkommt (38). Deshalb sei der Text besonders glaubhaft und wahr. In der Schwebe bleibt die Feststellung, ob die Apostel als „Augenzeugen und Diener des Wortes“ (Lk 1,2) anzusehen sind, wie dies IWHS 84 nahe zu legen scheint.

Besonders wichtig ist für IWHS das Johannesevangelium, da hier ein Augenzeuge – der „Lieblingsjünger“ – ausdrücklich die Autorenschaft des Evangeliums für sich beanspruche (32). Die Inspiration seines Textes sei deshalb „durch unmittelbare Erfahrung“ (32) mit Jesus gegeben.

Die paulinischen Texte seien inspiriert, weil Paulus den göttlichen Ursprung seines Evangeliums (40) selbst bezeugt und weil die Göttlichkeit seiner Berufung „auch von den damaligen kirchlichen Autoritäten anerkannt“ (41) wurde. Ebenso bezeuge auch der Seher Johannes in Apk 1,1–3 selbst, dass seine Offenbarung von Gott kommt, sogar genau wie diese „von der Ebene Gottes zur konkreten Ebene eines Buches“ (45) herabkommt. Weil es so Offenbarung Gottes enthalte, gelte für den Text im Hinblick auf Apk 22,18–19: „Das fertige Buch hat die Vollständigkeit, die Gott eigen ist, ihr kann nichts hinzugefügt und nichts weggenommen werden“ (48).

Zuweilen erscheint der Text disparat, wenn er z.B. unabhängig von historisch fragwürdigen Urteilen zu dem Schluss kommt, dass „die Evangelien selber Gottes Wort“ werden, indem sie es bezeugen (30). Hier wird Inspiration dann als Wirkung der Lektüre gesehen, die aber nicht weiter gesichert werden kann.

Insgesamt versucht IWHS die Autorität der Texte durch den Rekurs auf deren Inspiration zu bestimmen, nimmt dabei aber in Kauf, dogmatische und historische Ebenen zu oft zu vermischen und so exegetisch nicht befriedigend zu wirken. Die lehramtliche Position lässt sich damit dahingehend zusammenfassen, dass das Lehramt letztlich die Autorität der Schrift zwar anerkannt, faktisch aber die letztgültige Entscheidung über deren Interpretation hat.19 Dies führt wiederum zur Feststellung, dass seit dem 2. Vatikanum eine Selbstbescheidung des Lehramtes in seinem Verhältnis zur Schrift festzustellen ist, die Autorität der Schrift aber vom Lehramt faktisch ausgeübt und somit garantiert wird. Die Wahrheit der Schrift wird dadurch von der Kirche festgestellt.

3.2.3. Eine exemplarische Position der römisch-katholischen Dogmatik: Otto Hermann Pesch

Da sich die römisch-katholische Theologie nicht in den Verlautbarungen des Lehramts erschöpft, soll als Beispiel für die Aufnahme der vorliegenden Thematik im Horizont römisch-katholischer Systematik der aktuelle und breit angelegte Diskussionsbeitrag Otto Hermann Peschs vorgestellt werden. Er widmet ihr und den zu ihr gehörenden Fragen den ersten und grundlegenden Traktat seiner Dogmatik, also der theologischen Prinzipienlehre.1 Darin zeichnet er die Frage nach der Schrift in den größeren Rahmen einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Dogmatik ein. Dies geschieht, indem er als Leitthema das „Wort Gottes“ durch seine exegetischen, theologiegeschichtlichen, logischen und sprachtheoretischen Verstehenskontexte verfolgt. Seine Grundfrage lautet dabei: „Wie und nach welchen Maßstäben erreicht das Wort Gottes auf dem Weg der Verkündigung der Kirche unser Ohr und Herz?“2 Dabei setzt er voraus, dass sich das Wort Gottes in Jesus Christus ereignet hat, was wiederum zu dem eigentlichen Problem des ganzen Traktates führt: „Wir stehen damit schon in aller Schärfe vor dem bis dahin unerhörten Problem der Gegenwart Christi als der räumlichen und zeitlichen Gegenwart eines vergangenen Ereignisses.“3 Deshalb muss er betonen, dass es sich mit Christus anders verhält als mit anderen Persönlichkeiten der Geschichte. Daraus folgt wiederum: „Wenn es mit Jesus Christus anders sein soll, dann muss das Weitererzählen, die Erinnerung an ihn eine andere Qualität haben. Sie müssen ihn gegenwärtig machen.“4 Diese Forderung führt dann zu der Frage: „Wie ist das Wort der Weitererzählung – denn natürlich ist Verkündigung auch erinnernde Weitererzählung! – Wort Gottes? Wie verhält sich das geschriebene Wort der Bibel dazu?“5

Ein kurzer, aber dennoch für eine Dogmatik relativ umfangreicher Durchgang durch das Alte und Neue Testament und der dortigen Verwendung von „Wort Gottes“ führt Pesch zu der allgemeinen Schlussfolgerung: „,Wort Gottes‘ ist das unabweisbare, sogar als Torheit erscheinende, aber verstehbare, durch die menschliche Predigt wirksam vermittelte Christusereignis als Versöhnungs- und Befreiungswort an den Menschen, das ein für alle Mal gilt.“6

Diese Definition muss sich aber unter den Bedingungen der Moderne bestätigen lassen. Da durch die Aufklärung und die „beginnende historische Bibelkritik […] die unbefragte Autorität der Bibel“7 zerbrochen ist, sieht sich Pesch vor die Aufgabe gestellt, „buchstäblich vom Nullpunkt an Rechenschaft darüber abzulegen, warum und in welchem Sinne wir vom ,Worte Gottes‘ reden, und zwar mit dem Anspruch, damit Wahrheit zu sagen, die sich sogar in spezifischer Weise der wissenschaftlichen Überprüfung auszusetzen bereit ist.“8 Weil er diesen Anspruch erfüllen will, skizziert er im Anschluss die wissenschaftstheoretischen Aspekte der Frage nach dem „Wort Gottes“, also dessen „Bewährung“ unter den Bedingungen der Gegenwart, und diskutiert dabei auch die Definition von der „Wahrheit“ theologischer Aussagen.

Für den vorliegenden Zusammenhang ist seine Bestimmung der Bibel als „Quelle und Norm der Dogmatik“9 entscheidend. Dabei stellt er gegen die traditionelle und nicht mehr haltbare Identifizierung von Wort Gottes und Bibel klar: „Nicht die Bibel ist das Wort Gottes im linguistisch-literarischen Sinne, vielmehr transportiert und vermittelt sie es im Vorgang der Auslegung ihrer Botschaft und steht insofern sowohl der historisch-kritischen Untersuchung und sogar der immanenten Sachkritik offen.“10 Dass die Bibel aber an sich für den Theologen grundsätzlich unabdingbar bindend ist, wie das Gesetz für den Juristen,11 so sein Vergleichspunkt, begründet Pesch durch die Bestimmung der Bibel als „Urkunde des Glaubens“ (Gerhard Ebeling), als „ursprüngliche Botschaft“ (Hans Küng), als „mitgehender Anfang“ (Diego Arenhoevel/Karl Rahner)12 oder – in seinen eigenen Worten – als „Buch des Wortes Gottes“.13 Als „ein durch und durch menschliches Buch, geschrieben in allen literarischen Formen der Zeit und der Region“ ist es deshalb „auch ein höchst fremdartiges Buch“,14 das seinerseits interpretiert werden muss, weshalb – und dies ist ein deutliches Argument gegen biblizistische Argumentationen – „die Bibel nie als Arsenal von dicta probantia“15 missverstanden werden darf.16 Die aus der menschlichen Verfasstheit der Bibel folgende notwendige Interpretation führt zu der Frage nach den Maßstäben derselben. Pesch hält dabei zunächst fest, dass die Bibel alles enthält, „was die Menschen zu Glaubenden macht, [aber …] nicht in allen Stücken mit dem gleichen Gewicht“.17 Deshalb darf die Bibel „als Dokument des Ringens von Menschen – Glaubenden und Mitchristen (!) – um ihren Glauben“18 gelesen werden. Die Frage nach einem Interpretationsmaßstab beantwortet Pesch mit dem Hinweis auf die Kurzformeln des biblischen Glaubens, die „Systematiker“ sich selbst herstellen sollen. „Wie ein ,Notebook‘ in der Tasche, eine ,Kurzformel‘, ein Summarium der biblischen Botschaft“19 empfiehlt er solche Kurzformeln bei sich zu haben. Wer beurteilt aber, ob eine solche Kurzformel richtig ist? So kommt Pesch auf die lehramtliche Verkündigung zu sprechen.

Während die offizielle Lehrmeinung – wie gesehen – darauf besteht, dass die Bibel ohne die Kirche als Leserin (und mit ihr dem Lehramt als höchste und einzig ordentlich bevollmächtigte Interpretationsinstanz) die Schrift im Vollsinn als Autorität gar nicht existiert, erkennt Pesch den kritischen Punkt dieser Immunisierungsstrategie der Kirche gegen die Schriftautorität und erklärt deutlich: „Der Vorrang des biblischen vor allen anderen geschichtlichen Zeugnissen des Glaubens, der Vorrang des ,mitgehenden Anfangs‘, der die Bibel zur norma normans macht, gebietet festzustellen, dass die Bibel der konkreten Kirche in Leben und Lehre auch kritisch gegenübersteht.“20 Dies steht im Zusammenhang mit seiner generellen Skepsis, ob und wie es möglich ist, einen Lehrsatz irreformabel auszusprechen, inwieweit das Lehramt also die Autorität wahrnehmen kann, letztinstanzlich über Fragen der Bibelauslegung – wie dies Dei Verbum 10 fordert – zu entscheiden.21 Pesch fordert deshalb „ein mutiges Wort der Kirche“,22 um diese Selbstimmunisierung des Lehramtes gegen die Schrift abzuwehren und gleichzeitig eine gewisse Selbstbescheidung kirchlicher Lehre, die sich bewusst sein soll, nur dazu zu dienen, „konkretes christliches Leben in der Kirche […] zu orientieren.“23

Falls dies eingeräumt wird, bleibt zu fragen, wie die normative „Kontrollinstanz“ der Schrift praktisch angewendet werden kann. Pesch rät dazu, weder Denkform noch Terminologie der Bibel ungeprüft zu übernehmen, und warnt davor, Begriffe in die kirchliche Lehre einzuführen (wie z.B. „Priester“), die sich ausdrücklich nicht in der Bibel finden. Außerdem ist vor „illegitimer Harmonisierung“ zu warnen und ausdrücklich auf die „inhaltliche Mitte der Schrift“ zu achten.24 Diese „Mitte“ bestimmt Pesch als „Botschaft vom Glauben an Gott in Jesus Christus“, die ihrerseits nicht objektiv kodifizierbar ist und sozusagen als „,Mehrwert‘ eines Menschenwortes, das aus der Geschichte auf uns zukommt“25 verstanden werden muss. Genauer wird dieser „Mehrwert“ als „Einladung zum Glauben“26 aufgefasst, der immer wieder neu aus Bibel und Überlieferung erhoben und ausgesagt werden muss. Pesch formuliert das, was das Wort Gottes für ihn sagt, so: „Es ,gibt‘ Gott als die Wirklichkeit mitten in unserem Leben.“27 Die biblische Botschaft, die für ihn die „biblische Software“28 des Theologen ausmacht, besagt auf einen Satz gebracht: „Das ewige Leben mit Gott wird verkündet als Treue Gottes zum Leben des Menschen in der Welt, das Gott für den Menschen gewollt hat und das sich im Medium der Sprache als menschliches Leben vollzieht.“29 „Wort Gottes“ ist also eine Kurzformel, die das komplexe Ineinander von menschlichem Zeugnis und dieser Befragung auf seine darin inne wohnende und dadurch überlieferte und gegenwärtig auszusagende Einladung zum Glauben beschreibt. Gemeint ist also mit der Rede vom „Wort Gottes“ „das Zeugnis der Schrift und seiner Brechung in der Geschichte seiner überliefernden Auslegung, befragt auf das in ihrem menschlichen Wort Gott entsprechende Wort einst und seinen Wahrheitsansspruch heute.“30 Unverkennbar führt Pesch hier den Gedanken der Analogie ein, die ein Entsprechungsverhältnis zwischen dem menschlichen Wort und der göttlichen Botschaft aufdeckt, das Pesch wiederum in verschiedenen Belangen im Anschluss vorführt.31 Dieses differenzierte Verständnis des Begriffs „Wort Gottes“, als „Wort, das in Gestalt der biblisch-christlichen Überlieferung mit dem Anspruch auf uns zukommt, Wort Gottes hörbar zu machen“,32 erlaubt also die unbefangene historische Arbeit und gibt zugleich den Anspruch der dezidiert theologischen Forschung nicht auf. Indem die immer neu zu aktualisierende Sprachwerdung des göttlichen Wortes im gegenwärtigen Menschenwort von Pesch als ihm wesensgemäß beschrieben und dementsprechend gefordert wird, gelingt ihm die inhaltliche Bestimmung des Begriffs „Wort Gottes“ derart, dass die historische Methode theologisch relevant wird. Ihre „einzig sachgemäße Perspektive“, wenn sie sich als Beitrag zur theologischen Auslegung des biblischen Textes verstehen will, ist es dann zu fragen: „Was wird hier zur Ermöglichung, Abgrenzung, Verteidigung und Tiefenschau des Glaubens gesagt?“33 Er kommt mit dieser Bestimmung zu der bemerkenswerten These: „Auch und gerade wissenschaftlich will die Bibel als Einladung zum Glauben gelesen werden – und nicht nur als interessantes religionsgeschichtliches Dokument.“34 Damit markiert er die Grenze der klassischen historischen Methode, deren Anwendung für ihn „als solche […] noch gar kein theologischer Beitrag“35 ist. Erst unter der zitierten Perspektive wird die historische Methode zur theologischen Arbeit im eigentlichen Sinn.

 

Die Autorität der Schrift liegt für Pesch als Vertreter der katholischen Systematik also in ihrer grundlegenden Bedeutung als Grunddokument des christlichen Glaubens, das das damalige Ringen um den Glauben und dessen Verkündigung einerseits festschreibt, andererseits aber auch den Glauben der nachfolgenden Generationen bis heute immer wieder durch interpretierende Lektüre weckt. Ihre Autorität liegt darin, den inhaltlich skizzierten Begriff von Wort Gottes grundlegend zu füllen. Insofern ist ihre Autorität eine sachliche, keine formale, weil sie das „Grundwort Gottes“ überliefert: „Gott will den Menschen.“36

Gegenüber der lehramtlichen Position, die sich eher traditionellen Fragen wie dem Verhältnis von Schrift und Tradition stellt, variiert Pesch die einzelnen Bezeugungsinstanzen des Glaubens, um zu einer gegenwärtig wirklich vertretbaren Autorität der Schrift zu gelangen, der er dann die unbestrittene Rolle der norma normans zuweist, die der Kirche und ihrem Lehramt durchaus kritisch gegenübertreten kann. Tradition, Dogma und Bekenntnis können also der Schrift auf keinen Fall gleichwertig zur Seite treten (wie dies aber Dei Verbum 9 suggerieren kann), sondern dürfen lediglich „eine abgeleitete Normativität“ beanspruchen, „weil und sofern sie auf die ,entferntere‘, das heißt hier: auf die letzte Norm [verweisen], die Heilige Schrift.“37 Das beinhaltet, dass das Lehramt in einer solchen Konzeption wirklich dem Wort Gottes dient, es also darauf verzichtet, autoritativ und letztverbindlich Auslegungen der biblischen Texte vorzulegen.

Damit gelingt Pesch eine zeitgemäße und anschlussfähige Lehre von der Schrift, bleibt aber bei der von ihm selbst aufgeworfenen Frage, warum gerade dieser Text Autorität verdient,38 merkwürdig zurückhaltend. Sein Hinweis auf den bleibenden Ursprung oder mitgehenden Anfang scheint hier unbefriedigend.39

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