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Hüter der Freude

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X. KAPITEL

EIN GASTHAUS
MIT KOSMISCHEN
HINTERGRÜNDEN

Alte Weinstuben haben ihren Zauber. Ihre Rundbogen und Dunkelnischen, die das Taglicht mit farbigen Traumnetzen vergittern, schließen Kräfte ein, die sich verfänglich rühren. Menschen mit einem zeitlosen Herzen spüren sie im Vorüberschreiten.

So ein Herz ist ein gesegnetes Spielzeug. Unter Tausenden hat es einer. Der lebt dann in einer geheimnisvollen Glückseligkeit weiter. Die Tränen, die süße Liebe fließen in seinem Blut, die Gedanken der Urväter halten ihn mit Gemurmel, wenn sein Schatten an den Mauern ihrer Häuser vorüber will.

Die Lauben der Kleinseite sind aus einem wunderlichen Gestein gebaut. Verblichene Texte bröckeln immerzu aus dem Mörtel, Kreidenstriche von Bubenhand formen sich zu verwirrenden Pentagrammen. Dunkle Höfe kauern hinter den Hauseinfahrten, auf riesenhaften Pawelaischen sperrt problematisches Gerumpel den Weg.

Hinter dem trägen Nachmittagswind kam Sturmfenster über die Brücke. Das Haar pappte ihm in der Stirne und er grüßte schon von weitem den Baum, der vor den einstöckigen Häusern auf der Insel Kampa wuchs. Der war groß und alt und seine Wurzeln gingen durch Erdreich und Geröll bis hinunter zum Fluß. Wenn er in seine tiefe Krone blickte, mußte er immer an das Antlitz Gottes denken, wie er's von den Bibelbildern seiner Schulkinderjahre her behalten hatte. Da war auch ein Winken und Drohen darin, zornmütiges Rauschen und Ewigkeit. Sturmfenster liebte diesen Baum.

Ihm war gut und friedfertig zu Mute, wie schon lange nicht mehr. Der Sommerstaub flog ihm in die Augen und lockte ein blankes Wässerlein in den Winkel. Ein nichtsnutziger Humbug malte ein Lächeln auf seinen häßlichen Bart. Er schaukelte ein wenig auf seinen langen Beinen und summte.

Das tat er immer, wenn etwas Feierliches im Anzuge war. Bedächtig blieb er stehn, sah eine Weile den Flößern zu, die die Balken flußabwärts trieben. Hier konnte er wenigstens bleiben und ins Wasser gaffen, ohne daß es jemand ihm neidete. Aber da war ihm neulich vor dem Bandagengeschäft in der Heinrichsgasse etwas Dummes passiert, das ihn ärgern mußte. Irgendwie war er mit Assoziationen zusammengeraten, die ihn beschäftigten und nicht freigaben. Da stand er denn wie angenagelt vor dem großen Irrigator hinter der Auslage Scheibe und glotzte mit gestielten Augen auf den geringelten Schlauch. Seine Gedanken turnten daran herum, wälzten Erwägungen, lugten ein bischen nach den Nasenbädern in der Nachbarschaft und verkrallten sich endgültig in dem roten Gummi, ohne sich fortzurühren. Bis ihn das Gelächter der Verkäuferinnen verschreckte, die drinnen im Ladenräume die Hälse reckten und sich baß erlustigten.

Heut war genau so ein Tag, an dem einem Torheiten begegnen konnten. Er hob die Nase in die Höhe und schnupperte. Der faule Geruch der Kastanienblüten war noch immer in der Luft, trotzdem ihre Zeit schon vorüber war und zwischen den Blättern die Stachelfrüchte wuchsen. Von dem Urbaum drüben kam er her, der das Angesicht Gottes hatte. Er schüttelte zuletzt selbst den Kopf über die Symbole, mit denen er sich das Dasein verkleisterte. Diese Exkursion heute nachmittag, wo die gescheiten Menschen zu Hause die Bäuche pflegten, war ja wieder so ein ulkiges Mysterium. Hatte er nicht, als er gestern abends unter den Lauben des Kleinseitner Ringplatzes umherstrolchte, um einen geeigneten Stehbierplatz zu erkunden, hinter den verschimmelten Weinflaschen in einem halboffenen Fenster die heilige Therese gesehn? Ihr Gesicht war ihm wohlvertraut und es war ihm des öfteren auf alten Stichen begegnet, wenn er in der kaiserlichen Bibliothek die Geschichte der psychischen Anomalien durchstöberte. Sie gehörte ja in sein Spezialfach, hatte mit höllischen Gespenstern Zwiesprache gehalten und den Besuch des leibhaftigen Satans im Oratorium empfangen. Er, Gaudentius Sturmfenster, interessierte sich für Teufeleien.

Gestern, mit seinen zwei Zwanzighellerstücken in der Hose, war er nicht in der Lage gewesen, der Sache auf den Grund zu gehn. Inzwischen war ihm ein blauer Zettel angeflattert, nach mühsamem Pirschgang endlich zur Strecke gebracht. War es da nicht seine Pflicht, der Metaphysik ein Opfer zu bringen? – Er fischte ein umfangreiches Sacktuch aus den zerknüllten Schößen und schneuzte sich unwiderruflich.

Mit großen Schritten gondelte er entschlossen weiter. Sein Herz pumperte ein wenig, als er durch die Brückengasse kam und den Radetzkyplatz überquerte, wo das Reiterdenkmal in der Sonne glänzte. Gleich daneben kletterte die Architektur eines hölzernen Aborthäuschens aus dem Pflaster. Die Beschließerin, die mit dem Strickstrumpf auf den Türstufen hockte, nickte erwartungsvoll. Aus den Fenstern des Oberlandesgerichtes, das mit dem ungeheueren Rumpfe den Himmel verbaute, kroch der schläfrige Atem der Staatskanzleien ins Freie. Unter den Lauben war es kühl und der feuchte Dunst auf den Mauern gab ihnen stellenweise eine kellerähnliche Haut, die sich glatt und lebendig anfühlte. Sturmfenster rekapitulierte seinen Zettelkasten: Therese, die heilige, geboren 1515 zu Avila in Altkastilien, gestorben 1582, reformierte den spanischen Karmeliterorden. Ihre mystischen Schriften voll glühender Phantasie – – –

Er stockte, als er dem Hause sich näherte. Eine gemalte Hand mit ausgestrecktem Finger wies ihm den Eintritt. Verluderte Blechbuchstaben blinzelten weiß und gehässig, als er in den Flurraum tappte. »Vogelbachs Weinstube« entzifferte er mühsam und sah die matten Scheiben einer Glastür dämmern. Wie kommt der Bach zu dem Vogel? dachte er bekümmert. Eine verlegene Pause floß breitspurig aus der Dunkelheit und machte ihm bange.

Alte Weinstuben haben ihren Zauber. Sie sind die Behüterinnen dummer Trivialitäten, pietätvoller Nichtigkeiten des schlechten Geschmacks. Auf dem Untergrund großsprecherischer Gewölbe, die das Echo von Generationen umwittert, geben sie die Allotria preis, die der Tag auf den Gassen findet. Papierene Zierblumen ranken sich an den Pfeilern und belämmern die edle Patina des Bewurfs mit ungezogenen Farben. Dreiste Spiegel protzen mit dem Goldstuck ihrer lackierten Rahmen. Gefühlvolle Ansichtskarten verunreinigen fächerförmig die Wände. Aber der Wein blitzt froh in den Gläsern, begehrliche Schnurren aus dem letzten Jahrhundert zupfen schelmisch am Tischtuch und die weiße Schürze spannt sich wie ein Hemd über den Brüsten der Kellnerin. Im Extrazimmer wird noch aufgeräumt. Der Champagnerkübel, aus dem an Stelle der Sektflasche ein zusammengerolltes Mieder herausschaut, macht einen unausgeschlafenen Eindruck, geradeso, als ob die Gesellschaft heute nachts zu lange verweilt hätte. Halbvolle Kelche stehen noch da und Zigarettenklumpen schwimmen in den Weinresten.

Die heilige Therese lachte über das ganze Gesicht, als Sturmfenster in das Zimmer trat und ängstlich in das Zwielicht zwinkerte.

Ihre dünne Kinderstimme kollerte vor Vergnügen und sie patschte in die Hände.

Bubi! – Du? – Das ist fein!

Er schnaubte mißtrauisch, als sie an ihm hinaufkletterte und ihn küssen wollte. Mit der vorsichtigen Neugier des jungen Forschers nahm er sie bei den Schultern und zog sie zum Fenster, wo er sie prüfend betrachtete. Fügsam hielt sie ihm stand. Ihr Gesicht war schmal und zerbrechlich, in ihren Augen wimmelte es wie von tausend lustigen Ameisenlichterchen.

Kennst du mich wirklich nimmer? –

Eva! –

Er war ganz verblüfft über seine Entdeckung.

Wo ist denn der gelbe Schopf geblieben und der Schleier und die Schminke? –

Futsch! – freute sie sich. Und mit einem Knix gab sie ihrer glatten Frisur und den gedunkelten Haaren die Erklärung:

Ich bin jetzt solid geworden – weißt!

Na ja! – meinte er gutmütig und schielte nach dem Extrazimmer hinüber, wo gerade ein Sonnenstreifen über das himmelblaue Mieder ging und seine nassen Bänder trocknete. Ein bischen wurmte es ihn doch, daß seine Fahrt ins sechzehnte Jahrhundert bei dem kleinen Mädchen geendet hatte. Sie trug geschäftig Rotwein und Pfefferkuchen auf und machte ein närrisch glückliches Gesicht dazu. Als er da hineinsah, schämte er sich, daß er einen Augenblick lang unwillig gewesen war. Er legte die Hand so sanft und zärtlich auf ihren Scheitel, daß es sie beinahe kitzelte. Seine wüsten Bartstoppeln näherten sich ihrem Nacken und während er ihren Hals küßte, kicherte sie geduldig in ihr Taschentuch.

Da sind ja Blutflecke darin? – fragte er besorgt, als sie es wieder vom Munde nahm.

Ein kleiner Seufzer huschte eine Sekunde lang durch die Stube.

Ja, denk dir nur, Bubi – ich habe die Schwindsucht! –

Er streichelte betroffen ihre Hände. Erst jetzt wurde er gewahr, daß ihr Körper unirdisch zart, daß ihre Haut gläsern und durchsichtig geworden war.

Jede Nacht träume ich von Schwänen – erzählte sie unvermittelt – Mein Bett steht am Ufer des blauen Teiches, auf dem sie schwimmen. Die Liebespaare bleiben daneben stehn und werfen Blumen ins Wasser. Das ist sehr schön, aber es macht mich traurig. –

Sie bettete sich wie ein Kind in seine Achselhöhle.

Meine Kostschachtel hat den Arzt gefragt. Zwei Monate – sagt er – kann ich noch leben – –

Sie schluckte verdächtig, als käme ihr das Flennen.

Kusch dich! raunzte er grob und hutschelte sie gewaltig. Da mußte sie wieder lachen.

Mit der zweiten Flasche Wein kam dann die Dämmerung. Draußen lag noch der Sonnenschein auf dem freien Platze, aber unter den Lauben quoll schon die Dunkelheit wie ein Schwamm aus dem Boden und verstopfte die Fugen. Soll ich die Lampe anzünden? – Er sah ihre Augen schimmern und in dem bunten Schatten der Stube saß wieder die heilige Theresia. Rühr dich nicht – bat er.

Eine Viertelstunde schwiegen sie beide im Dunkeln. Sturmfenster bohrte mit dem Ellbogenknochen ein Loch in den Oberschenkel und kraute nachdenklich seinen Kinnbart. Seine Seele machte sich los, flog, stieg auf und umspannte die Welt mit den Flügeln.

 

Bist du müde? – fragte er dann, als sie ein bischen seufzte.

Sehr –

Ihre ausgeblaßte, vom Nachtwachen durchlöcherte Stimme rührte ihn. Einen Augenblick glaubte er, ihr Leben zu erkennen, das sich gehorsam über störrische Wege trollte.

Gehört das dir? fragte er und deutete nach dem Nebenzimmer.

Sie wußte gleich, daß er das Mieder meinte.

Ja, Bubi – Sie wollten mich nackt sehn –

Und du? –

Ich mußte. Sie haben ja Sekt getrunken.

Sturmfenster hob sie auf seinen Schoß und küßte ihre unverdorbene Stirne.

Eva! –

Der Name gefiel ihm. Urmütter hatten so geheißen. Er wunderte sich mit einem Male gar nicht mehr, daß die Kellnerin in Vogelbachs Weinstube das Gesicht einer Heiligen hatte.

XI. KAPITEL

EIN JUNGER HASE
VERLÄUFT SICH
IM KRAUTFELD

Durch die Stadt, Straßen aufwärts und nieder, über Steintreppen und zerbröckelte Kellerstufen, läuft hurtig ein weinrotes Flämmlein. In der Nacht, wenn die Fenster verschlossen sind und die schwere Luft hinter den Gardinen gärt, schlüpft es in die Schlafstuben hinein, wo die Knaben in ihren Betten seufzen. Es springt den jungen Frauen im Bade auf den Rücken und sengt ihre Haut mit schmerzhaftem Feuer. Es flackert unruhig zwischen dem erstickten Gelächter, wenn die Schule aus ist, wenn die Klassenzimmer sich leeren, und fährt den Mädeln unter die heißen Röcke. Die alte Wurm, die schon seit Jahren ihren Laden in der Olivengasse hütete, kannte dieses Flämmlein. Es war seit Anbeginn bei ihr zu Gaste gewesen. Es lauerte vor der Türe hinter dem Aushängekasten, der draußen an einem verrosteten Haken hing und lockte geschmeidig mit Flirren und Zickzackgeflunker. Es züngelte aus den großen Pappschachteln auf, wenn die Alte den Deckel öffnete, um ihre Waren zu zeigen. Das Geschäft ging wie am Schnürchen. Ansichtskarten braucht jeder, nur muß man es verstehen, die Kundschaft nach ihren Wünschen zu bedienen. Frau Wurm hatte ein großes Lager. Vor Neujahr und um die Osterzeit hielt sie die buntgedruckten Serien in Bereitschaft, die dem Geschmacke der Dienstmädchen und Postbeamten fabriksmäßig angepaßt werden. Für die Spaßvögel und Schwerenöter legte sie humorvolle Scherze zurecht, die einen reißenden Absatz fanden. Da war zum Beispiel ein kleiner Junge abgebildet, der eben ins Töpfchen kackte, während ein gereimter Spruch den Vorgang ironisch glossierte. Oder ein echter Deutscher trank immer noch eins. Den Herrschaften, die eine akademische Bildung vorschützen konnten, gab sie die Künstlerkarten preis, aus dem Papier gepreßte Frauenköpfe mit Sternenornamentik und sezessionistischen Lilien.

Ihre eigentliche Domäne aber war ein Genre, das man in keiner Weise zu spezialisieren brauchte. Das Interesse dafür war allgemein und kapitalisierte sich kräftig. Es war ein Vertrieb besonderer Art, der das weinrote Flämmlein in ihre Gasse gebracht hatte, der alle Register von der frivolen Postkarte bis zur gemeinsten Photographie unischloß. Man mußte mit Vorsicht und Delikatesse gepanzert sein, tiefschürfende Kunde von der Welt und den Menschen besitzen, um bei diesem Handel nicht ins Uferlose zu treiben. Frau Wurm war damit zulänglich versehn. Sie kannte die Biedermänner, deren zaghafte Geilheit harmlose Grenzgebiete bevorzugte, und legte ihnen halbsüße Motive zur Auswahl vor. Das Bauernweib, dem ein Windstoß beim Kirschenpflücken die Röcke zwischen die Beine klemmt, war darunter das indiskreteste. – Sie erriet an der Ohrenröte der Gymnasiasten den Grad ihrer Verderbtheit. Sie wußte, daß Mädchen in der Regel mit einer legitimen Form der Unzucht sympathisieren und feilschte mit ihnen um die schlechten Kopien jener Pariser Hochzeitsnacht, auf denen die junge Frau noch in Brautkranz und Schleier phantasiearme Liebesdienste verrichtet. Ihr einfacher, aber geschulter Instinkt gab ihr Kenntnis davon, daß die Männer, die mit Rundbäuchen und wehenden Vollbärten den Ladenraum betraten und die Spazierstöcke mit dem Hirschhorngriff auf den Verkaufstisch legten, im glimpflichsten Falle durch die »Balkangreuel« befriedigt werden konnten, die als erotischer Niederschlag aus den Türkenkriegen empfindsame Gemüter ehrlich entflammten.

Die Vorsehung und die Gleichartigkeit ihrer Talente hatten sie einmal von ungefähr mit Frau Bomba zusammengeführt. Seitdem lief das weinrote Flämmlein zwischen Quergasse Und Olivengasse hin und her, funkelte und hüpfte. Es freute sich, daß es soviel zu tun bekam. Frau Bomba schickte es nach Attraktionen aus. Die vertraulichen Arrangements, mit denen sie noch immer ihre Gäste empfing, die seidenen Höschen ihrer Töchter, die ewig beim Umkleiden waren, verblaßten in ihrer Wirkung. Die Haltbarkeit der Illusionen, mit denen sie den Besuchern aufwartete, versagte bedenklich. Sie mußte darauf Bedacht nehmen, den Ruf ihres Salons durch eine Überraschung zu beleben. Eile, mein Flämmlein, eile! Das goldene Geld, das aus den Taschen der Männer fließt, es zaudert und will den Weg nicht finden. Eile doch, eile! Bring' etwas Feines herbei, daß die Quellen wieder rieseln! Der Mittag ist über der Stadt und die Glocken brummen. Die Sonne klebt wie ein gelber Leim auf dem verglasten Schaukasten in der Olivengasse. Die bunten Malereien strecken behaglich die Glieder, stemmen die geblähten Leiber gegen die Wand, bekommen dicke Köpfe in der Wärme. In dem alten Kasten ist es lebendig geworden. Die pikanten Damen sind aufgewacht und fallen den steifen Herren in die pathetisch geöffneten Arme. Eine Nackttänzerin lüftet schalkhaft den Schleier und das Liebespaar links in der Ecke steht knapp vor dem Sündenfalle. Frau Wurm lehnt in der offenen Tür, rasselt gelangweilt mit den Schlüsseln an dem verbogenen Drahtring und ist schläfrig.

Auf dem Gehsteig klappern Schritte. Kleine, liebliche Füße traben geschwind. Zwischen den Maschen der Strümpfe schimmern die rosigen Waden. Sabine ist groß und unter der Bluse drängen sich schon die Brüste. Aber ihr Kleid ist noch kurz und sie schlenkert die Schulbücher an dem verknoteten Riemen. Aus den honigsüßen Augen tauchen die Traumlichter ihrer fünfzehn Jahre.

Straßenbreit sperrt ihr der Kasten den Weg. Sie kann nicht vorbei, hält an und schaut in das Gewimmel. Sie atmet erschrocken und wird bleich. Ganz fernher, wie der Sturm vor blauschwarzen Wolken, kommt ihr das Ohrensausen. –

Das Liebespaar auf der moosigen Waldbank beklemmt ihr die Kehle. Der Mann trägt einen Jägerhut, Kniehosen und einen gewichsten Bart. Er zieht sein Mädchen an sich, das sich beinah nicht mehr wehrt. Ihr Kleid hat sich verschoben, ihr Gesicht ist starr und abwesend vor Entzücken.

Sabine spürt, wie der warme Wind der Gasse in ihrem Kleidchen wühlt. Ihr Mund mit den breit geschürzten Lippen ist trocken. Die blauschwarze Wolke kommt näher und das Mädchen auf der Ansichtskarte hinter dem Schaufenster fängt an zu zittern. Sabinchen! – ruft eine zuckrige Stimme.

Frau Wurm steht vor der Ladentüre; sie ist keine Spur mehr schläfrig und spannt ihr Gesicht in gutherzige Falten. Sie kennt Sabine noch als winzigen Trippelfratzen von den ersten Schulgängen her. Wie die Jahre vergehen! Und wie groß das Binchen geworden ist!

Sabine hat einen Widerwillen gegen die Freundschaft der Alten. Ihr Gesicht erinnert an das Ledertäschchen mit der Messingschnalle, das der Großmutter gehört. Aber sie kommt gehorsam näher. Sie muß an die Bilder denken, von denen man ihr erzählt hat, die Frau Wurm nur herzeigt, wenn man sie sehr schön bittet. Ihre Lippen brennen und die Augen glänzen wie Kirchenglocken.

Sabinchen – – mein Binchen! – –

Die zuckrige Stimme wickelt Schleimfäden um ihren Leib. Die Füße sind schwer und sie kann kaum weiter. Wie stark du geworden bist! – meint Frau Wurm und legt den Arm um ihre schwankenden Hüften. Sie fährt zusammen, will sich losmachen, aber sie besinnt sich. Die zuckrige Stimme redet zu ihr und sie antwortet.

Dann ist es auf einmal geschehen. Irgendwo im Grunde des Ladens brennt eine rußige Lampe. Frau Wurm hebt den Deckel von der abgegriffenen Schachtel und legt ihr die Photographien in die feuchten Hände.

– – – – – – – – – – – – – – –

Große, in Abgründen verankerte Minuten! Wo wir am Rande der Kindheit stehn, nachtblind vor den Finsternissen kommender Stunden. – Große, glühende Minuten! Schmuggler der Ewigkeit, Goldbarren der Himmelsträume nehmt ihr mit in die Tiefe! Ihr seid wie die Räuber, die uns nackt und frierend in der Dunkelheit lassen – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – –

Ganz unten am Boden der Papierschachtel liegt ein Buch. Es ist fettig und gelb, die Buchstaben in den gedrängten Zeilen sind mißraten und kümmerlich. Ein saurer Geruch hängt zwischen den Blättern mit den verrollten Ecken.

Die Wurm ist ganz aufgeregt. Ihr Unterkiefer schlottert vor Überschwang und sie beginnt zu schwitzen. Sabine hält das Büchlein zum Licht und liest eine Seite. Die honigsüßen Augen sind aufgerissen und traurig.

Die Alte hustet und kramt zerstreut zwischen verschmutzten Papieren. Sie schmeichelt dem Binchen, schraubt den Lampendocht höher.

Nimms mit und lies es daheim! – Ihre Hände fingern behutsam über Arme und Rücken und kneifen ihr zärtlich die derben Schenkel.

Adieu – komm bald wieder – mein Spätzchen –

– – – – – – – – – – – – – – –

Die Sonne ist tiefer hinter die Dächer gegangen, in die Gasse zwängt sich der Schatten. Der Wind bläst stärker, treibt den Kehricht in steilen Wirbeln über die Fahrbahn.

Die Häuser entlang, mit schlürfenden Füßen kommt wieder das Binchen. Der Mozartzopf zuckt wie ein Fähnlein und sie drückt das Taschentuch ins Gesicht, als ob ihre Nase blute. Die Luft geht so schar und sie schämt sich des kurzen Röckchens.

Schon? – fragt Frau Wurm und schiebt das verschnürte Päckchen sorgfältig in die Lade.

Sabine ist rot wie ein Eidamer Käse. Der Zopf ist ihr aufgegangen und die Haare fallen ihr auf die Schultern.

Willst wohl noch mehr von der süßen Schweinerei? –

Die Alte setzt die Brille vor die kurzsichtigen Augen und beguckt sich das Häslein. Das Fell ist wie Samt, weißflaumig und schneefarben. Sie nickt zufrieden, beklopft das Tierchen und flüstert.

Der Speichel plätschert begehrlich in ihrem Munde. Das Häslein lauscht und spitzt die Ohren:

Quergasse 17.

* * *

Das Wetter, das der Tag nicht gereift hat, will auch in der Nacht nicht kommen. Der Wind ist noch heftiger geworden und lärmt in den Giebeln, aber er ist unruhig und heiß und hat eine metallische Stimme. Blutkummer singt er an den Fenstern.

Das Haus, wo das Binchen schläft, steht engbrüstig zwischen den andern. Ein herzrotes Irrlicht schlüpft aus dem verriegelten Tor auf die Gasse. Es fiebert und hetzt um die Ecken. Das ist das Flämmlein, das die Träume Sabinens zum Bett der Frau Bomba trägt.

Die Witwe hat einen übellaunigen Schlaf. Das Zimmer ist dunstig und sie atmet geräuschvoll Die kleinen Träume stehn ängstlich vor ihr und wimmern im Dunkeln.