Wer's glaubt, wird selig ... Wer's nicht glaubt, kommt auch in den Himmel

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

3. Heil für alle

Die Bibel unterstellt Gott, er habe im Lauf der geschichtlichen Begegnung mit den Menschen immer wieder einsehen müssen (was selbstverständlich den Lernvorgang der Menschen selbst widerspiegelt), dass Gott mit Gewalt und Zwang nichts bei den Menschen erreichen kann. Wenn Gott zu Gunsten der Israeliten eingreift, ist dies auf Seiten der Ägypter als gewalttätige Zerstörung erfahrbar. Diesen bleibt Gott die Rettung noch schuldig. In der Geschichte bleibt immer ein erschreckend unabgegoltener Rest. Unter ihren Bedingungen tut eine rettende Tat Gottes gleichzeitig anderen Gewalt an. Mit beträchtlicher Vorsicht kann also davon die Rede sein, dass Liebe und Gewalt irgendwie in Gott begründet sind; dass sich Gott in dem Verhau der Geschichte aus Liebe für jemanden oder für ein Volk einsetzt und gleichzeitig einem anderen Gewalt und Unrecht antut. Am Kreuz verzichtete Gott auf diese innergeschichtliche Zwiespältigkeit seines Handelns. Am Ende der Geschichte, so hoffen wir, wird Gottes Liebe in einer anderen Weise, nämlich als für alle als nichts anderes als Liebe, „gewaltig“ sein, so dass alles Böse verschwindet und eine neue Erde ohne Leid und Tod entstehen kann, in der weder Gott noch die Menschen Leid zufügen müssen, um Bedrängte zu retten.

Im leidenden Gottesknecht bzw. in Jesus am Kreuz verzichtet Gott im Diesseits auf jede Art von zwingender Herrschaft, um so den Menschen etwas zu schenken, was sie zwischenmenschlich in dieser unerschöpflichen Voraussetzungslosigkeit kaum erfahren können. Und auch von Gott her gilt: In den Bedingtheiten der Welt ist diese unendliche Bedingungslosigkeit nicht als solche erfahrbar. Unendliches bleibt im Jenseits des Endlichen. Es gibt nur einen Weg dorthin, und das ist der Tod, das schärfste Ereignis der gewalttätigen Verneinung von Leben und Hoffnung. Denn erst durch ihn hindurch ist es den Menschen geschenkt, die unendliche Unbedingtheit der Liebe Gottes unmittelbar und ungehindert zu schauen. So stemmt sich der Glaube bereits im Diesseits gegen die Endgültigkeit dieser Grenze im Ereignis eines Geliebtseins, das zumindest ansatzhaft keine Grenzen spürt.

Die biblischen Texte kommen, wie menschliches Leben und Begegnen überhaupt, ohne Wenn-Dann-Vorstellungen nicht aus. Aber sie werden überholt von anderen Texten, in denen sich das „Immer Mehr“, die immer größere Liebe Gottes, zeigt, die alle Bedingungen unter- und überschreitet. Es sind Geschichten, in denen Gott seine Liebe niemals, jedenfalls niemals endgültig, zurückzieht. Gott bleibt beweglich in der Treue des Übergangs vom Zorn zur Barmherzigkeit.35 Selbst wenn Israel abfällt, lässt Gott sein Volk nicht im Stich. Gott will die Umkehr, aber letztlich ist die Umkehr nicht die Bedingung seiner Liebe, sondern die nicht zurückgezogene Liebe ermöglicht die Umkehr. So gilt die Gnadenformel: „YHWH ist ein Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn, reich an Güte und Zuverlässigkeit, bewahrend die Güte für Tausende, tragend Schuld und Frevel und Sünde …“ (Ex 34,6–7). So wandelt sich das Wenn-Dann in der Gottesvorstellung in ein Ohne-Wenn-und-Aber.

4. Heiligkeit als Entgrenzung
1. Beschmutzte Heiligkeit

Wo in einer Religion die inhaltliche Abgrenzung gegenüber anderen Religionen gerade darin liegt, dass das Heil gegenüber allen, auch den ganz anderen Menschen und Religionen, zu entgrenzen ist, sind das Leid und das Böse mit dem „guten“ Gott selbst, nämlich im Sinne der universalen, also alles umfassenden Unendlichkeit der Gottesvorstellung (einschließlich seiner Eigenschaften), auszuhandeln. Genau dies ist die biblische Spur. Wo Gott dagegen keinen Kontakt zu dem Schlimmen, was Menschen begegnet und sie einander zufügen, wo Gott keine gute Beziehung zu den Nichtglaubenden haben darf, sind beide auch von seinem Heil fernzuhalten. Wo das Schmutzige derart von Gott ausgeschlossen wird, muss es auch zwischenmenschlich ausgeschlossen werden. Wo Gott sauber gehalten wird, muss auch die eigene Religion rein gehalten werden. Mit immer wieder zerstörerischen Folgen für die Nichtdazugehörigen, verbunden mit dem guten Gewissen, Gottes Willen zu tun. Wobei es nochmals eine eigene Frage ist, worauf sich die Reinheitsvorstellung in den Religionen in besonderer Weise bezieht; im Katholizismus war und ist es oft genug vor allem die Sexualität im Horizont der Kultreinheit.

Joachim Kügler hat die jüdische und christliche Alternative zur Abtrennungsheiligkeit herausgestellt: „So realisiert sich die königliche Heiligkeit Gottes bei Jesus im Staub der galiläischen Landstraße.“36 Der Gottesdienst Jesu beinhaltet das heilsame Berühren der Kranken, die Gemeinschaft mit Menschen, „von denen er sich eigentlich hätte absondern müssen“37. Jesu Handeln ist also norm- und kultsprengend um einer möglichst wirksamen Solidarität mit den Menschen willen, verbunden mit den Konflikten, die man sich dabei einhandelt mit denen, die ein ausgrenzendes Heiligkeitskonzept vertreten. Bei Jesus begibt sich die Heiligkeit seiner Identität und Sendung in die Alltagswelt der Menschen hinein und erweitert dort so weit wie möglich die Räume der Gnade, der Barmherzigkeit, der Gerechtigkeit und der Freiheit.

Jesu Profil besteht darin, dass er die Grenzen zu den Ausgeschlossenen und den Sündern und Sünderinnen überschreitet und ihnen Heilung bzw. Versöhnung bringt. Indem er ein solches Handeln mit dem Glauben an Gott verbindet, grenzt er diesen Glauben praktisch von all jenen Glaubensformen ab, die den Gottesbegriff zur Legitimation von Ausgrenzung und Zerstörung der anderen gebrauchen. In dieser Hinsicht gibt es für ihn keine Kompromisse, bis hin zum Kreuz. Jesus stirbt nicht am Kreuz, weil er an Gott glaubt – das tun seine Gegner auch –, sondern weil er diesen Glauben mit einer ganz bestimmten, ganz anderen Praxis verbindet, bis hin zu seiner Vergebungsbitte für die Gegner und Täter, also ohne selbst diese auszugrenzen. Die Schärfe der paulinischen Rechtfertigungstheologie liegt ja darin, dass Gott auch für die anderen gestorben ist, auch für die aus unserer Perspektive Gottlosen.

Heiligkeit ist der gesamte Vorgang, in dem sich das Erlösende mit dem Unerlösten berührt. Das innerste Prinzip dieser Heiligkeit ist nicht die Ausgrenzung, sondern die Überbrückung und Verbindung zwischen ausgrenzendem und ausgegrenztem Bereich. Das Heilige ist also in diesem Sinn nicht mit dem Sakralen identisch, welches das Profane entweder ausgrenzt oder in sich auflöst, sondern stellt das Profane selbst in den Raum Gottes, in dem es profan bleibt.38

Dies gilt übrigens nicht nur für den Alltag, sondern auch für die Liturgie: Gerade aus gnadentheologischen Gründen sind die Sakramente jener Ort, wo im Symbolhandeln Gottes unbedingte Liebe in bestimmten Situationen in besonderer Weise erfahrbar ist. Sakramente also nicht nur für den inneren Kern der Kirche gedacht sind, sondern auch für ihre Außenbeziehung. Denn sie eröffnen für die Ausgegrenzten und Ausgrenzbaren Zugänge, die an sie keine anderen Zugangsbedingungen stellt als nur solche, die das Zustandekommen der sakramentalen Symbolhandlung selber ausmachen.39

So kann und darf das Grundsakrament der Taufe niemandem verweigert werden.40 Denn die Taufe verbindet die Geburt in dieses Leben mit der Geburt in die Liebe Gottes hinein. Und wie die Geburt das Leben umsonst, also ohne Vorleistungen, schenkt, so schenkt auch die Taufe Gottes Liebe ohne Vorleistung und unverdient, also umsonst.

2. Gottes Herunterkommen

Die unglaublichste Entgrenzung Gottes in die Welt und der Welt in Gott hinein geschieht aus christlicher Perspektive in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. Für mich persönlich, für meinen Glauben und meine Theologie, wird immer mehr klar: Genau das, was Judentum und Islam niemals akzeptieren können, nämlich dass Gott Mensch wird, ist angesichts dieser so leidvollen und gewaltvollen Welt überhaupt noch die einzige Möglichkeit, an einen Gott zu glauben, ihm zu vertrauen und ihm überhaupt ein Wort abzunehmen. Wenn Gott uns schon keine Antworten gibt, dann doch wenigstens jene Solidarität, die Gott auch die Erfahrung leidvoller Leiblichkeit und des Todes selbst zufügt. Ein Gott, der über dem Sternenzelt bliebe, hätte alle Glaubwürdigkeit verloren und könnte mir gestohlen bleiben, mag es ihn geben oder nicht.

Gott hat sich in Christus selber in die Pflicht genommen, uns auf dem Niveau unseres Leidens, auch des Bösen zu begegnen. Gott begegnet uns nicht von oben nach unten. Gott ist nicht nur in seiner unerschöpflichen Geheimnishaftigkeit, sondern auch in seiner menschgewordenen Selbsthingabe unendlich unübertreffbar. Der radikalste Beweis seiner Liebe ist also die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth. Hier steht Gott mit seinem Leben und mit seinem eigenen Leib für eine solche Barmherzigkeit ein. In seiner Verkündigung ist es ihm wichtig, dass Gott den Menschen zugewandt ist. Obgleich Jesus die Absicht hat, dass alle das Reich Gottes annehmen und gerettet werden, muss er das Scheitern dieser Verkündigung erleben. Am Kreuz hält die Welt den Atem an: Wird nun Gott die Welt, da sie seine Barmherzigkeit nicht angenommen hat, endgültig in den Abgrund stürzen lassen, oder ist seine Barmherzigkeit so groß, dass sie auch diesen Abgrund des menschlichen Neins zu Gott überwindet? Hierin liegt die Heilsbedeutung des Kreuzes, denn vom Kreuz her betet Jesus zum Vater, dass er den Gegnern vergeben möge.

 

Hier begegnet ein Mensch, der gegenüber der Gewalt keine Gegengewalt setzt und ihr, in einer bestimmten Situation, auch nicht mehr entflieht, sondern sich ihr stellt und standhält. Der Gewalt wird etwas tatsächlich ganz anderes entgegengesetzt: der eigene schutzlose Leib, an dem sie sich austobt; aber damit nicht genug: Die Gewalt wird nicht nur erlitten, sondern als unerschöpflich verstärkte Liebe zurückgegeben:41 „Sie kamen zur Schädelhöhe; dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den anderen links. Jesus aber betete: ‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‘“ (Lk 23,33–34). „Als der Hauptmann, der Jesus gegenüberstand, ihn auf diese Weise sterben sah, sagte er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn“ (Mk 15,39).

Der Kreuzestod Jesu ist nicht nur die Folge eines solidarischen Lebens, sondern offenbart die Unerschöpflichkeit göttlicher Gnade. Denn vom Kreuz her ist das Reich Gottes nicht nur, wie im bisherigen Leben Jesu, denen geschenkt, die das Reich Gottes annehmen, sondern auch denen, die es ablehnen. Im Scheitern scheitert das Erlösungswerk gerade nicht, sondern offenbart darin erst den unendlichen Horizont der unbedingten Liebe Gottes auch denen gegenüber, die ihn zum Scheitern bringen: den Tätern, den Sündern und Sünderinnen – und das sind immer wieder die Gläubigen selbst. „Das … Handeln Gottes erweist sich vielmehr gerade im Tode seines Repräsentanten als wirksames Geschehen, in dem Gott den Tod seines … Boten zum Akt der Sühne werden ließ.“42

3. Am Kreuz: für alle!

Gott macht sich in Jesus Christus selber am Kreuz zum Leiden und auch zur Sünde: „Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden“ (2 Kor 5,21). Dichter kann man die Entgrenzung zum Sündigen bezüglich eines menschgewordenen Gottes, der selbst ohne Sünde bleibt, nicht mehr denken. Denn dies ist kein Schmierentheater, weil Jesus tatsächlich als der schlimmste Sünder behandelt wird, am Karfreitag im physischen Tod, am Karsamstag im ewigen Tod der Hölle. In Jesus Christus begegnet Gott eben von unten, in der ewig entgrenzenden Verausgabung für die Menschen im Leben und im Sterben. Insofern ist Gott heilig mit und für uns: Emmanuel, Gott mit uns.

Jesus leidet am Kreuz für die Menschen, was sie an Reueschmerz und Sühne leiden müssten, und öffnet damit endgültig die Schleusen unendlicher Barmherzigkeit. Vielleicht kann man sogar sagen: Jesus wird am Kreuz zur Sühne für Gott selbst, weil es ihn reut, weil es ihm leidtut, all das Leid und all das Böse zugelassen haben.43 Jedenfalls hat Jesus den sinnlosen Schmerz außerhalb der Liebe, also die Hölle, an- und damit den Menschen abgenommen und genau dadurch ermöglicht, aus dieser Liebe heraus den Schmerz für leidbringende Taten zu empfinden und so – im Diesseits wie im Jenseits – für Gottes neue Welt geöffnet zu werden: leidsensibel und barmherzigkeitsfähig.

Am Kreuz wird offenbar: Gott hält sich in Christus nicht aus unserem Leben heraus, sondern begleitet uns hautnah in unserer Freude und in unserem Leid. Nach Röm 8,26, worin der Geist Gottes mit seiner Schöpfung mitschmerzt und denen eine Stimme in Gott gibt, die nicht mehr beten können, spürt Gott in sich selbst den Schmerz der Kranken, die Hoffnungslosigkeit der Erniedrigten und das Leid derer, die um der Liebe und der Gerechtigkeit willen bedrängt und zerstört werden. So gewinnen die Menschen Hoffnung daraus, dass Gott sie jetzt bereits begleitet und, wie er am Kreuz diesen Weg selber bis ans Ende ausgehalten hat, auch ihren Weg mitaushält und mitträgt. Denn genau das macht Gottes Glaubwürdigkeit aus: Gott wird am Ende seine für alle letztlich rettende Gewalt zugunsten der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einsetzen, weil Gott sich jetzt bereits nicht aus der Notwendigkeit von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit heraushält. Das ist der tiefste Beweis der Liebe, dass sich Gottes Göttlichkeit auch in einer unendlichen Fähigkeit zeigt, uns im Leben, in der Freude, im Leiden und im Tod zuinnerst nahe zu sein. So zeigt Gott seine Liebe zu der Welt, wie sie ist, und zeigt sie, wie man sie intensiver nicht zeigen kann. Zum anderen aber zeigt Gott auch gerade darin, wie die Menschen in dieser noch unerlösten Geschichte aus dieser Liebe heraus leben können.

Diese Perspektive eröffnet sich bereits im Gottesknechtslied: „Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, weil er verachtet ist; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt … Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf … Obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war. Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühneopfer hingab“ (Jes 53,3–10). Schon früh entdeckt die Verkündigung der jungen Kirche, dass der Jesajatext das Jesusgeschehen in seiner Bedeutung erschließt.

Der „Gottesknecht“ leidet in Stellvertretung für die anderen, damit sie diese Gewalt nicht erleiden müssen. Für die sündigen Menschen, auch für die schlimmsten, wird diese Gewalt erlitten. Beim Gottessohn kommt dies darin zum Ausdruck, dass er darauf verzichtet, die himmlischen Heerscharen herbeizurufen und mit ihnen die Gewalttäter der Schädigung und dem Tod auszusetzen (vgl. Joh 18,11 und 36). Vom Kreuz aus sorgt er sich, dass auch den Schuldigen keine Gewalt angetan wird, auch von Gott nicht. Gott liebt nicht nur die Guten, sondern auch die Bösen, nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter, nicht nur die Unschuldigen, sondern auch die Verbrecher.

Wie das Zur-Sünde-gemacht-Werden zur innersten Identität Jesu gehört, so gehört – in unvergleichlichem Vergleich dazu – auch die Sündigkeit der Kirche zu den Merkmalen der Kirche, bei Jesus in Stellvertretung und in der Kirche in der unverschleierten Wahrnehmung der eigenen sündigen Wirklichkeit. Die Spannung von Anspruch und Wirklichkeit wahrzunehmen ist die Bedingung dafür, die Wirklichkeit selbst wahrzunehmen.

Von daher erschließt sich auch der Satz des 1999 gestorbenen Neutestamentlers Helmut Merklein: „Wir können keine heile, wohl aber eine heilige Welt gestalten“ (Studien, Vorwort VIII). Auch im Unheil seiner tödlichen Krebserkrankung wusste er sich in der Heiligkeit, in der Nähe Gottes. Auch wenn wir keine heile Welt gestalten können, bleibt sie doch immer eine heilige, das heißt: eine, die in jeder Situation, auch in der letzten Ohnmacht, auch in der Sünde, mit Gott in Verbindung bleibt. Nichts fällt aus dieser in ihrer Gnade unendlichen Beziehung Gottes heraus. Denn geheiligt sein heißt, vom lebendigen Gott her niemals aus seiner Hand herausfallen können, auch nicht und gerade nicht im Unheil, auch nicht und gerade nicht in der Sünde und im Bösen, schon gar nicht an der totalen Handlungsgrenze, im Tod, und auch nicht im allerletzten Gericht.

5. Gnade als Rechtstitel
1. Luthers befreiende Entdeckung

Der Apostel Paulus ist der Urheber der Rechtfertigungstheologie. Darin versucht er dem Glauben auf seinen tiefsten Grund zu kommen, sein tiefstes Geheimnis ins Wort zu bringen. Für Martin Luther lag darin die Entdeckung seines Glaubens und seines Lebens. Wie kaum ein anderer entdeckte er in den Texten des Paulus jene Freiheit, die sein Herz begehrt. Denn Christen und Christinnen können die Frage nach der Freiheit des Glaubens als Freiheit von Zwang nicht von der Frage nach Gott ablösen. In ihm eröffnet sie sich erst in all ihrer Tiefe und Faszination. Warum konnte Luther, nachdem er diese Erfahrung und Einsicht gewonnen hatte, danach nie mehr aufhören, von ihnen her die ganze Theologie und die christliche wie auch kirchliche Praxis zu entwickeln?

Der junge Luther hatte in vieler Hinsicht den Glauben als eine Wirklichkeit erlebt, die fordert und Lasten auferlegt. Für seine persönliche Frömmigkeit war es gerade diese Seite der Glaubens, die er nicht nur erlebt, sondern in sich bestätigt und verschärft hatte. Gegen sein Sündenbewusstsein kämpfte er durch häufige Beichten und Bußwerke an, als wollte er Gottes Liebe durch seine Glaubensleistungen erwerben und erzwingen. Aber je mehr er derart mit Gott umging, je mehr er sich abforderte, desto deutlicher wurde ihm auch, dass dies alles nicht gelingen konnte.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Das Problem ist: Dreht sich diese Spirale immer weiter nach unten, bleibt am Schluss nur noch der zwanghaft-paranoide Wahnsinn, oder aber man muss sich der Magie ergeben, indem man daraus ein Spiel macht, nämlich diese Wenn-Dann-Beziehung zu Gott so in die Hand zu nehmen, dass man damit Gott selber austrickst: Wenn ich das und das tue, dann kann Gott gar nicht anders, als so und so mit mir zu verfahren. Unterdrückte haben oft keinen anderen Ausweg, als die Unterdrücker raffinierterweise selbst zum Instrument ihrer Wünsche zu machen. Mit jedem Wenn-Dann, das ein Gott dem Menschen auferlegt, gewinnt dieser seinerseits Zugriff über Gott selbst: Wenn ich zum Gottesdienst gehe, dann muss mir Gott wohlgefällig sein. Ein solches Verhalten Gott gegenüber nennt Paulus Hybris und Selbstruhm des Menschen gegenüber Gott, zwar mit dem schönen Gefühl des Menschen, Gott gegenüber eine Leistung zu erbringen, aber im Sinne eines Verrechnungszusammenhanges und nicht einer lebendigen Beziehung der Freundschaft und Liebe.

Luther konnte noch rechtzeitig aus dieser letztlich alles zerstörenden Dynamik aussteigen. Es kam zur Wende. Beim Studium der Paulusbriefe fiel es wie Schuppen von seinen Augen: Man kann sich die Liebe Gottes nicht verdienen, und man braucht dies auch gar nicht, weil sie längst durch Jesus Christus „verdient“ ist. Luther entdeckte auf schmerzlichem Weg und darum umso erlösender etwas, was leicht vergessen werden kann und was uns alle angeht. Er erfuhr die beglückende Einsicht: Nichts, gar nichts muss ich tun, damit Gott mich liebt. Er liebt mich unbedingt, ohne Bedingungen, und zwar als Sünder, noch bevor ich mich verändert habe. Nicht ein Wenn-Dann, sondern ein Ohne-Wenn-und-Aber bestimmt diese Beziehung. Was für eine Befreiung: Gott ist nicht eine Belastung, sondern eine Entlastung im Leben, Gott fordert nicht erst, sondern schenkt. Seine Gnade ist voraussetzungslos. Und darin liebt Gott das Gegenteil seiner selbst, nämlich die sündigen Menschen. Denn diese Anerkennung und Liebe umfasst die Menschen nicht ausschließlich, sondern einschließlich ihrer dunklen Schattenseiten. Denn was nicht angenommen ist, ist auch nicht erlöst.

You have finished the free preview. Would you like to read more?