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DERHANK

Lichtjahre

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Dank

DERHANK

Der LSD-Verlag

Leseprobe Y

Leseprobe ich du er sie es

Leseprobe Their Teacher

Impressum neobooks

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Verlag Literarische Sammlung DERHANK

www.LSD-Verlag.de

mail@LSD-Verlag.de

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Lichtjahre Parabel auf die Zeit und darauf, dass alles Geschehen zeitverzögert bei bzw. in uns eintrifft, sprich: wahrgenommen wird. Nominiert für den LIT.AWARD Ruhr Oberhausen 2010.

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»Ich gebe noch einmal Gas, bin wie bekifft, als ich in meinen eigenen Unfall eintauche, meinen Sturz sehe, den Abhang hinunter, vor den Baumstumpf, an dem ich mir den Hals verrenke. Ich sehe mich liegen und erinnere mich an das kurze Gefühl der Schrumpfung, wenn aus den 0,04 Sekunden, die meine Füße vom Kopf entfernt sind, ein Abgrund wird ...«

Achteinhalb Minuten benötigt das Licht von der Sonne bis zu mir. Und zurück noch einmal achteinhalb Minuten, bis es mit dem Bild meines Gesichts, meines Körpers und meines Motorrads wieder in sie eintaucht.

In der letzten Sekunde meines ersten Lebens betrachtete mich unser Stern nichts ahnend, sah mich auf dem Aussichtsplatz an der Ruhrtalstraße, sah, wie ich ihn anblinzelte; eine Selbstgedrehte im Mund, die Lederjacke aufgeknöpft und eine nagelneue Enduro Simson S 51 zwischen den Schenkeln. In dieser Sekunde hatte ich meine letzten achteinhalb Minuten bereits hinter mir.

Am Sonntagvormittag des 23. September 1984 unternimmt der neunzehnjährige Christian Q. einen Motorradausflug durchs Ruhrtal. Es ist 10.32 Uhr, als bei einem Überholmanöver im Ardeygebirge seine Lichtmaschine ausfällt. Er sieht den entgegenkommenden VW-Bus und weiß, dass er weder überholen noch rechtzeitig hinter den Opel Kadett zurückfallen kann.

In der Morgendämmerung dieses letzten Tages hatte mich das unruhige Funkeln von Sirius geweckt. Sirius ist der hellste Stern am Himmel, und sein Licht brauchte achteinhalb Jahre bis zu mir. Sirius hat keinen guten Ruf bei den Menschen, so wenig wie ich, und schon deswegen mag ich ihn. Immer noch. Das alles weiß ich von Opa. Von ihm weiß ich auch, dass der Nachthimmel einen Bogen über sämtliche Epochen zwischen heute und der Zeit spannt, in der es noch keine Menschen gab, nicht mal Dinosaurier. Jedes Sternenlicht ist ein eigenes Abbild aus einer eigenen Vergangenheit, und zusammen bilden sie ein Mosaik aus Milliarden alter Zeiten. Aber Opa hatte herausgefunden, dass die Sterne durch ein Netz überlichtschneller Linien verbunden sind. »Space-Highways« nannte er sie.

Christian wird langsamer, dreht ohne Wirkung am Gas und schert in letzter Sekunde vor dem zu spät bremsenden Kleinbus aus. Er fliegt über den Abhang, überschlägt sich und liegt am Ende reglos in einer Böschung, deren Neigung gerade einen exakt lotrechten Winkel zu Sirius bildet, einer Doppelsonne im Sternbild des Großen Hundes.

Opa lebt auf Sirius. Schon lange. Bevor ich vor Schmerzen das Bewusstsein verlor, musste ich noch an ihn denken. Unfähig mich zu rühren, habe ich ihn angesehen, angefleht geradezu. Aber Opa konnte in diesem Moment nur beobachten, wie ich vor achteinhalb Jahren die Schule schwänzte, um im Stadtpark heimlich zu rauchen.

»Na«, dürfte er gedacht haben, »dass der Junge mal nicht auf die schiefe Bahn gerät!« Wenn Opa wüsste! Eine Ewigkeit habe ich auf den Tag gewartet, an dem Opa erfährt, wie sehr ich wirklich auf die schiefe Bahn geraten bin. Und dieser Tag ist heute! Opa sieht mich - JETZT! Mich und meine Enduro! Gleichauf mit dem Kadett, vor dem Bulli! Acht Jahre, sieben Monate und sieben Tage hat dieser Anblick gebraucht, um Opas Augen zu treffen. Aber weil seine Maschine viel schneller ist als meine Lichtwellen, werde ich nicht mehr warten müssen.

Lange bevor der Rettungshubschrauber am Horizont auftaucht, haben die Bilder seines gefallenen Körpers die Sonne hinter sich gelassen. Und als sich Christian im Anflug auf die Unfallklinik Duisburg Buchholz befindet, erreichen sie die Ringe des Saturn. Der Widerschein seines Sturzes bläht sich auf wie ein stetig wachsender Lichtballon.

Die anderen Patienten schlafen, nur ich spüre die Veränderung. Ich ziehe meinen fremden Rumpf am Bettgalgen hoch und schiebe, ruckel, wuchte das Fleisch in den monströsen elektrischen Rollstuhl. Irgendwie gelingt es mir, schief sitzend, zur Balkontür zu fahren. Meine tauben Hände drücken den Hebel gewaltsam in die Horizontale und zerren die Tür auf. Da ist sie: schwerelos hinter dem Balkongeländer, die mondbeschienene Maschine! Keine Enduro, sondern eine riesige, umgebaute Harley-Davidson, eine Chopper, eine chromglänzende Motorradrakete, die es nirgendwo zu kaufen gibt. Natürlich schwebt sie nicht wirklich. Opas Erfindung parkt auf dem Standstreifen der 32-spurigen Überlichtautobahn nach Sirius. Ich fahre den Rollstuhl gegen das Geländer, fahre einfach hindurch, die Stangen können mich nicht halten, und dann erscheint zu meinen thrombosestrumpfgestützten Füßen der Lichtasphalt - der Stoff, der die Sterne verbindet. Ich stehe auf, gehe, als wäre Gehen das Normalste von der Welt, zu dem Gefährt und greife mit kribbelnden Fingern ans Lenkrad. Nur noch das Stützbein zurückschieben, hinsetzen, losfahren! Ich habe keine Angst, schwinge das rechte Bein hinüber, lasse den wundvernarbten Hintern in den Ledersitz gleiten, lege die Hornhautfüße auf die Pedalen und genieße das kühle Metall des Zündschlüssels zwischen den Fingern. Der Vergaser knallt, die Chopper steigt hoch wie ein Hengst und rummst federnd zurück auf die Bahn. Ein irrer Sound hallt von den Betonfassaden der Klinik wider und der Lichtkegel des Scheinwerfers wirft sich unerschrocken in die Zukunft.

Der diensthabende Unfallchirurg diagnostiziert neben zahllosen Prellungen und Schürfwunden eine Fraktur im sechsten Halswirbel, die Christian zu einem Tetraplegiker macht, einem Querschnittsgelähmten, der sich - außer im Kopf - nie wieder richtig bewegen oder spüren wird. Eine Stunde später ist seine Familie da: die Mutter Margret Q., Hausfrau und Kassiererin, und der Vater Walter Q., ehemaliger Steiger auf Osterfeld. Zusammen mit Großmutter Johanna P. leben sie in einem kleinen Zechenhaus in Oberhausen Sterkrade; einer rußrot verklinkerten Doppelhaushälfte aus den dreißiger Jahren. Christians älterer Bruder Dirk ist wenige Wochen vor dem Unfall ausgezogen, sodass ihm das Zimmer unterm Dach jetzt alleine gehört. Seine Freundin Ulla W., die darin vor zwei Tagen die glücklichste Nacht ihres Lebens verbracht hat, ringt sich beim Anblick des ohnmächtigen Jungen das Versprechen ewiger Liebe ab. Über den Großvater spricht niemand. Als die Familie sich am Krankenbett sammelt, haben auch die entferntesten Planeten unserer Sonne von dem Unfall erfahren.

Auf meinem Feuerstuhl fege ich durch die Walpurgisnacht, schieße über die Wälder und Kiesgruben der Sechs-Seenplatte hinweg; unbewegte Wasserflächen, in denen sich der Schweif meines Körper spiegelt. Das Blinklicht eines Flugzeugs ist schon alt; und der am Horizont dampfende Gasometer dreimal älter. Dann sehe ich unsere Straße, seit einer Millionstel Sekunde Geschichte. Hinten, im verwilderten Garten, blühen die Äpfel über der Vergangenheit von meinem Heim: Opas Hütte, in der er die Maschine gebaut hat. Ich düse weiter, rase auf reinstem Licht ins All, dahin, wo Opa mich erwartet.

Christian wird am 25. September auf Station B verlegt, einer Spezialabteilung für Wirbelsäulenverletzungen. Er teilt sich das Zimmer mit drei gelähmten Männern und raucht, unterstützt von Ulla, die erste Zigarette seit dem Motorradausflug. Die junge Frau kommt täglich nach Duisburg, reibt sich auf für ihren hilflosen Freund und findet abends Trost bei einem ehemaligen Klassenkameraden. Die Lichtreflexe seines Unfalls haben bereits am Vortag die schützende Heliosphäre unseres Sonnensystems verlassen.

Auf einem Rastplatz, da wo die Bahnen von Neptun und Pluto sich kreuzen, mache ich Halt und blicke zurück, sehe die Erde als blauen Punkt im Nichts. Doch wenn ich mich konzentriere, erkenne ich das Ruhrgebiet, Oberhausen, Duisburg, die Sechs-Seen-Platte. Und, durchs Fenster der Klinik: mich selbst, nur wenige Lichtstunden entfernt. Ein schlaffer Körper, der von einer Krankengymnastin durchbewegt wird. Sie hat das rechte Bein angehoben und in ihren Ellenbogen gehängt. Mit der anderen Hand streckt und beugt sie den abgestorbenen Unterschenkel, massiert die Füße, spreizt die Zehen. Mein zweites Leben, eine Illusion von Leben, ein Albtraum unendlicher Langeweile. Endlich vorbei! Ich will es nicht mehr sehen, das weiße Vierbettzimmer, will nicht hören, wie der fremde Körper in die Urinflasche strullt, die Tag und Nacht zwischen den schwitzfeuchten Beinen klemmt. Ich gebe Gas, fühle den Sonnenwind im Rücken und schaue eine ganze Weile nicht mehr zurück. Wo ist Opa?

 

Christians Physio- und Ergotherapeuten gelingt es in den kommenden Monaten, einen Teil der Schultermuskeln sowie den Beuger im Ellenbogen zu reaktivieren. Er lernt mit dem Schwindel umzugehen, wenn man ihn in den Rollstuhl setzt, und er kann durch gleichmäßiges Klopfen mit seinen schlaffen Händen die Blase stimulieren. Er hat alle zwei Tage Stuhlgang in eine Nierenschale und er schafft es, eine brennende Zigarette zwischen die leblosen Finger zu klemmen und zum Mund zu führen. Ulla kommt nicht mehr jeden Tag. Christian erfährt auch nichts von der Abtreibung. Der Klassenkamerad, der sie anfangs nur gefahren hat, begleitet sie inzwischen, wenn sie ihn besucht. Die sich im interstellaren Raum ausbreitende Sphäre mit den Bildern seines Unfalls hat zu diesem Zeitpunkt einen Durchmesser von 2,5 Billionen Kilometern.

Ich überhole mich selbst, lasse die ereignislosen Geschichten meines zweiten Lebens hinter mir, die in gleichförmigen Wellen durchs All treiben. Tausendmal schneller als Licht fühle ich mich so lebendig, wie ich bei Martina lebendig war, bei meinem »ersten Mal«, das ich gerade überhole. Ich blicke tief in meine Vergangenheit, bin über das Ablicht des Unfalls hinausgeschossen, bin schon weiter als Sirius und sehe mich vor dem Jugendfreizeitheim herumlungern, mit sechzehn, nein, noch fünfzehn. Ich erkenne Martina, an die sich der, der ich war, nur deswegen rantraut, weil er von Opa weiß, dass alles, was er sieht, Vergangenheit ist: Drei Meter vor dem Halbstarken mit dem Schnurrbartflaum schimmerte vor ein paar Zeitquanten ein schmales Gesicht mit überschminkten Kajalaugen. »Du bist schon vorbei«, denkt er und geht auf sie zu, steht vor ihr und spricht in die Leere, in der sie vor einer Milliardstel Sekunde gestanden hat. Schallwellen sind noch viel langsamer als Licht, es dauert endlos, bis er die Antwort auf seine Anmache hören kann. Aber als sie sich ungeschickt umarmen, bildet er sich ein, dass jede Berührung in Echtzeit verläuft. Das ist natürlich nicht wahr, die Nervenstränge der Wirbelsäule brauchen 0,02 Sekunden, bis sie die Signale ihrer kleinen Finger von seinem Hintern zum Kopf transportiert haben. Doch dieser Junge dort unten, auf der vergangenen Erde, der ist ganz jetzt, ganz unmittelbar, wie ohne Zeit, wie ohne Distanz zu dem Mädchen, erst recht, als er sie auf dem Mofa mitnimmt und ihr die verlassene Gartenhütte zeigt.

Weihnachten 1984 darf Christian das erste Mal nach Hause. Die einfachsten Verrichtungen wie das Umsetzen, Hinlegen, Aufrichten sowie die Toilettengänge des kraftlosen 80-Kilo-Körpers sind kaum zu bewältigen. Ein Umbau des verwinkelten Gebäudes ist technisch und finanziell nicht leistbar. Man beschließt, das Gartenhaus, die ehemalige Werkstatt von Christians Großvater, behindertengerecht einzurichten. Ulla ist auch gekommen und beteiligt sich beinahe euphorisch an der Diskussion. Aber die letzte Nacht des vergangenen Sommers, die sie mit ihm unterm Dach verbracht hat, würde sich darin nicht wiederholen lassen. Christian, der sie durchschaut, lässt sich nichts anmerken. Die sichtbare, zum Zeitpunkt des Unfalls der Sonne zugewandte Hälfte der Lichtsphäre hat nun eine Oberfläche von 35 Quadrillionen Quadratkilometern, das ist eine Zahl mit 24 Nullen vor dem Komma.

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