Du, mein geliebter "Russe"

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Die Heimat erwartet euch, ihr Schufte!
1948-1950. Magadan/Sowjetunion

Verdammt! Ohne es zu wollen, hatte Hans seinen wundesten Punkt berührt, Erinnerungen an Dinge wachgerufen, an die er sich verboten hatte zu denken: an seine Zeit im Lazarett in dem malerischen Städtchen Fritzlar, an die zauberhafte Schwester Liesel mit ihren rehbraunen Augen und der blonden Mähne, an die heißen Nächte und zarten Küsse. An die Frau, die er liebte und heiraten wollte.

Das tat nun wirklich weh, sehr sogar. Arthur sah seinen Freund wütend an und ließ dann den Kopf hängen. Tja, wo er recht hatte, hatte er recht. Hatte nicht viel geholfen, dieses Verdrängen, dieses Nichts-mehr-wissenwollen von der Vergangenheit – plötzlich war alles mit voller Wucht da, als hätte er erst gestern seine Liesel im Arm gehalten und zärtlich geküsst.

Als er damals während dieses unseligen Besuchs bei seiner Familie in Litzmannstadt von der Gestapo abgeholt worden war, hatte man ihn zum Tod durch Erschießen verurteilt. Nach dem „Wieso“ und „Warum“ zu fragen, wäre müßig gewesen, eine Antwort hätte er sowieso nicht bekommen, nicht von der Gestapo. Arthur malte sich keine großen Chancen aus: Was er gesagt hatte, hatte er gesagt, das zu leugnen, war schlicht und ergreifend dumm, denn es gab eine Zeugin, die der Gestapo Bericht über sein „nicht arisches Benehmen und die frevelhaften Worte über den Führer“ erstattet hatte.

Diese Zeugin war übrigens die Freundin seiner Mutter. Er stand also auf verlorenem Posten und wollte sich nichts vormachen. Aber da war doch noch Liesel, um die seine Gedanken kreisten, seine Liesel, die jetzt irgendwo draußen mutterseelenallein hilflos durch die feindselige, aus den Angeln geratene Welt irrte! Und er war an allem schuld, er hatte sie also doch ins Unglück gestürzt, wie ihr Vater immer prophezeit hatte. Arthur stöhnte vor Wut und Hilflosigkeit: Gab es denn wirklich keinen Ausweg?

Als er sich wieder einmal in seiner Verzweiflung die Hände an der Betonwand blutig boxte, flog die Zellentür mit Wucht auf. An der Schwelle stand der SS-Obersturmführer, zu dem man ihn jeden Tag zum Verhör brachte. „Mitkommen, Gerber!“, befahl er mit schneidiger Stimme und zischte: „Hast Glück gehabt, du russisches Schwein! Riesenglück! Das versteh einer: Statt den Vaterlandsverräter an die Wand zu stellen, wird er begnadigt! Nee …“ Der Gestapomann schüttelte den Kopf. „Die Gestapo ist heutzutage auch nicht mehr das, was sie mal war, nee!“

Im Büro angekommen wiederholte er: „Hörst du, du verdammter Schweinehund? Du bist begnadigt worden! Aber freu dich nicht zu früh: Statt gehängt oder erschossen zu werden, wirst du an die Front geschickt – da wird Kanonenfutter gebraucht! Du kommst an die vorderste Linie! Und das ist auch der sichere Tod, da kommt selten jemand lebend raus!“

Arthur kam heraus, fast heil kam er aus der Hölle heraus, nur eine Verletzung am Bein hatte er abbekommen. Er hatte unglaubliches Glück gehabt. Mit der Versprechung des aufsichtshabenden SS-Mannes, dies sei noch nicht das Ende der Geschichte, wurde er bald aus dem Lazarett entlassen, aber da war der Krieg auch schon zu Ende, und seine Einheit geriet in amerikanische Gefangenschaft.

Wieder einmal Schwein gehabt, denn man erzählte sich grauenhafte Geschichten vom Schicksal ehemaliger Sowjetbürger, die in die Hände der Russen gefallen waren. Arthur und seine zwei Landsleute, die er zufällig im Lazarett getroffen hatte, hofften, diesem Schicksal mit Hilfe der Amerikaner zu entkommen.

Doch die Sowjets machten ihnen einen dicken Strich durch die Rechnung, das heißt, nicht nur sie allein: Die vertragliche Grundlage für die Auslieferung der Personen, die von der UdSSR als ihre Staatsbürger deklariert wurden, war das Abkommen von Jalta, das die Überstellung der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter an die Rote Armee vorsah. Sicher wussten die Amerikaner, was sie da taten, doch wähnten sie die repatriierten Gefangenen auf dem Weg in ihre angestammte Heimat.

Die Realität sah jedoch ganz anders aus: Den Opfern zweier Diktaturen wurden nach stundenlangen Verhören in Sammellagern im Eilverfahren ihre Urteile verkündet. Es gab eigentlich nur drei Urteile: Todesstrafe, 25 Jahre Straflagerhaft und Verbannung auf ewige Zeiten. Wie, wieso und warum, wusste keiner, und niemand hielt es für notwendig sich, sie darüber aufzuklären.

Die russischen Repatriierungsoffiziere beherrschten ihr Handwerk und brachten ihre Opfer mit ausgeklügelten Methoden fast um den Verstand: Die Jungs sollten zugeben, dass sie sich freiwillig zum Dienst bei der deutschen Wehrmacht gemeldet hätten. Manche hielten nicht stand und gaben alles zu, was man von ihnen verlangte. Daraufhin verschwanden sie aus dem Lager, und keiner wusste, wohin. Arthur und seine Freunde beharrten auf der Wahrheit und wollten auf keinen Fall ihre Aussagen ändern, selbst dann nicht, als die sowjetischen Militärs härtere Register zogen. Arthur hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass, wenn er schlapp machen und unter Druck die Forderung der Militärs erfüllen würde, sein Ende besiegelt war.

Er hatte seit der Verurteilung durch die Gestapo damals in Polen immer wieder nach einer Möglichkeit gesucht, Liesel ein Lebenszeichen von sich zu geben, damit sie zumindest wusste: Er ist am Leben. Das war aber ein Ding der Unmöglichkeit, denn er hatte schon seit Langem keine Verbindung mehr zur Außenwelt: Zuerst ließ ihn die Gestapo nicht aus den Augen, dann ihr sowjetisches Ebenbild, der NKWD. Die wenigen Zivilisten, die es ihm gelungen war anzusprechen, zuckten bedauernd mit den Schultern und eilten mit eingezogenen Köpfen davon.

Bald hieß es, man würde die Gefangenen in die Heimat bringen, kurz darauf kam der Befehl, sich reisefertig zu machen.

Einen Tag später ging es los: In aller Eile wurde der erste Transport zusammengestellt und in Güterwaggons verladen, 45-50 Mann pro Waggon. Die Rotarmisten lachten, scherzten und wiederholten immer wieder: „Nach Hause! Nach Hause!“ Auch so mancher Gefangene versuchte ein Lächeln, doch Arthur gefror das Blut in den Adern, als er das Transparent an der Front der Lokomotive las: „Rodina schdjot was, njegodjai!“ („Die Heimat erwartet euch, ihr Schufte!“)

Sie bekamen pro Waggon einen Eimer Graupen und einen Eimer Wasser zugeteilt, auch einen Eimer Kohle für den runden eisernen Ofen in der Mitte des Waggons. Das war alles. Doch nein, es gab noch Stroh auf dem Boden, mit dem sich ein Schlaflager herrichten ließ.

Als der Transport nach anderthalb Monaten in Wladiwostok, der größten sowjetischen Hafenstadt am Stillen Ozean, ankam, bot sich den Eisenbahnern ein Bild des Grauens: Aus den Waggons quälten sich Hunderte von halbverhungerten, bis auf die Knochen abgemagerten Gestalten, verlaust und verdreckt. Arthur sah das Entsetzen in den Augen der Hafenarbeiter: Sie sollten Gefangene, Faschisten, an Bord eines Frachters bringen, hieß es, doch das hier waren Gespenster, lauter halbtote Kreaturen, die jede Minute verenden konnten.

Die Gefangenen, die nach der endlosen Fahrt von einem Ende des Riesenlandes zum anderen erstmals festen Boden unter den Füßen spürten und den blauen Himmel, die gleißende Sonne, die grünen Bäume und das graue Meer sahen, weinten vor Freude und taumelten vor Glück. Bevor man die elenden Gestalten im Laderaum des Frachters „verstaute“, führte man sie in Kolonnen ins Badehaus, desinfizierte die Lumpen, die ihnen als Kleidung dienten, gab jedem einen Napf mit lauwarmer dünner Graupensuppe und Verpflegung für die bevorstehende Seereise nach Magadan: sieben Heringe und einen Laib Brot. Das sollte für die siebentägige Reise reichen.

„Hör mal, hast du denn nichts mehr von deiner Liesel gehört?“, fragte Hans seinen Freund zum wiederholten Mal. „Hey, Arthur, ich hab dich was gefragt!“ Hans stupste seinen Freund vorsichtig an. „Schläfst du etwa?“ „Nee, ich bin wach.“ Arthur war mit seinen Gedanken in der Vergangenheit, wollte noch ein wenig bei den Bildern verweilen. Doch Hans …

„Was wolltest du wissen, Hans? Du hattest mich doch etwas gefragt?“

„Und ob ich dich etwas gefragt habe.“ Hans‘ Tonfall klang beleidigt. „Und das nicht nur ein Mal. Ich wollte nämlich wissen, ob du etwas von deiner Verlobten, deiner Liesel, gehört hast. Weiß sie etwas von dir, weißt du was von ihr?“

Wieder der stechende Schmerz in der Brust: Musste der Kerl immer wieder in der Wunde herumstochern?! Was hatte er denn davon? Doch laut sagte Arthur mit ruhiger Stimme: „Ich kann nur hoffen, dass sie heil nach Hause gekommen ist. Sie aber wird glauben, dass ich erschossen wurde. Ich hatte keine Möglichkeit, ihr zu sagen oder zu schreiben, dass ich am Leben bin!“

„Ist vielleicht auch besser so“, meinte Hans traurig, „denn wenn sie wüsste, was wir alles hinter uns haben …“

„… und was uns noch alles bevorsteht“, setzte Arthur seinen Gedanken fort.

Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann fragte Hans in die Stille: „Was meinst du, was haben die mit uns vor? Und was sollen das für Lehrgänge sein?“

„Mir soll’s egal sein.“ Arthur gähnte gelangweilt. „Ich melde mich höchstwahrscheinlich zum Buchhaltungskurs an.“

„Toller Beruf! Vor allen Dingen so romantisch“, meinte Hans ironisch. „Was Besseres fällt dir wohl nicht ein?“ „Dafür brauch ich mir dann aber nicht mehr den Hintern abzufrieren, die drei Winter in Sussuman haben mir vollkommen gereicht: Mir schien manchmal, dass nicht nur meine Glieder steif vor Kälte, sondern dass auch all meine Sinne und das Gehirn erfroren waren. Das hält kein Mensch durch!“

 

Hans schwieg betreten. „Aber Magadan scheint schon ein besserer Ort in dieser Hölle zu sein,“ gab er dann zu bedenken. „Hast du es bemerkt? Hier ist es draußen viel wärmer als in Sussuman, heute sind es vermutlich nur minus 30 Grad Celsius …“

„Sussuman liegt ja auch 800 Kilometer weiter nördlich, nur ‚schäbige‘ 400 Kilometer von Oimjakon entfernt! Und das, mein Lieber, ist der Ort, der mit einer Tiefsttemperatur so an die minus 65-67 Grad als der Kältepol aller bewohnten Gebiete der Erde gilt.“

„Das glaub ich dir nicht! Woher willst du das wissen?“ Hans starrte seinen Freund ungläubig an. „Aus den Büchern, mein Freund, aus den Geografiebüchern! Hast du in der Schule gepennt?“, amüsierte sich Arthur. „Das hätte ich nicht gedacht!“ Hans war perplex. „Da krieg ich ja im Nachhinein noch einen Schrecken, wenn ich bedenke, wo wir drei Jahre lang geschuftet haben! In der Hölle, in der Eishölle! Du liebes bisschen!“ Hans schaute so verdattert drein, dass Arthur lachen musste: „Halb so schlimm, Kamerad, halb so schlimm! Vielleicht ändert sich ab jetzt einiges. Und was auf uns zukommt? Schlimmer, als es bisher war, kann es nicht kommen, und jede Suppe wird bekanntlich nicht so heiß gegessen, wie sie gekocht wird. Jetzt aber wollen wir uns aufs Ohr hauen, und morgen werden wir weitersehen …“

Hans hätte gern noch ein bisschen geredet, doch er kannte Arthurs unbeugsamen Willen: Wenn der etwas gesagt hatte, hielt er sich eisern daran.

In der Nacht wälzte sich Hans auf seiner Pritsche hin und her und fand keinen Schlaf: Was würde ihnen wohl der nächste Tag bringen? Diese ständige Ungewissheit konnte einen in den Wahnsinn treiben, besonders, wenn man, wie in ihrem Fall, keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge hatte. Andererseits konnte eigentlich nichts schiefgehen, denn schlimmer als zuvor … Konnte es denn noch schlimmer werden?

Er erinnerte sich daran, wie sie vor drei Jahren nach monatelanger Reise in einem Transport mit Kriegsgefangenen im Magadaner Hafen Nagajewo angekommen waren: Hungrig, verlaust und verdreckt wurden die Häftlinge in ihrer verschlissenen, zerlumpten Kleidung auf offene Lastwagenanhänger verladen und in die 700 Kilometer nördlich gelegene Siedlung Sussuman gebracht.

Sie glaubten, auf der Fahrt in die Hölle zu sein: Es war Spätherbst und schon ziemlich kühl, der Regen wollte und wollte nicht aufhören, der eisige Wind peitschte unbarmherzig auf sie ein, und es gab kein Entkommen. Hans musste immer wieder darüber staunen, wie viele Entbehrungen ein Mensch aushalten, wie viel Leid und Kummer er ertragen kann. Denn nur wenige hatten sich bei dieser Horrorfahrt erkältet, keiner war draufgegangen. Ein Wunder!

Die Häftlinge wurden auf verschiedene Lager rund um die Siedlung verteilt, Hans und Arthur durften – Gott sei Dank! – zusammenbleiben.

Der Anblick des Lagers, in das sie gebracht wurden, war mehr als gewöhnungsbedürftig: Von einem dreifachen Stacheldrahtzaun umgeben und mit zahlreichen Wachtürmen versehen, lag das Prachtstück auf einer kahlen Anhöhe, gut einsehbar von allen Seiten. Kein Baum, kein Busch, kein Gebäude in der Nähe – das erleichterte den Wachposten ihre Arbeit und ließ die Gefangenen nicht auf abwegige Gedanken kommen. Obwohl jeder Mensch, der bei klarem Verstand war, sofort erkennen musste, dass eine Flucht aus diesem Lager, überhaupt aus dieser Gegend, unmöglich war.

Noch am Tag der Ankunft wurden ihnen nach einem kurzen Appell Werkzeuge zugeteilt. Jeder bekam einen Spaten, eine Spitzhacke, ein Brecheisen und eine Schubkarre.

„Das hier“, sagte der Lagerleiter, „ist die Ausrüstung eines Goldgräbers, denn von nun an werdet ihr beim Goldschürfen eingesetzt, und wehe, wenn ihr die Normen nicht erfüllt! Dann gibt es Strafen.“

„Herrje!“, meinte Hans entsetzt beim Anblick dieser Ausrüstung. „Das ist ja Werkzeug aus dem Mittelalter!“ Er sah seinen Freund fassungslos an, als erwarte er von diesem wirklich eine Erklärung. „Und damit gewinnen die hier Gold?!“, ließ Hans nicht locker.

„Du, Hans!“ Arthur dämpfte die Stimme, so gut es ging. „Wollen wir, wenn die anderen dabei sind, nicht Russisch reden? Mir scheint, wir sind hier schon von Anfang an durch unsere Fremdartigkeit aufgefallen. Hast du denn die argwöhnischen, bisweilen bösen Blicke nicht gesehen, die uns die anderen zuwerfen, wenn wir Deutsch reden?“

„Was hat denn unser Deutsch mit der Feindseligkeit zu tun? Hier sind doch alle Häftlinge wie du und ich.“ „Das schon, aber sie sind Russen“, fiel ihm Arthur ins Wort. „Russen, deren Land von Deutschland überfallen wurde. Was Wunder, wenn sie in jedem Deutschen einen Feind, einen Erzfeind, sehen.“

„Tja, noch eine Belastung mehr“, murmelte Hans, „als ob es nicht ohnehin schon genug gewesen wären.“ Diese Entscheidung fiel beiden schwer, denn Russisch war eben nicht ihre Muttersprache und wenn sie sprachen, war der verräterische Akzent nicht zu überhören.

Doch die Vorsichtsmaßnahme war überflüssig: Die Insassen des Lagers waren fast ausschließlich politische Häftlinge, und diese wussten sehr wohl zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Sie hießen die Neulinge willkommen „im sowjetischen Eldorado“, dem Ort mit den größten Goldvorkommen und den meisten Straflagern in der UdSSR, boten ihre Hilfe an, gaben ihnen nützliche Ratschläge.

Ob sie etwas zu tauschen hätten, wollte ein untersetzter Mann mit Vollbart und gütigen, aber wachsamen Augen wissen. Da die beiden offensichtlich nicht verstehen konnten, was er von ihnen wollte, wurde der Mann deutlicher: „Ich meine, so wie ihr da ausstaffiert seid, werdet ihr den Winter nicht überleben – diese lächerlichen Schuhe, die zerfetzten leichten Jacken und die Käppis könnt ihr vergessen. Hoffentlich habt ihr etwas Brauchbares, Nützliches, das ihr gegen haltbare, robuste Sachen eintauschen könnt. Sehr gefragt sind auch allerlei interessante Dinge, wie Uhren, Herrenringe, Kettchen, Feuerzeuge und Ähnliches.“

Jetzt verstanden die beiden, was los war, und überlegten fieberhaft, was sie dem Mann anbieten konnten. Als hätte dieser ihre Gedanken erraten, sagte er breit grinsend: „Wir hier haben nichts anzubieten, aber die Kriminellen in der Nachbarbaracke betreiben regen Handel, bei denen kann man sogar Lebensmittel gegen Wertsachen bekommen. Ich heiße übrigens Pawel.“ Sein Blick fiel auf Arthurs Verlobungsring: „Na, wer sagt’s denn! Das ist ja schon was!“

„Kommt nicht in Frage!“ Arthur vergrub hastig die Hand mit dem Verlobungsring in seiner Tasche. „Nee, da müsst ihr mir schon die Hand abhacken, ehe ich den Ring hergebe!“

Er kramte in seinem Rucksack, und zum Vorschein kamen zwei Hemden, ein Paar Socken, eine lange Unterhose, ein Handtuch, Rasierzeug, Zahnpasta und eine Zahnbürste. Das alles breitete er auf einer der Pritschen aus, legte seine Armbanduhr dazu und nach kurzem Zögern auch noch die Mundharmonika. Das Gleiche tat auch Hans mit seinen Siebensachen.

Pawel sah sich die Sachen an, murmelte: „Nicht überwältigend“ und ging, wie er sagte, zu den „Wohlhabenden, den Reichen“, in die Baracke der Kriminellen. Es dauerte nicht lange, da kehrte er mit einem komischen Kauz zurück. Eigentlich war es ein gewöhnlicher, etwas schlaksiger Mann mittleren Alters, doch alles an ihm erschien so seltsam, dass er unwillkürlich die Blicke auf sich zog: Er ging nicht, er tänzelte regelrecht auf seinen viel zu langen, Stelzen ähnelnden Beinen in die Baracke, sein Körper vollführte wellenartige Bewegungen, als ob er damit wedelte wie ein Hund mit dem Schwanz, die Schlitzaugen mit dem stechenden Blick schienen keinen der Anwesenden anzuschauen, und trotzdem konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er alle und alles im Auge behielt.

„N‘Abend, allerseits!“ Er tippte mit zwei Fingern an sein schmieriges Käppi und beobachtete die Runde aus den Augenwinkeln. „Ein Neuzugang?“

Als die Jungs nickten, fuhr er fort: „Willkommen im sonnigen Kolyma!“ und wieherte wie ein Hengst über seinen eigenen Witz. „Habt ihr was anzubieten?“ Der Kriminelle gab sich scheinbar gleichgültig.

Noch ehe Arthur oder Hans antworten konnten, baute sich Pawel vor den Sachen auf: „Du wirst mit mir verhandeln müssen, klar?“ und trat zur Seite.

„Und was genau wollt ihr da verkaufen?“ Der Zappelige bemerkte die Uhren und konnte seinen Blick nicht mehr von ihnen wenden. „Was verlangst du dafür? Für beide Uhren?“ Pawel überlegte nicht lange: „Brauchbare warme Kleidung, ordentliches Schuhwerk und Mützen mit Ohrenklappen für beide!“ Als der Kriminelle empört zu sprechen ansetzte, schnitt ihm Pawel barsch das Wort ab: „Du bist hier nicht auf dem Basar. Es gibt ja außer dir noch andere Interessenten. Entweder du schlägst ein oder …“

„Schon gut, lass uns verhandeln.“ Der Kriminelle sah seine Felle davonschwimmen und wurde zappelig. Nach langem Hin und Her verschwand der Schlaksige, um bald darauf mit zwei Kumpanen zurückzukehren, die einige Kleiderbündel in die Baracke schleppten. Es waren alles alte, getragene Kleidungsstücke, und Pawels Freunde mussten sich Mühe geben, um aus den Bündeln brauchbare Sachen auszusortieren. Sie begutachteten sorgfältig jedes Stück, ehe sie es zur Seite legten. Danach konnte der Handel stattfinden: für zwei Wattehosen, zwei Wattejacken, zwei paar robuste Halbstiefel und zwei Ohrenmützen boten sie dem Käufer zwei Uhren und eine goldene Herrenkette an. Der schien nicht ganz zufrieden zu sein, tastete mit unstetem Blick gierig die restlichen Sachen auf der Pritsche ab. Als er der Mundharmonika gewahr wurde, hellte sich sein Gesicht auf. „Heureka!“, rief er erfreut und streckte die Hand nach ihr aus. Doch er hatte nicht mit Pawels Standhaftigkeit und seiner zähen Verhandlungskunst gerechnet.

„Du bekommst sie, wenn du noch zwei warme Schals drauflegst!“, meinte Pawel warnend. Das Zähneknirschen des Schlaksigen war nicht zu überhören, sein wütender, hasserfüllter Blick nicht zu übersehen. Er gab seinen Gehilfen ein Zeichen, und diese führten seinen stummen Befehl aus und warfen noch zwei Schals auf den Kleiderhaufen. Dann trotteten sie schweigend Richtung Ausgang.

Auf Pawels Anraten legten Arthur und Hans ihre Altkleidersammlung sorgsam ausgebreitet auf die Pritschen unter die Strohsäcke – eine Maßnahme gegen eventuellen Diebstahl.

„So, Jungs.“ Pawel war offensichtlich zufrieden mit dem Handel. „Jetzt seid ihr für den Winter gewappnet, und der steht schon vor der Tür. Passt auf eure Sachen auf und genießt die letzten Sonnenstrahlen, denn warm ist es hier nur ganz kurz. Bekanntlich ist das hier ein wunderlicher Planet, auf dem zwölf Monate lang Winter herrscht und den Rest des Jahres Sommer ist.“

Er hatte, weiß Gott, recht: Frühling, Sommer und Herbst dauerten hier zusammen insgesamt weniger als zwei Monate. Dafür aber veränderte sich die Landschaft von einem Tag auf den anderen – stürmisch und ungestüm. Die Flora schien im Frühling zu bersten, als ob sie es eilig hätte und vieles nachholen wollte: Die dünnen schwindsüchtigen Lärchen bekamen neue leuchtend grüne Nadeln, und der sumpfige Boden und die Hänge der Hügel grüne Gewänder, sogar das Krummholz, das sich im Winter unter der Last der klirrenden Kälte auf der Erde ausgebreitet hatte, stand nach einigen Tage wieder kerzengerade, ganz zu schweigen von den Pilzen und Blaubeeren, die hier in der kurzen Zeit in rauen Mengen aus der Erde sprossen. Diese Eigenart der Natur war verblüffend, unerklärlich und, wie jedes Phänomen, ebenso faszinierend wie die unbeschreibliche, unglaubliche Jungfräulichkeit der Natur!

Diese wenigen lauwarmen Tage waren trotz der Sklavenarbeit auf den Goldfeldern ein Segen für die Gefangenen, denn auf dem Weg zur Arbeit und zurück ließ die Wache die Lagerinsassen manchmal auf den unendlich weiten Blaubeerfeldern, die sich wie eine riesige blaue Decke bis zum Horizont erstreckten, „weiden“. Das war ein wahres Wunder, wenn man bedachte, dass sich dieser Schatz in einer Gegend mit Permafrostboden befand, wo im Sommer nur zehn bis fünfzehn Zentimeter der Erdoberfläche auftauten. Es gab so viele saftige, reife Beeren, dass man sie nicht einzeln pflückte, sondern eine Handvoll nach der anderen in den Mund stopfte, oft samt den Blättern. Das aber tat dem Appetit der Menschen keinen Abbruch, denn neben den jungen Kerzen und Nadeln des Krummholzes und der Lärchen waren die Blaubeeren ein wirksames Mittel gegen den Skorbut, der in den Straflagern wegen des Vitaminmangels wütete.

Die Gefangenen mussten auch winters bei -50 Grad Celsius mit ihren mittelalterlichen Geräten Gold schürfen, die Norm war bis zu 150 Karren goldhaltiges Gestein pro Arbeitstag, und dieser dauerte 14 Stunden. Erfüllten sie die Norm nicht, wurde den Sträflingen ein Teil der ohnehin kargen Brotration entzogen. Es war die Hölle, die reinste Hölle, und sie hatten drei Jahre lang darin gesteckt!

 

„… Und jetzt kommen die mit ihren Lehrgängen und so ‘nem Quatsch! Wird wohl wieder derselbe Salat sein, denn Gulag bleibt Gulag!“ Hans zog sich die Decke über den Kopf und versuchte einzuschlafen.

Der nächste Morgen begann mit Überraschungen – nicht umsonst sagt der Volksmund: „Morgenstund hat Gold im Mund!“

Zuerst bekamen sie ein herrliches Frühstück! Ein fürstliches, wie Arthur erstaunt ausrief: Brot mit etwas Butter(!) und Blaubeermarmelade, eine dünne Scheibe Fisch, einen Napf voll Graupengrütze und ein Glas trüber Flüssigkeit, die entfernt an Tee erinnerte.

Dann überstürzten sich die Ereignisse. Als Erstes brachte man sie in die Aula der benachbarten Schule, wo schon ein Dutzend Anwärter auf einen Platz in den Lehrgängen versammelt war.

Was weiter geschah, konnte anfangs keiner der Anwesenden begreifen. Denn das, was ihnen der Offizier da oben auf dem Podium zu erklären versuchte, war so absurd, so unmöglich, ja ungeheuerlich, dass keiner im Saal den Sinn seiner Worte begreifen konnte. Ihr Verstand, all ihre Sinne, ihr ganzes Wesen weigerte sich zu glauben, was der Mann da sagte:

„In Abänderung des Strafurteils … teilweises Fehlurteil … in Anbetracht besonderer Umstände … Verbannung auf ewige Zeiten … Verbannungsort Kolyma … Freigänger …“ Die Satzfetzen prasselten auf die Häftlinge nieder, und es dauerte seine Zeit, bis sie sie einordnen konnten, bis ihnen der Kern der Rede einigermaßen klar wurde: Sie werden aus dem Lager entlassen, dürfen jedoch als Sondersiedler ihren Standort in der Kolymaregion nicht verlassen.

Nach einigen Fragen und Erläuterungen wurde klar: Ab jetzt waren sie keine Häftlinge mehr, sondern Verbannte auf ewige Zeiten, sie durften sich am Ort ihrer Verbannung im Umkreis von zehn Kilometern frei bewegen – jeder weitere Meter konnte ihnen zum Verhängnis werden und Strafen bis zu fünfzehn Jahren Haft nach sich ziehen.

Nachdem der Offizier seine Ausführungen beendet hatte, blieb es in der Aula still, so still, dass man das Summen einer Fliege hätte hören können, wenn sich denn um diese Jahreszeit eine hierher verirrt hätte. Eine Minute … zwei … drei … Dann explodierte der Saal – jubelnde Schreie, Lachen, Rufe und Tränen, Flüsse von Freudentränen, deren sich die gemarterten jungen Männer nicht schämten.

Es war gewiss nicht die große Freiheit, aber man saß auch nicht mehr im Käfig, man musste nicht mehr nur dem fremden Willen folgen, man konnte, wenn auch in begrenztem Maße, einige Entscheidungen selbst treffen. Es war ein schon lange nicht mehr dagewesenes Glücksgefühl, Arthur und Hans kamen nicht aus dem Freudentaumel heraus.

Nun galt es erstmal, in einem der Lehrgänge einen Beruf zu erlernen. Da der von Arthur angepeilte Lehrgang für Buchhaltung belegt war, entschied er sich für den Beruf eines Fachmanns für Standardisierung, Hans ließ sich auf die Liste der Dreher setzen.

Statt der Spitzhacken und Brecheisen hielten sie nun Bücher in den Händen, richtige Bücher, sie durften lesen, so viel sie wollten, sie hatten auch Stifte und Papier, konnten jetzt schreiben, Briefe schreiben …

Konnten Briefe schreiben … Ja, das auch, doch an wen und wohin? Weder Arthur noch Hans wussten, wo ihre entwurzelten, in der ganzen Welt verstreuten Familien und Verwandten waren. Und Liesel? Ihre Adresse wusste Arthur auswendig, doch wer würde schon einen Brief aus dieser Hölle ins besiegte, feindliche Deutschland durchlassen?

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