Du, mein geliebter "Russe"

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Der „Russe“ kommt mir nicht ins Haus!
1947-1948. Fritzlar/Nordhessen

Die schwachen winterlichen Sonnenstrahlen bahnten sich zaghaft den Weg durch das Fenster in der Schräge, drangen zunächst in den oberen Teil des Schlafzimmers ein, und einigen gelang es, das Bett zu erreichen, auf dem sich eine junge Frau unruhig im Schlaf hin und her wälzte. Es war immer wieder derselbe schaurige Traum, der sie seit Jahren fast jede Nacht heimsuchte: Sie lief ihrem geliebten Arthur entgegen, lag fast schon in seinen Armen, doch da tat sich plötzlich ein tiefer, dunkler Abgrund direkt vor ihren Füßen auf und verschluckte ihren Geliebten, ihr Ein und Alles. Sie rief verzweifelt nach ihm, schrie seinen Namen in den Wind und … wachte auf, geweckt von ihrem eigenen Schrei. Kaputt und zerschlagen, als hätte sie die ganze Nacht hindurch Berge versetzen müssen, schleppte sie sich zur Kommode, auf der, kunstvoll eingerahmt, ein Bild stand. Das Bild zeigte ein junges Paar, das glücklich und übermütig dem Fotografen zuwinkte. Der junge Mann in deutscher Wehrmachtsuniform hatte seinen Arm liebevoll um die Schultern des Mädchens gelegt, sie schmiegte sich vertrauensvoll an ihn, der Wind spielte mit ihren Haaren, zerzauste sie und eilte davon. Die beiden lachten lauthals – man konnte es sehen und fast hören, sie waren verliebt und glücklich, auch das konnte man ihnen an den Augen ablesen. Und sie hofften auf eine glückliche Zukunft …

Die Gesichter auf dem Bild waren scharf, nicht verschwommen und gut zu erkennen, das Foto war wie neu, als ob es erst gestern gemacht worden wäre. Kein Wunder, denn für Liesel, so hieß die junge Frau, bedeutete es mehr als ein Heiligenbild in der Kirche; ohne das Bild hier auf der Kommode konnte sie sich ihr Leben gar nicht mehr vorstellen, denn es war ein Andenken an ihren Arthur, der im Krieg irgendwo in der weiten Welt verschollen war. Trotz aller Unkenrufe glaubte Liesel fest daran, dass er am Leben geblieben war und eines schönen Tages zu ihr zurückkommen würde.

Es war schon wie ein festes Ritual: Jeden Morgen nach dem Aufwachen ging sie zur Kommode, nahm das Bild in die Hand, streichelte es mit einer zarten Bewegung und flüsterte: „Guten Morgen, mein Gutster!“ „Gutster“ nannte sie ihn scherzhaft, weil er sie einmal in seinem schwarzmeerdeutschen Dialekt zärtlich „meine Gutste“ genannt hatte. Manchmal begrüßte sie ihn mit den Worten: „Guten Morgen, mein geliebter ‚Russe‘!“, tat dies aber mehr den Eltern und dem Bekanntenkreis zum Trotz, die Arthur, der aus einer deutschen Kolonie im Süden Russlands stammte, naserümpfend als Russen und Nichtarier ablehnten: Diese Beutegermanen, diese sogenannten „Volksdeutschen“, sind keine echten Deutschen, keine Arier! Aus ihrem Mund klang es scheußlich, doch es war ja auch verständlich – Russland und die Russen waren im Krieg Deutschlands ärgste Feinde gewesen, aber für sie war ihr Arthur es nicht, nie und nimmer.

„Mama, aufstehen!“ Ein kleiner Knirps mit schwarzen Kulleraugen steckte sein Lockenköpfchen durch die Tür, stürmte aber sofort, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Zimmer und auf den Schoß der Frau: „Bisschen kuscheln … schmusen?“ Liesel drückte ihren Sohn fest an sich, herzte, knuddelte und küsste ihn ab und konnte gar nicht damit aufhören. Dem Kleinen gefiel es nicht sonderlich, doch er ließ seine Mutter gewähren: Er liebte es, sich in ihre Arme zu kuscheln und ihrer Stimme zu lauschen. „Ein Märchen!“, kam sodann das Kommando, „das von dem Prinzen und dem Drachen!“ Liesel begann das Märchen vom braven Prinzen zu erzählen, doch mitten im Erzählfluss fragte der Junge unvermittelt: „Mutti, was ist ein Bastard?“

Liesel stockte der Atem, sie hielt erschrocken inne: Sollte ihr Vater wieder einmal …?

„Hat Opa zu mir gesagt, ‚russischer Bastard‘ hat er gesagt und wieder mit mir geschimpft. Er mag mich nicht!“ Das Kind war den Tränen nahe. Liesel riss sich mit Mühe zusammen, legte schützend die Arme um ihren Sohn, hielt ihn noch fester an sich gepresst und murmelte:

„Aber nicht doch, Uli, mein Kind, wo denkst du hin? Hast vielleicht etwas angestellt?“ „Nein, Ehrenwort nicht! Ich wollte bloß ein Spielzeug haben, so eins, wie Ferdi hat. Weißt du, Opa hat ihm ein so schönes Auto geschenkt, ein so schönes!“ Uli geriet mit leuchtenden Augen ins Schwärmen. „Und mir nicht.“ Das Leuchten in Ulis Augen erlosch, er sah traurig zur Mutter hoch. „Unser Opa hat zu viele Sorgen, wahrscheinlich hat auch das Geld für zwei Autos nicht gereicht“, murmelte Liesel verwirrt und versuchte abzulenken: „Weißt du was? Ich erzähl dir lieber von deinem Papa.“

Der Vorschlag wurde jauchzend angenommen, denn Mamas Erzählungen von seinem tapferen Papa, dem unerschrockenen, starken und allen überlegenen Helden, dem gutmütigen und liebevollen Papa konnte kein Märchen die Waage halten. Uli konnte der Mutter ewig zuhören, wenn sie von seinem Papa sprach, so auch jetzt, als beide – Mutter und Sohn, jeder auf seine Art – auf den Schwingen der Fantasie der grauen und trostlosen Wirklichkeit entschwanden, dem Wiedersehen mit dem Papa entgegen. Doch die Rückkehr von dieser märchenhaften Reise war unvermeidlich, so unvermeidlich wie die bange Frage, die das Kind seiner Mutter jedes Mal mit Tränen in den Augen stellte: „Und wann kommt er endlich wieder heim?“

… Damals war Liesel Möllers Welt noch in Ordnung, obwohl der Krieg schon vor Deutschlands Toren tobte, die Lebensmittel rigoros rationiert waren, die Luftangriffe der feindlichen Bomber immer öfter und heftiger wurden, und sie, eine junge Krankenschwester, bis zum Umfallen im Lazarett arbeiten musste. Sie war (und sie schämte sich, sich das selbst einzugestehen) glücklich, unverschämt glücklich, trotz aller Widrigkeiten.

Die Entbehrungen machten ihr nichts aus, sie lebte, wie sie behauptete, von und für ihre große Liebe, die Liebe zu dem gutaussehenden jungen Soldaten, dem Verwundeten, der aus Nordfrankreich in das Lazarett in ihrer Stadt eingeliefert worden war. Alles an ihm war ungewöhnlich: sein Auftreten, seine Haltung, sein dunkelbraunes gewelltes Haar, vor allem aber die Augen – zwei große blau-grüne Seen, in die Lisa willig, ohne jedweden Widerstand eintauchte und sofort darin versank. Als er sich dann mit seiner dunklen samtenen Stimme vorstellte, war es endgültig um sie geschehen: Er war es, ihr langersehnter Prinz!

Sie kamen sich sofort näher und verstanden sich auf Anhieb.

Er heiße Arthur, erzählte er Liesel, und sei an der rechten Hand verwundet worden, leider, denn er spielte leidenschaftlich gern Violine, würde aber wahrscheinlich in Zukunft auf sein Hobby verzichten müssen. Er erzählte auch, dass seine Familie früher immer sonntags musiziert hatte: Der Vater spielte Fußharmonium, die Mutter Akkordeon, sein Bruder Mandoline und er Geige. Arthurs Erzählung war traurig und klang irgendwie fremdartig, sodass Liesel unwillkürlich die Frage herausrutschte: „Wo kommst du eigentlich her? Du hast einen so komischen Akzent?“

Die Reaktion des jungen Mannes war unerwartet: Der Gesichtsausdruck, eben noch heiter und freundlich, wurde hart, verschlossen und abweisend, er schmetterte schroff, in kurzen Sätzen die Antwort in den Raum, als wäre es eine militärische Meldung: „In meiner Familie waren alle Deutsche! Wir haben früher in Russland gelebt. Wir sprachen Deutsch. Doch es gab naturgemäß gewisse Einflüsse. Von außen. Auch russische.“

„Dann bist du also Russe?!“ Diese Frage hätte sie nicht stellen dürfen, das begriff Liesel sofort, auch, dass sie dadurch alles vermasselt hatte – sie hätte sich ohrfeigen können! Geplagt von Reue und Scham, versuchte sie zu retten, was noch zu retten war, erklärte, sprach, ohne Punkt und Komma, fand jedoch ihr klägliches, jämmerliches Gestammel selbst nicht überzeugend. Dann verstummte sie, brach in hilflose, reumütige Tränen aus und stürmte nach draußen. Lange noch, nachdem die hübsche Krankenschwester aus dem Krankenzimmer gelaufen war, lag Arthur auf seinem Bett und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Deutsche, Russen – eine Zwickmühle, aus der es scheinbar keinen Ausweg gab. Ganze 19 Jahre lang war er Deutscher, schlicht und ergreifend Deutscher in einem deutschen Dorf in einer deutschen Kolonie in der Ukraine gewesen, und zu keiner Zeit schien jemand Zweifel daran gehabt zu haben. Dann begann man, an dieser Bezeichnung herumzudoktern, sie in Frage zu stellen. Wann und warum waren diese neuen, fremd anmutenden Begriffe in die Welt gesetzt worden, die der Bezeichnung „Deutsche“ oder „Deutscher“ den Anstrich von Minderwertigkeit verliehen?

Er gestand sich ungern ein, dass dieser Umschwung mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Ukraine begonnen hatte. Ungern, weil damit der Verlust vieler seiner Hoffnungen und Ideale verbunden war, seiner und vieler junger Menschen in seiner Umgebung, die in den deutschen Soldaten anfangs Befreier vom Joch der kommunistischen Herrschaft gesehen hatten, was auch aus ihrer Vergangenheit verständlich war: Den Enteignungen der Bauern und ihrer Verbannung in die unwirtlichen Gegenden des riesigen Landes waren Jahre des Terrors (1937-1938) gefolgt, in denen die gesamte gebildete Schicht der Deutschen ausgerottet worden war – darunter auch sein Vater, der in ihrem Dorf Lehrer gewesen war. Später folgten die Enteignungen und die große Hungersnot, die Tausende von Leben dahingerafft hatte. Dabei hatte sich doch alles scheinbar gut angelassen: Die Dorfbewohner bekamen ihren während der Zwangskollektivierung enteigneten Grund und Boden zurück, und das Vieh, die landwirtschaftlichen Geräte und Maschinen der Kolchose wurden unter ihnen aufgeteilt. Doch die Kehrseite der Medaille war, dass sie urplötzlich keine Deutschen, keine Deutschen im eigentlichen Sinne des Wortes mehr waren, keine „astreinen Deutschen, nein: Jetzt hießen sie „Volksdeutsche“, die einer „Umerziehung unterworfen werden mussten, um zur Festigung des Deutschtums beizutragen“. Auf alle Fälle waren sie nicht arisch genug und bedurften einer Aufbesserung. Dabei legten die NS-Stellen ihr Augenmerk vor allem auf die Jugendlichen, die sich hervorragend als Kanonenfutter eigneten. Doch diese gewannen mit der Zeit mehr Einblick hinter die Kulissen, sodass die anfängliche Begeisterung allmählich einer vorsichtigen Besinnung, teilweise gar Enttäuschung Platz machte, zumal man doch Fremder blieb – Volksdeutscher, Deutschstämmiger, Umsiedler. Und da gab es noch Abstufungen – Administrativumsiedler, das abwertende „Beutegermanen“ und das verächtliche, hässliche „Russen“.

 

Arthur wurde nicht oft mit solchen Schmähbegriffen konfrontiert, aber ausgerechnet in Liesels Elternhaus wurde ihm seine Herkunft zum Verhängnis, alle – ihr Vater, die zwei Schwestern, sogar die so verständnisvolle und warmherzige Mutter – lehnten ihn ab.

„Das hat uns noch gefehlt!“, donnerte Liesels Vater los, als sie der Familie von Arthur erzählte und fragte, ob sie ihn am Sonntag zum Mittagessen mitbringen durfte. „Wo hast du diesen Iwan überhaupt aufgegabelt?“, brüllte ihr Vater, ein untersetzter bulliger Mann mit Geheimratsecken und Hitlerschnurrbart unter der Adlernase: „Russen haben mir hier gerade noch gefehlt!“

„Vater, ich …“ Er ließ Liesel nicht ausreden. „So was kommt mir nicht ins Haus, nie und nimmer!“ Wutentbrannt, das Gesicht rot angelaufen, lief er aufgeregt im Zimmer auf und ab.

„Vater hat recht“, unterstützte ihn aufgebracht die spindeldürre Berta, Liesels älteste Schwester, und fügte giftig hinzu: „Hast wohl keinen deutschen Jungen bezirzen können? Musste es ausgerechnet ein Russe sein, unser Feind?“ Ihre Stimme überschlug sich.

„Was hast du dir dabei eigentlich gedacht? Was sollen denn die Leute sagen, wenn das ans Licht kommt: Liesel, ein Russenflittchen?!“, echote Erna, Liesels jüngere Schwester. „Begreifst du denn nicht, dass deine Liebschaft himmelschreiend ist, wo doch unsere Männer in Russland kämpfen!“ Sie schluchzte laut los und lief aus dem Zimmer.

Auch Paul Möller schickte sich an zu gehen, warf seiner Tochter noch einen warnenden Blick zu und sagte in die bleierne Stille kurz, aber bestimmt: „Nein. So was kommt mir nicht ins Haus! Und dabei bleibt’s!“

Jeden Morgen, wenn Liesel ihren Dienst antrat, lief sie an Arthurs Zimmer vorbei, öffnete vorsichtig einen Spalt breit die Tür und sah hinein: Wenn er wach war, ging sie auf Zehenspitzen zu seinem Bett, schlang ihre Arme um seinen Hals und gab ihm einen zärtlichen, scheuen Kuss. Wenn er schlief, ließ sie ihren Blick einige Sekunden auf seinem Gesicht ruhen – das reichte ihr auch schon, um glücklich zu sein: Ich hab ihn gesehen, er ist da, er ist bei mir!

Doch ihr Glück war ein zartes Pflänzchen, zerbrechlich und wehrlos, es gab niemanden, der seine schützende Hand darüber gehalten hätte, nicht in dieser grausamen Zeit. Bei dem Gedanken an Arthurs baldige Entlassung und seine Rückkehr an die Front wurde ihr schwarz vor Augen, ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen und wollte aus der Brust springen: Niemals wieder, nie im Leben würde sie einen Mann so lieben können wie ihren Arthur, diesen klugen schwarzmeerdeutschen Jungen, ihren geliebten „Russen“.

Sie wusste damals selbst noch nicht, wie recht sie behalten sollte.

Doch zunächst kam Arthurs Entlassung aus dem Lazarett, und anschließend gab es … zwei Wochen Genesungsurlaub!

Arthur erzählte ihr freudestrahlend die Neuigkeit, holte tief Luft und setzte noch eins drauf: „Ich habe Nachricht von meiner Mutter bekommen! Stell dir vor – sie, mein Bruder und meine Schwester sind im Warthegau, in Polen eingetroffen!“

„Wieso in Polen? Ich dachte, die sind irgendwo in der Ukraine oder so …“

„Das weiß ich nicht genau, aber alle sogenannten ‚Volksdeutschen‘ – und das sind unter anderem auch wir – sollten im Endeffekt ‚heim ins Reich‘, so hieß es, als ich noch zu Hause gewesen war. Nun scheint man diese Pläne in die Tat umzusetzen. Egal, wie, wo und wann – ich fahre zu meiner Familie, und du kommst mit! Und keine Bange“, fügte er lachend hinzu, als er Liesels unsicheren, ja angstvollen Blick erhaschte, „meine Mutter macht kein Theater, die ist nicht so, wirst sehen!“ Er fasste das Mädchen um die Taille und wirbelte es in der Luft herum. Dann blieben sie einige Minuten engumschlungen stehen, als wären sie für immer miteinander verschmolzen.

„Die Erlaubnis habe ich schon bekommen.“ Arthurs Stimme war heiser, er riss sich fast mit Gewalt von Liesel los und sagte: „Ich geh meinen Marschbefehl und die gesamten Papiere abholen, und du sieh zu, dass du Urlaub bekommst!“

Die Angst fuhr Liesel in die Knochen: „Darauf wird die Lazarettleitung nicht eingehen, nie im Leben!“, gab sie unter Tränen verzweifelt zu bedenken.

„Dann sagst du ihnen einfach, dass du heiraten wirst und unbedingt noch diese Woche zur Brautschau erscheinen musst!“ Er schickte ihr noch einen Handkuss und eilte davon.

Liesel ließ sich verwirrt auf die Bank fallen. Was meinte ihr Arthur mit „heiraten“? Doch nicht etwa …? Meinte er das wirklich im Ernst?! Das mit dem Heiraten?!

„Fräulein Möller!“, unterbrach die Stimme der Oberschwester ihre wilden, ungeordneten Gedanken. „Da sind Sie ja, Fräulein Möller. Sie werden dringend im OP gebraucht, ein neuer Verwundetentransport ist eingetroffen, es gibt Arbeit …“

Ja, ja, die Arbeit. Liesel stand auf und ging mit gesenktem Kopf und vor Glück strahlendem Gesicht ins Lazarett: Es ist doch wahr geworden, das Märchen, an das sie nicht zu glauben gewagt hatte!

Arthur hatte alles geregelt und eine Heiratserlaubnis bei seiner Dienststelle beantragt: „Jetzt beginnt der Papierkrieg.“ Mit finsterem Gesicht reichte er Liesel die Liste mit den Papieren, die man für die Genehmigung brauchte. „Das kann dauern, so viel Zeit haben wir ja gar nicht!“, meinte er niedergeschlagen, doch plötzlich hellte sich sein Gesicht wieder auf, und er rief fröhlich und lauthals: „Aber du bist meine Verlobte, und als solche stelle ich dich meiner Familie auch vor! Einverstanden?“

Ob sie was …? Das hätte er nun wirklich nicht zu fragen brauchen. Liesel lief nach Hause, packte ihre Reisetasche und eilte, ohne eine Notiz von ihrer Umgebung zu nehmen, zur vereinbarten Stelle am Bahnhof. Nichts konnte sie aufhalten, weder der lautstarke Skandal, den ihr Vater vom Zaun brach, als sie mit dem Verlobungsring am Finger zu Hause aufgetaucht war und der Familie ihre Entscheidung mitgeteilt hatte, Arthur zu heiraten, noch die Tränen der Mutter und das Gezeter der Schwestern. Sie ließ alles hinter sich, weit, weit hinter sich und lief ihrer Zukunft entgegen, der Zukunft mit Arthur, ihrem geliebten „Russen“.

Sie war kein Spaziergang, diese Reise nach Litzmannstadt, das heute Lodz heißt, durch das zerbombte Deutschland, auf die sich Liesel und Arthur frohen Mutes begaben: Die Bomber der Alliierten machten Jagd auf die mit Menschen vollgepferchten Züge und warfen ihre todbringende Last mit Vorliebe auf die großen Verkehrsknotenpunkte ab, sodass die Fahrt zu einem endlosen Aus- und Umsteigen, mit langen Fußmärschen und mehr oder weniger langen Pausen in Luftschutzkellern wurde. Es war eine Reise mit Schrecken ohne Ende, aber die beiden haben sich in den Kriegsjahren schon einigermaßen daran gewöhnt, auch war das Szenario ja immer das gleiche: Dem Auf und Ab der Sirenen folgte unheimliche Stille, in der das leise Summen der Bomber allmählich zu einem bedrohlichen Brummen wurde, und dann der ohrenbetäubende Krach der Bombeneinschläge – einer nach dem anderen und dicht beieinander, in Sekundenabständen. Es kamen immer wieder neue Flieger, und es gingen immer wieder Bomben hoch, es krepierten Granaten und ratterten Maschinenpistolen, aber Arthur und Liesel schlugen sich von einer Station zur anderen durch und siehe da: Nach drei Tagen erreichten sie Litzmannstadt und standen endlich vor Elsa Gerbers Tür – erschöpft, elend, abgespannt, mit Tränen der Erleichterung in den Augen, aber glücklich.

Liesel wurde sofort in die Familie aufgenommen, auch sie schloss die drei auf Anhieb in ihr Herz, was ihr nicht schwerfiel, denn sie waren warmherzig, offen und freundlich, man musste sie einfach liebhaben! „Russisch“ war Arthurs Familie überhaupt nicht, nicht die stattliche Mutter mit ihrer ungewöhnlich aufrechten und stolzen Haltung und dem freundlichen Wesen, nicht Arthurs schlaksiger Bruder Eduard und auch nicht die kleine quirlige Kathi – alle sprachen ein perfektes Deutsch, in dem jedoch noch etwas anderes leise mitschwang – ob es Schwäbisch war? Es erinnerte aber auch ein bisschen an das Hessisch, das man in ihrer Gegend sprach. Und auch sonst stimmte alles: Sie waren gepflegt, schlicht, doch sauber und ordentlich gekleidet. Vor allen Dingen aber waren sie alle so offenherzig, so aufgeschlossen und lieb zu ihr!

Liesel und Arthur zu Ehren bereitete Elsa Gerber ein Festessen zu und lud auch ihre beste Freundin, eine Frau aus ihrem Heimatdorf, ein. Mitten im angeregten Gespräch am Tisch fragte Elsa plötzlich, an Arthur gewandt: „Sag mal, Kind, was haben denn die Soldaten, deine Kameraden, zum Anschlag auf den Führer gesagt?“ Liesel, an derart offene Gespräche nicht gewohnt, schrak zusammen, doch hier schien niemand Anstoß an Elsas Frage genommen zu haben, man war ja unter sich. „Was sie gesagt haben?“ Arthur schaute sich in der Runde um. „Na, was wohl? Ist doch klar: Hätte es den erwischt, wäre dieser unsinnige Krieg zu Ende, und das Volk, wir alle wären frei und glücklich.“ Er machte eine lange Pause und fügte leise hinzu: „Wie es scheint, geht sowieso alles den Bach hinunter … Aber wir lassen uns diesen schönen Abend doch nicht vergällen, denn wir können ein Wunder feiern – unser Wiedersehen. Also, prost!“

Es war in der Tat ein wunderbarer Abend voller Freude und zaghafter Zuversicht, die Familie freute sich über das Wiedersehen, das im Wirrwarr des Krieges schier unmöglich erschien, über dieses unverhoffte Wiedersehen fernab der Heimat.

Nachts um vier klopfte es an der Tür – fordernd, laut, herrisch.

Als Elsa die Tür aufmachte, fiel sie beinahe in Ohnmacht: Vor ihrer Tür standen vier SS-Männer, einer von ihnen brüllte mit zum Hitlergruß erhobenem Arm: „Heil Hitler!“

Es war die geheime Staatspolizei, die Gestapo, der unermüdliche Wächter über die innere Sicherheit des deutschen Reiches, bekannt für ihre Unerbittlichkeit, Unbarmherzigkeit, Rücksichtslosigkeit und Brutalität … Arthur wurde verhaftet und abgeführt. Ihm wurde „Zersetzung der Wehrkraft“ vorgeworfen – „öffentlich gehässige, hetzerische, von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über die NSDAP, den Staat und den Führer“.

Liesel lief sich die Füße wund, klapperte alle in Frage kommenden Ämter und Stellen ab, bis sie endlich herausfand, dass ihr Arthur wegen Hochverrats zum Tod durch Erschießen verurteilt worden war. Mehr war nicht zu erfahren, so sehr sie sich auch abmühte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Heimreise anzutreten – allein, ohne Arthur.

Sie ging ins dunkle Nichts, wo es keine Hoffnung, keine Zuversicht, keine Liebe gab, nur Dunkelheit, Bomben, Angst und Kälte …