Von der Erziehung zur Einfühlung

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Eine Einführung in die fünf Grundbedürfnisse von Kindern

Das Verhalten Ihres Kindes verstehen

„Es gibt kein richtiges oder falsches Verhalten. Die einzige Entscheidung von Bedeutung ist die zwischen Angst und Liebe.“

Gerald Jampolsky, Ph.D.

Oft rufen mich Eltern an, weil das Verhalten ihrer Kinder sie verwirrt. Sie wollen liebevoll darauf eingehen, stellen aber fest, dass ihnen das nicht gelingt. Viele Eltern wissen bereits, wie man liebevoll kommuniziert, doch sie sagen, sie bringen es nicht fertig, ihr Wissen umzusetzen.

Unsere eigenen Gedanken sind es, die uns daran hindern, das Kind zu verstehen und zu wissen, wie wir darauf eingehen sollen. Was ein Kind tut, ist nicht gut oder schlecht; es ist einfach der Ausdruck seelischer und körperlicher Bedürfnisse oder unschuldiges Spiel. Dennoch bewerten wir im Kopf schnell das Verhalten eines Kindes, und wir reagieren nicht auf das Kind, sondern auf unsere eigenen Interpretationen seines Verhaltens.

Auf einen klaren Wunsch nach der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse wie Schlaf, Nahrung oder Wärme einzugehen, erscheint uns leicht. Doch wenn die Bedürfnisse des Kindes seelischer Natur sind oder wenn es sich auf eine Art ausdrückt, die im Widerspruch zu unseren Wünschen steht, erleben wir bei uns selbst vielleicht Reaktionen, die von Verwirrung über Wut bis hin zu Hilflosigkeit und Verzweiflung reichen können. Diese Reaktionen sind nicht authentisch in dem Sinne, dass es sich bei ihnen nicht um ein direktes Eingehen auf das Kind handelt, sondern um alte Gedanken; sie hindern uns daran, das Kind klar zu sehen, wie es in der Gegenwart ist. Diese Gedanken wurzeln in unserer Vergangenheit und werden in die Zukunft projiziert, häufig äußern sie sich in Form von Ängsten hinsichtlich der Entwicklung des Kindes oder unseres Bilds als Eltern.

Anders ausgedrückt, missverstehen wir ein Kind oft, weil wir zu sehr damit beschäftigt sind, auf die automatische Reaktion in unserem Kopf zu hören. Unser Inneres spielt alte Aufzeichnungen ab, und wir als Menschen sind so angelegt, dass wir uns mit dieser inneren Stimme identifizieren. Wir gehorchen der Stimme, die automatisch in unserem Kopf abgespult wird, obwohl sie nicht mit dem, wie wir sein wollen und wie wir wirklich sind, im Einklang steht.

Mit Weisheit und Liebe auf Kinder einzugehen, ist möglich, wenn wir ganz präsent und frei von altem inneren Geschwätz sind. Liebe kann nur in der Gegenwart erfahren werden. Wenn Sie ganz bei Ihrem Kind präsent sein könnten, würden Sie dieses Buch nicht brauchen und auch kein anderes zu dem Thema. Es ist nur unser Inneres, das komplizierte Botschaften sendet. Stellen wir uns vor, ein Kleinkind zieht seinem Babygeschwisterchen ein Spielzeug aus der Hand. Die Mutter hört in ihrem Inneren den Gedanken, das sei gemein oder grob, während das Kleinkind selbst völlig unschuldig handelt. Vielleicht will es spielen, es braucht ein Spielzeug und erkennt noch nicht, dass das Baby auch ein Mensch ist, oder ihm gefällt die Reaktion des Babys, oder es möchte Ihre Aufmerksamkeit. Wenn Sie Ihr Kind wahrnehmen, ohne es in eine Schublade zu stecken oder zu analysieren, können Sie effektiv und friedlich auf es eingehen, wie es in vielen Beispielen in den folgenden fünf Kapiteln gezeigt wird.

Wenn das, was ein Kind tut, bei Ihnen Ärger, Wut oder Schmerz auslöst, könnten Sie versucht sein, das Verhalten zu unterbinden. Doch das funktioniert nicht, und selbst wenn das Verhalten (durch Angst) abgestellt wird, tritt ein anderes an dessen Stelle, welches demselben unerfüllten Bedürfnis entspringt. Ihr Kind ist Ihr Lehrer; wenn Sie sich der Lektion entledigen, indem Sie Ihr Kind zum Aufhören bewegen, verlieren Sie beide. Wenn Sie dagegen den Gedanken, die dazu führen, dass Sie Ihr Kind negieren, auf den Grund gehen, wie Sie es in Kapitel Eins gelernt haben, werden Sie an emotionaler Freiheit gewinnen und in der Lage sein, auf Ihr Kind einzugehen, anstatt bloß auf es zu reagieren. Die Erkenntnis, dass das Kind ein Bedürfnis ausdrückt, kann uns helfen, unsere Zielsetzung zu ändern, so dass es uns nicht mehr darum geht, den Ausdruck des Kindes zu unterbinden, sondern darum, herauszufinden, was es braucht. Wenn wir den Ausdruck des Kindes unterbinden, bleiben wir in unseren alten Verletzungen gefangen und verstehen das Kind nicht. Doch wenn wir erkennen, dass unsere gedanklichen Reaktionen nur alte Aufzeichnungen sind, und deren Gültigkeit und Relevanz prüfen, können wir lernen, wie Prozesse in unserem Inneren ablaufen, und können das Kind dann in der Gegenwart klar sehen.

Mit anderen Worten, das größte Hindernis für unsere Fähigkeit, das Kind zu verstehen, besteht darin, dass wir unsere Gedanken und Ansichten, die automatisch als Reaktion abgespult werden, als Wahrheit oder als nützliche Richtschnur ansehen. Im Lauf der folgenden Kapitel werden Sie lernen, wie Sie Ihre liebevolle Hilfestellung (am Kind orientiert) von Ihren Reaktionen (an Ihnen selbst orientiert) unterscheiden können. Ein klarer Unterschied zeigt sich, wenn man die Folgen betrachtet: Liebevolle Hilfestellung führt zu friedlichen Lösungen und inniger Verbundenheit mit Ihrem Kind, während Reaktionen zu Streit, Ärger und Entfernung voneinander führen.

Oft ist das, was ein Kind tut, einfach die Erfüllung seiner Bedürfnisse, etwa wenn es endlos herumrennt, wie ein Brüllaffe schreit oder das Badezimmer in einen tropischen Regenwald verwandelt. Seine Motivation zu verstehen, macht es leicht, das Kind entweder gewähren zu lassen oder ihm ein Betätigungsfeld zu bieten, das Ihre eigenen Interessen oder das Wohlbefinden anderer nicht beeinträchtigt. Unser inneres Geschwätz, wir könnten die Kontrolle über das Kind verlieren, es könnte sich nicht gut entwickeln, oder andere in unseren Gedanken entwickelte Dramen und Erwartungen behindern unsere Liebe und unser Verständnis für den Ausdruck des Kindes.

Wenn Sie den Blick auf Ihr Kind richten, wird es Ihnen leichter fallen, liebevoll auf es einzugehen. Die fünf emotionalen Grundbedürfnisse, die der Verhaltenssprache eines Kindes zugrunde liegen, sind:

• Liebe

• Freiheit des Selbstausdrucks

• Autonomie und Macht

• Emotionale Sicherheit

• Selbstachtung

Wenn diese Grundbedürfnisse zuverlässig erfüllt werden, bildet diese Erfahrung ein stabiles Fundament, auf dem Kinder ihr Potenzial entfalten und kraftvoll und zufrieden mit sich selbst und mit anderen leben können. Mit anderen Worten, ein Kind, das sich in der Liebe seiner Eltern geborgen fühlt, das sich als wertvoll und autonom empfindet und sich sicher fühlt, ganz es selbst zu sein und sich ganz auszudrücken, wird gedeihen und mit sich selbst und mit Ihnen verbunden bleiben. Dagegen neigen Kinder zu Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten und anderen Problemen, wenn sie sich emotional unsicher, hilflos oder einsam fühlen.

Die folgenden Kapitel bieten einen Einblick in die vielen Verhaltensweisen, mit denen Teenager, Kinder, Kleinkinder und Babys diese fünf Grundbedürfnisse äußern, und eröffnen bereichernde Möglichkeiten, wie man darauf eingehen kann.

Kapitel Zwei

Liebe

Wir gießen eine Blume nicht, wenn sie blüht; wir gießen sie, damit sie blühen kann.

Ein Kind zu lieben ist keine Gewähr dafür, dass sich das Kind als geliebt erfährt. Wenn sich ein Kind der Liebe, die wir ihm gegenüber empfinden, nicht bewusst ist, kann es sich unsicher, hilflos oder unfähig fühlen, sich auszudrücken. Vielleicht flüchtet es sich in destruktive Verhaltensweisen, oder es fügt sich und unterdrückt sein authentisches Ich, um unsere Anerkennung zu bekommen. Die Gründe dafür, dass sich das Kind nicht mit uns verbunden fühlt, können darin bestehen, dass wir unsere Liebe nicht so ausdrücken, dass das Kind sie wahrnimmt, dass es sich als zweitrangig gegenüber einer Schwester oder einem Bruder empfindet oder dass die Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wir gießen eine Blume nicht, wenn sie blüht; wir gießen sie, damit sie blühen kann. Ebenso braucht ein Kind unsere Liebe, in der es sich geborgen fühlt, damit es gedeihen kann. Wenn die Liebe dagegen benutzt wird, um das Kind zu kontrollieren, zweifelt es schließlich an der Liebe. Wenn Ihr Vater Ihnen beispielsweise seine Liebe nur dann zum Ausdruck brachte, wenn Sie sich auf eine bestimmte Weise verhielten oder gute Noten nach Hause brachten, fragten Sie sich vielleicht tief im Inneren, ob er wirklich Sie liebte. Ein Kind ist nicht dazu da, um bewertet und dann durch Liebe belohnt zu werden. Jedes Kind ist von Geburt an wertvoll und verdient Liebe. Liebe ist nur Liebe, wenn sie nicht an Bedingungen geknüpft ist.

Manchmal verwechseln Eltern eine liebevolle Haltung damit, ein Kind alles tun zu lassen, was es will. Niemand kann immer alles tun, was er will. Zum Beispiel können wir nicht immer fahren, wie wir möchten; manchmal halten wir an, obwohl wir lieber weiterfahren würden. Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer schränkt unsere Freiheit ein, schützt sie aber auch. Das ist kein Widerspruch zur Liebe. Die Welt nach jeder Laune des Kindes zurechtzubiegen, kann die natürliche Entwicklung seiner emotionalen Stabilität behindern. Das Kind ist in eine echte Welt und in Ihre soziale Gemeinschaft hineingeboren. Es will dazugehören und Teil des sozialen Netzes von Familie und Freunden sein. Behandeln Sie es gleichwürdig und seien Sie sich gleichzeitig seiner Beschränkungen bewusst. Vielleicht verfügt es noch nicht über die Fähigkeit zu warten oder zu teilen, doch das heißt nicht, dass es Ihr Haus demolieren, jedes Spielzeug bekommen oder Ihnen an den Haaren ziehen kann. Es zu lieben heißt daher auch, liebevoll Möglichkeiten zu finden, wie Sie seine Bedürfnisse befriedigen, empathisch und ermutigend sein können, wenn das Leben ihm nicht jeden Wunsch erfüllt.

 

Die andere Seite der Liebe zu Ihrem Kind gemäß seinen Vorstellungen besteht darin, auch seine einzigartige Weise, seine Liebe auszudrücken, anzunehmen. Für ein Kind ist es wichtig, dass seine Art, Liebe auszudrücken, wahrgenommen wird, selbst wenn es uns Unannehmlichkeiten bereitet. Wir ärgern uns vielleicht, wenn ein Kind eine große Pfütze auf dem Badezimmerboden macht, doch es kann sein, dass es alles aufwischt, um Ihnen seine Liebe zu bekunden. Denken Sie an Pu den Bär, wenn Sie meinen, Ihr Kind handele destruktiv: I-Ahs Haus sah für Pu wie ein Stapel Holz aus, den er dann auseinander nahm, um ein Haus für I-Ah zu bauen.

Sowohl das Geben als auch das Annehmen von Liebe müssen ohne Bedingungen erfolgen. Wenn ein Kind Ansprüche erfüllen muss, um geliebt zu werden, und wenn es seine Art sich auszudrücken sorgfältig abwägen muss, wird es ängstlich und zweifelt an seinem eigenen Wert. Ja, ein solches Streben nach Liebe wird zu einem Wettrennen, zu gefallen oder Erwartungen zu erfüllen, einem Wettrennen, bei dem sich der Betroffene nie zufrieden fühlt, weil er sich stets als wertlos empfindet, wenn er sich nicht beweist oder jemandem gefällt. Das ist die Grundlage eines geringen Selbstwertgefühls. Wir fühlen uns unsicher, wenn wir fürchten, unsere Leistung oder unser Verhalten könnten uns nicht die Akzeptanz einbringen, nach der wir uns so sehnen. Ein intensives Bestreben, Ansprüche zu erfüllen, ist die Folge der Erfahrung, nicht gut genug zu sein und sich nur geliebt zu fühlen, wenn man gut genug ist.

Es ist nicht so, dass unsere Eltern keine Liebe zu uns empfanden, aber für viele wurde die Freiheit, bedingungslos Liebe auszudrücken, von kulturellen Normen und dem nicht bewältigten Schmerz aus ihrer eigenen Kindheit behindert. Viele von ihnen erlebten keine bedingungslose Liebe, obwohl ihre Eltern sie wirklich liebten. Als sie dann selbst Kinder hatten, hatten diese Eltern vielleicht das schmerzliche Gefühl, dass sie unfähig waren zu geben, was sie selbst nicht erlebt hatten. Ja, viele von uns fürchteten, als wir aufwuchsen, dass unsere Eltern uns nicht lieben würden, wenn wir nicht täten, was sie von uns erwarteten – ein Gefühl, das wir nicht an unsere Kinder weitergeben wollen. Nehmen wir stattdessen die Haltung ein, die Mary Haskell in einem Liebesbrief an den Dichter Khalil Gibran zum Ausdruck bringt: „Nichts, was aus dir wird, kann mich enttäuschen; ich habe keine vorgefasste Meinung, was du sein oder tun sollst. Ich habe keinerlei Wunsch, dich vorherzusehen, nur den, dich zu entdecken. Du kannst mich nicht enttäuschen.“1

Wenn Ihr Kind nicht daran zweifelt, dass Sie es lieben und bewundern, ist seine Zufriedenheit der Grund, auf dem ihm seine Bemühungen gelingen können. Es wird in der Lage sein, authentisch in eigener Verantwortung zu agieren, ohne sich zu sorgen, ob es damit Ihre Anerkennung erringen kann, und wenn es Ihnen eine Freude machen will, wird es etwas tun, das einem Bedürfnis von Ihnen entgegenkommt (und nicht seinem eigenen Bedürfnis nach Leistung entspringt); es wird nicht helfen oder Rücksicht zeigen, um sich Ihre Liebe zu verdienen, sondern weil es Sie liebt.

Um zu verstehen, wie man dafür sorgt, dass das Kind die Erfahrung macht, geliebt zu werden, müssen wir vermeiden, Liebe als Handelsware einzusetzen, die wir als Gegenwert für ein Verhalten oder eine Leistung geben oder entziehen können. Liebe ist der Rahmen, in dem Sie Ihr Kind halten, damit es frei sein kann, es selbst zu sein. Seine Entscheidungen und sein Verhalten beeinflussen den Rahmen der Liebe nicht, und Lösungen für Schwierigkeiten werden innerhalb dieses Rahmens gefunden.

Ihr Kind zu lieben, heißt wahrzunehmen, wie großartig es ist, und den Wert seines Blickwinkels zu erkennen. Sie brauchen nicht das Chaos, das es gemacht hat, oder die Art, wie es seiner Schwester wehgetan hat, zu lieben, aber wenn Sie diesen Situationen voller Liebe, aus dem Hier und Jetzt heraus begegnen (und nicht alte Aufzeichnungen abspulen), sehen Sie sein Bedürfnis und sagen: „Oh, das hat bestimmt Spaß gemacht, die Bohnen auf dem ganzen Tisch zu verteilen“, oder: „Ich sehe, wie du dich über deine Schwester ärgerst. Willst du mir zeigen (sagen), wie du dich fühlst?“, während sie es sanft von seiner Schwester wegholen und ihm helfen, produktive Lösungen für sein Dilemma zu finden. Sie lieben seine Entscheidungen und Wege, einfach weil Sie Ihr Kind lieben, was es Ihnen erleichtert, sich in sein Wesen einzufühlen und Lösungen vorzuschlagen. Ihr Inneres zu beruhigen und präsent zu sein, wird Ihnen helfen, auf Ihre Weisheit und Liebe zurückzugreifen. Hören Sie, was Ihr Inneres sagt, erforschen Sie es, wie in Kapitel Eins beschrieben, und tun Sie dann den Schritt in die Gegenwart mit Ihrem Kind.

Liebe ist keine Belohnung

Der Gedanke, gegenüber einem Kind, das sich aggressiv verhält, Liebe zu bekunden, verwirrt Eltern oft; doch wenn Sie das tun, werden Sie entdecken, dass die Aggression Ihres Kindes sein Schrei nach Ihrer Liebe oder Ihrer Aufmerksamkeit für ein unerfülltes Bedürfnis ist. Daher ist Ihre Liebe die beste Antwort auf die Not des Kindes. Es hat keine Kontrolle darüber, wie seine Gefühle aus ihm herausströmen (ähnlich wie ein Erwachsener, der brüllt oder verletzende Worte verwendet).

Das aggressive Kind hat nicht den Eindruck, durch Ihre Liebe belohnt zu werden. Vielmehr fühlt es sich erleichtert, weil Sie es verstehen und sich um es kümmern, was ihm helfen wird, seinen Schmerz aufzulösen. Indem Sie das aggressive Handeln Ihres Kindes beenden und ihm Ihre Liebe und Anteilnahme anbieten, geben Sie ihm Werkzeuge für eine liebevolle und friedliche Beziehung in die Hand. Wenn Kinder sich in der Liebe ihrer Eltern geborgen fühlen, lassen sie sich kaum dazu provozieren, einem anderen wehzutun.

Wir lieben das Kind, nicht seine Leistungen oder sein Verhalten. Liebe ist ein Rahmen, der allem Farbe verleiht. Wenn wir uns über ein Kind ärgern, brauchen wir nur Liebe „anzuwenden“ und können uns dann über es freuen (selbst wenn wir seinen Wunsch abschlagen müssen). Um dazu in der Lage zu sein, müssen Sie Ihre Gedanken erforschen (S von S.A.L.V.E.), damit Sie präsent sein können. Ihre Gedanken sind nicht Sie. Sie kommen und gehen, ohne dass Sie irgendeine Kontrolle darüber hätten. Ihre Gedanken sind nicht die Wahrheit; wenn Sie woanders aufgewachsen wären, hätten Sie andere Gedanken. Finden Sie heraus, ob diese Vorstellungen Ihre Liebe verstärken oder behindern. Später in diesem Kapitel finden Sie Beispiele, wie Sie die Gedanken erforschen können, die der Liebe im Weg stehen.

Sie wissen, dass Sie Ihr Kind lieben; wenn das, was Sie sagen oder tun, nicht liebevoll ist, widersprechen Sie dadurch Ihrem eigenen Ich. Wenn Sie Lösungen im Rahmen der Liebe finden, sind es friedliche Lösungen, die die Bedürfnisse und die Würde von allen achten. Die alte Vorstellung von „liebevoller Härte“ ist bloß ein weiterer Gedanke, der es rechtfertigt, einem Kind wehzutun. Mit Ausnahme der seltenen Fälle, in denen die Sicherheit des Kindes Vorrang hat und Sie mit Gewalt einschreiten müssen (etwa indem Sie Ihr Kind schnell von der Straße wegziehen), tut Liebe nicht weh; sie liebt.

Wären wir als Kinder bedingungslos geliebt worden, bräuchten wir keine Hilfestellung darin, wie wir lieben sollen. Wir würden es dann gar nicht anders kennen, als unsere Kinder ganz und gar und unabhängig von ihrem Verhalten zu lieben. Unser persönlicher Schmerz und unsere Angst sind es, die dem Bemühen, loszulassen und bedingungslos zu lieben, im Weg stehen.

Weil wir selbst die Erfahrung machen mussten, nicht genug zu bekommen, fürchten wir uns davor zu geben. Wir sorgen uns vielleicht, das Kind würde unsere Liebe für selbstverständlich halten und uns ausnutzen. Vielleicht fühlen wir uns verletzlich, wenn wir reichlich geben. Dies ist dieselbe Angst wie die, die Ihre Eltern daran hinderte, ihre Liebe zu Ihnen bedingungslos zum Ausdruck zu bringen. (Wie man dieses und andere Hindernisse für die Liebe bewältigen kann, wird später in diesem Kapitel erörtert.) Jedoch ist es für das Kind am besten, wenn es Ihre Liebe für selbstverständlich hält. Eine solche gesunde Annahme darüber, geliebt zu werden, ist der Boden, auf dem ein Kind gedeihen und zu einem mitfühlenden, liebevollen und fähigen Erwachsenen heranwachsen kann. Statt seine Energie darauf zu verschwenden, Anerkennung zu erlangen, ist das Kind dann frei, seine Fähigkeiten zu nutzen und zu wachsen.

Wie Kinder Liebe erleben

Im Folgenden finden Sie ein paar Ratschläge, wie Sie dafür sorgen können, dass die Liebe im Fluss bleibt und dass Ihr Kind sie wahrnimmt.

Bedürfnisse erfüllen

Wenn sich Ihr Kind sicher genug fühlt, um sich auszudrücken, wenn es die Macht hat, sein Leben selbst zu steuern, und wenn es sich in dem Wissen, dass für seine Bedürfnisse gesorgt wird, geborgen fühlt, kann es sich als wertvoll und geliebt erleben. Wenn Sie also dafür sorgen wollen, dass Ihr Kind Ihre Liebe spürt, ist es am besten, ihm zu vertrauen und seine Bedürfnisse gemäß seinen Vorstellungen zu erfüllen. Unerfüllte Bedürfnisse können dazu führen, dass man sich als der Liebe unwürdig ansieht und unter den schmerzlichen seelischen Folgen einer solchen Wahrnehmung leidet.

Ein Kind drückt seine Bedürfnisse unter anderem dadurch aus, dass es Bitten äußert. Ein Baby schreit und setzt andere körperliche Mitteilungsformen ein; das Kleinkind teilt uns seine Bedürfnisse durch sein Verhalten und durch Worte mit. Gehen Sie auf die Bedürfnisse Ihres jungen Kindes ein und seien Sie bereit, das, was Sie gerade tun, dafür zu unterbrechen. Sagen Sie bereitwillig Ja und tun Sie, was nötig ist, um seine Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Das Geschirr kann warten, seine Seele nicht. Der Anruf kann verschoben werden, die Liebe nicht. Einen zerbrochenen Teller kann man durch einen neuen ersetzen; zerbrochene Seelen können Narben zurückbehalten. Schmutz kann man aufwischen und etwas Beschädigtes kann man reparieren; das Gefühl Ihres Kindes, von Ihnen geliebt zu werden, beruht auch auf seinem Wissen, dass es selbst wichtiger ist als Dinge und Zeitpläne.

Auf Bedürfnisse prompt zu reagieren, heißt nicht, dass Sie Ihrem Kind nie zutrauen könnten zu warten, bis Sie mit irgendetwas fertig sind. Wenn Ihr Kind älter wird und wenn es sich in Ihrer Liebe sicher fühlt, wird es zunehmend die Fähigkeit erlangen, auch auf einige Ihrer Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Haben Sie Vertrauen in diesen Prozess, so dass er authentisch von Ihrem Kind kommen kann. Überlassen Sie ihm die Initiative, dann wissen Sie, dass sich Ihr Kind nicht deshalb so verhält, weil es sich Ihre Liebe verdienen will. Erwarten Sie nicht zu früh Rücksichtnahme auf Ihre Bedürfnisse, denn wenn Ihr Kind Ihre Erwartung spürt, kann es sein, dass es sie zu erfüllen versucht, um Ihre Anerkennung zu erlangen, und wir sind wieder bei Liebe, die von Bedingungen abhängig ist, und bei Manipulation. Erwartungen bewegen Kinder, das zu tun, was bei den Erwachsenen in ihrer Umgebung Gefallen findet. Dies beschädigt ihr Gefühl des Vertrauens und ihr Selbstwertgefühl.

Schützen Sie die Authentizität des Kindes in seiner Beziehung zu ihnen, so dass es, wenn es Rücksicht zeigt, dies aus Liebe und Fürsorge Ihnen gegenüber tut. Wenn ein Kind dagegen etwas nur tut, um Ihre Anerkennung zu bekommen, statt aus einem authentischen Wunsch heraus, empfindet es Unmut und ist sich Ihrer Liebe unsicher. Diese negativen Gefühle behindern die authentische Entwicklung seines Wunsches, für andere zu sorgen.

Sie fragen sich nun vielleicht, was es mit dem verbreiteten Glauben, dass hohe Erwartungen zu hohen Leistungen anspornten, auf sich hat. Bei akademischen oder anderen Leistungen ist es in der Tat so, dass die von einem Lehrer, bei dem das Kind aus freiem Willen heraus lernen möchte, gesetzten Standards den Schüler zu besonderen Leistungen anspornen können. Ein Lehrer und ein Schüler sind als Menschen gleichrangig, jedoch nicht im Bereich des Lernens. Der Schüler hat entschieden, sich vom Lehrer leiten zu lassen, und bezahlt ihn auch oft dafür, Erwartungen zu stellen, die sein Streben zu lernen fördern.

Derartige Erwartungen sind in einer liebevollen Beziehung zwischen Eltern und Kind (oder jeder Liebesbeziehung) jedoch fehl am Platz und schaden sowohl der Beziehung als auch der authentischen Entwicklung der erwarteten Eigenschaft. Ihr Kind hat Sie nicht engagiert, um sein Leben zu lenken; vielmehr haben Sie sich freiwillig angeboten, auf seine Bedürfnisse einzugehen und sein Wachsen liebevoll zu begleiten.

Von einem Kind zu erwarten, sich in einem von Ihnen vorgegebenen Tempo zu entwickeln, steht im Widerspruch dazu, es so zu lieben, wie es ist, da sein Wert dann nach Ihren Standards und Zeitvorgaben gemessen würde. Ihr Kind zu lieben, heißt, sich über seine Wachstumsgeschwindigkeit zu freuen, so dass es sich frei fühlt, bei jedem Schritt des Weges es selbst zu sein, frei von der Sorge, Sie würden es nicht lieben oder schätzen, wenn es Ihren Zeitvorgaben oder Standards nicht entspricht.

 

Konzentrieren Sie sich auf Ihre Liebe zu Ihrem Kind. Statt respektvolles Verhalten zu erwarten, behandeln Sie Ihr Kind mit Respekt; statt von ihm zu erwarten, dass es warten und auf Ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmen soll, seien Sie ihm gegenüber rücksichtsvoll und großzügig. Im Lauf der Zeit wird es diese Eigenschaften selbst übernehmen, weil es Sie liebt und dazugehören will. Das bedeutet nicht, dass Sie es nie um etwas bitten könnten, doch bleiben Sie dabei im Rahmen dessen, wozu es wahrscheinlich auch in der Lage ist. Sie können es manchmal bitten, ruhig zu sein, zu warten oder Ihnen etwas zu bringen, aber respektieren Sie seine Entscheidung, ob sie Ja oder Nein lautet. Allmählich wird es lernen, neben seinen Wünschen auch die anderer Menschen zu beachten.

Wie bereits erläutert, bedeuten Liebe und Eingehen auf das Kind nicht, dass das Kind Schaden anrichten oder alles tun dürfte, was es will (was niemand darf). Es bedeutet nur, dass Sie dafür verantwortlich sind, für das Kind zu sorgen und ihm Respekt entgegenzubringen, so dass es in seinem eigenen Tempo aufwachsen kann.

Unsere Vorstellungen, wie sich ein Kind verhalten und was es leisten sollte, abzulegen, kann schwierig sein. Wenn das Baby geboren ist, malen wir uns automatisch aus, dass es ein „pflegeleichtes“ und „braves“ Kind sein wird, das in unserem positiven Bild von Freundlichkeit und Erfolg aufwachsen wird. Beim Betrachten der Kultur um uns herum werden wir leicht im Terminplan der Erwartungen gefangen: Unser Kind sollte in einem bestimmten Alter bei der Hausarbeit helfen, „bitte“ und „danke“ sagen, verantwortungsbewusst, ordentlich und ruhig sein. Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass Sie bisweilen sogar Ihren eigenen Wert am Verhalten Ihres Kindes messen, vor allem in der Öffentlichkeit. Benimmt es sich gut? Bin ich eine gute Mutter oder ein guter Vater?

Bei einer Telefonberatung erzählte mir Amandas Mutter Kara von ihrer Verlegenheit angesichts ihrer Tochter. Durch die Erforschung ihrer Gedanken lernte sie, ihr Kind so, wie es ist, zu schätzen.

Als Baby war Amanda süß und pflegeleicht, lächelte viel, ließ sich gerne überall hin mitnehmen und fügte sich gut ein.

„Ich war sicher, dass sie sich zu einem kooperativen, aufgeweckten Mädchen entwickeln würde. Jetzt ist sie sieben, und seit sie ungefähr drei ist, gehe ich mit ihr kaum noch andere Leute und Kinder besuchen, weil mir das so peinlich ist. Früher hat sie geschubst und anderen Sachen weggenommen. Jetzt kommandiert sie andere Kinder herum und räumt nach dem Spielen nicht auf. Wenn sie reinkommt, ist es, als fegte ein Tornado durch das Haus.“

Um ihr beim Erforschen der Gedanken, die ihrem Bild von ihrer Tochter im Weg standen, zu helfen, sagte ich: „Erzähl mir mehr von deinen Erwartungen.“

„Ich wünsche mir, dass sie merkt, was für ein Chaos sie veranstaltet, dass sie es aufräumt und gleichberechtigt mit anderen Kindern spielt“, sagte Kara. „Glaubst du, sie kann das Mädchen sein, das du dir vorstellst?“, fragte ich. (An dieser Stelle fand sie heraus, ob ihre Gedanken relevant und zutreffend waren.)

Kara seufzte: „Nein, sie ist im Moment nicht der Typ dafür. “

Ich schwieg, und Kara dachte über ihre eigene simple Erkenntnis nach. „Ich liebe Amanda so sehr. Aber ich glaube, ich liebe sie so, wie ich sie gern hätte, nicht so, wie sie ist.“ Kara brach in Tränen aus. „Ich will sie so lieben, wie sie ist, aber ich kann es nicht.“

„Was dir im Weg steht, ist nur dein eigener Gedanke. Kannst du dir vorstellen, ohne die Erwartung, dass sie nett und ordentlich sein und gleichberechtigt mit anderen umgehen sollte, mit ihr zusammen zu sein?“

„Ja, o ja, ich würde sie so lieben, wie sie ist. Ich liebe sie doch so sehr. “ „Was fürchtest du zu verlieren, wenn du dich über ihr Wesen freuen würdest?“

„Die Leute würden mich für eine schlechte Mutter halten, weil ich keine Kontrolle über sie habe.“ (Das ist ein weiterer schmerzlicher Gedanke, über den sich Kara gerade klar wurde.) „Oh, das ist ja furchtbar. Ich hindere sie daran, unter Leute zu kommen, damit ich gut dastehe. Wie schrecklich.“ Kara schluchzte.

„Ja“, sagte ich. „Siehst du, wie das, was du von ihr erwartest, eine Lektion für dich selbst sein könnte und wie es dir bei deiner Beziehung zu Amanda helfen würde, wenn du auf deine eigenen Lehren hören würdest?“ „Ich weiß nicht. Ich will, dass sie ihr Chaos aufräumt. Ich glaube, ich muss meine eigenen chaotischen Gedanken über sie aufräumen. Außerdem habe ich einiges an materiellem Chaos, das ich aufräumen sollte.“ „ Was ist mit deinem Wunsch, sie sollte gleichberechtigt mit anderen umgehen?“

„Oh, natürlich, ich würde sie gerne als gleichwertig behandeln. Das tue ich nicht.“

„Und“, fügte ich hinzu, „behandele dich selbst auch als gleichwertig zu anderen Eltern und Menschen. Du musst nicht besser als irgendwer sonst sein und eine engelsgleiche, vollkommene Tochter haben.“

„Ja, das begreife ich jetzt auch.“ Kara fing zu lachen an. „Man kann das alles auch auf mich beziehen. Weißt du, manchmal gelingt es mir auch, sie einfach so sein zu lassen, wie sie will. Wenn wir auf den Spielplatz gehen, ist sie immer so glücklich und aktiv. Sie turnt auch gerne, und sie kann stundenlang mit Wasserfarben oder mit Knete spielen. Ich glaube, sie hat auch Spaß am Backen. Aber was ist damit, dass sie andere Kinder herumkommandiert?“

„Was ist damit?“, fragte ich. „Ist dein Gedanke, dass sie andere nicht herumkommandieren sollte, nützlich oder von Belang?“

„Nein. Sie kommandiert gerne herum. Wenn ich nicht diesen Gedanken hätte, dass sie das nicht tun sollte, würde ich sie wegen ihrer Führungsqualitäten bewundern. Aber mir macht das Angst, weil ich selbst so ein schüchterner Mensch bin.“

„Amanda ist also diejenige, die die Dinge in die Hand nimmt. Sie ist verantwortlich für den größeren Zusammenhang. Wir brauchen Führungspersönlichkeiten. Du hast in ihr eine großartige Lehrerin.“

Am Ende des Beratungsgesprächs kamen Amanda und ihr Vater (Karas Mann) zur Tür herein. Kara sprang auf und umarmte Amanda lange, während ihr Tränen die Wangen hinabliefen. „Ich wusste gar nicht, wie lieb ich dich eigentlich habe, Amanda. Ich hab dich lieb, weil du du bist.“ In den folgenden Wochen beobachtete Kara die Führungsrolle ihrer Tochter und bot ihr Gelegenheiten, ein unschädliches Chaos zu schaffen, zu bauen, zu turnen, zu schwimmen, auf einem Trampolin zu springen und ihren Überschwang anderweitig auszuleben.

„Ich dachte, das wäre furchtbar schwer“, sagte Kara, „aber ich bewundere nicht nur, was Amanda für ein Mensch ist, sondern es sind auch die meisten Probleme verschwunden, die wir früher hatten. Manchmal will sie sogar ihr Chaos nach dem Malen und Kneten aufräumen, weil es ihre Sachen sind und sie sie nicht noch mal benutzen kann, wenn sie unaufgeräumt eintrocknen. Sie ist zufrieden mit sich selbst und mit mir. Als wir ihre Cousinen besuchten, passierte etwas Erstaunliches. Onkel Dave kam herein und sagte, sie sollten die Spielsachen aufräumen, woraufhin Amanda den Mädchen sagte, was zu tun war, und unter ihrer Leitung wurden die Spielsachen friedlich weggeräumt.“

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