Von der Erziehung zur Einfühlung

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V – Äußern Sie Verständnis und Wertschätzung für die Gefühle Ihres Kindes und die Bedürfnisse, die es ausdrückt, ohne zu dramatisieren und ohne Ihre eigene Wahrnehmung hinzuzufügen. Lauschen und Verständnis sind die Zutaten von Liebe (lv). Wenn Ihnen dies gelingt, schaffen Sie eine Verbindung zu Ihrem Kind und fühlen sich präsent und sich selbst gegenüber authentisch.

E – Ermutigen, bestärken Sie Ihr Kind, seinen eigenen Kummer zu bewältigen, indem Sie ihm freie Bahn lassen und ihm vertrauen. Zeigen Sie Zuversicht, dass es sich zu helfen wissen wird, indem Sie sich nicht aufregen und nicht versuchen, alles schnell in Ordnung zu bringen. Kinder bringen selbst ihre Bitten, Lösungen und Ideen vor, wenn sie wissen, dass man ihnen vertraut, und wenn sie sich fähig und frei von elterlichen Erwartungen oder Emotionen fühlen. Emotionen behindern die Fähigkeit, kraftvoll zu handeln. Sobald diese Gefühle ausgedrückt sind, gewinnt das Kind wieder Freiheit und Durchblick und lässt entweder seinen Wunsch fallen oder entwickelt eine Lösung. Auf schnelle, natürliche Weise wird Ihr Kind das tun, was Sie bei Ihrer Selbsterforschung getan haben.

Der neunjährige Clint weinte, weil seine Schwester Joy das Monopolyspiel mit ihm nicht zu Ende spielen wollte. „Ich will das Spiel zu Ende spielen. Ich war so nah dran zu gewinnen!“, schrie er.

Ella, die Mutter der beiden, hätte beinahe „Gerechtigkeit“ durchgesetzt, doch dann nahm sie sich Zeit, ihre persönliche Reaktion vom Streit ihrer Kinder abzusondern und ein stummes Selbstgespräch in ihrem Kopf zu führen (S von S.A.L. V.E.). Sie stellte sich vor, wie sie Joy anschreien, sie als rücksichtslos und gemein bezeichnen und ihr befehlen würde, das Spiel zu Ende zu spielen. Dann prüfte sie diese Gedanken und wurde sich darüber klar, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen; ihre Tochter war überhaupt nicht gemein, und ihre Fähigkeit, sich zu behaupten, war etwas Gutes. Daraufhin konnte sie den Gedanken hinter sich lassen und die nächsten Schritte tun: Clint (A) Aufmerksamkeit zu schenken und (L) zu lauschen, ihm zuzuhören.

„Du warst also schon ganz aufgeregt, weil du die Chance zu gewinnen hattest. Bist du enttäuscht, dass du das Spiel nicht zu Ende spielen konntest?“ „Ich bin stinksauer. Ich will das Spiel zu Ende spielen“, beharrte Clint. „Ich weiß, du willst das Spiel zu Ende spielen, aber Joy will nicht.“

„Ich war so nah dran zu gewinnen, und deshalb hat sie aufgehört“, sagte Clint.

Ella bekundete weiterhin Verständnis und Wertschätzung und lauschte ihrem Sohn, änderte jedoch nicht die Realität für Clint. Sie ermutigte, bestärkte ihn, indem sie sich nicht einmischte und seine Realität nicht „in Ordnung brachte“. Damit drückte sie aus: „Ich höre dich, ich sehe kein Problem, und ich weiß, dass du damit umgehen kannst.“

Nach einer Weile war er fertig und fing über etwas anderes zu sprechen an. Das, was Clint zu sagen hatte, wurde gehört. Er fühlte sich mit seiner Mutter, die Verständnis und Wertschätzung für seine Gefühle bekundete und die Fakten gemäß seiner Wahrnehmung wiederholte, verbunden. Sie fügte keine Dramatik hinzu; sie mischte ihre eigenen Gefühle oder Ansichten nicht dazu. Ihr Vertrauen und ihre verlässliche Gegenwart ermöglichten es Clint, nach vorne zu blicken.

Junge Kinder und das Sprechen über Gefühle

Wenn man sagt, dass jemand traurig, verärgert oder enttäuscht ist, versteht das ein jüngeres Kind vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Junge Kinder fühlen sich am ehesten bestätigt, wenn Tatsachen wahrgenommen werden. Bei einer Telefonberatung schilderte mir eine Mutter die Erfahrung, die sie mit ihrer Tochter im Schwimmbad gemacht hatte.

Orna (5) kam aus dem Schwimmbecken und weinte verzweifelt, weil sie länger dableiben wollte. Das Schwimmbad würde gleich schließen. Ihre Mutter Donna zog sie an, um das Gebäude zu verlassen. Während sie Orna anzog, spiegelte Donna die Erfahrung ihres Kindes, indem sie die Tatsachen beschrieb:

„Du spielst so gern im Wasser. Wolltest du noch viel länger spielen?“ Orna antwortete: „Ja, ich wollte noch mehr hüpfen.“

Donna fuhr fort: „Ich weiß. Du wolltest noch nicht aus dem Wasser raus, und man hat uns gesagt, wir müssten raus.“

Orna hörte auf zu weinen und sagte: „Ich bin so gern im Schwimmbad.“ „Ja“, sagte Donna, „und du magst es nicht, wenn du aus dem Wasser raus musst.“

„Mama“, erwiderte eine ruhige Orna, „es macht mir jetzt nichts mehr aus. Ich will nach Hause gehen.“

Donna beschrieb nur die Tatsachen, und Orna konnte problemlos einen Bezug dazu herstellen und fühlte sich bei ihrer Mutter zufrieden. Von sich aus klammern sich Kinder nicht an schmerzlichen Gefühlen fest. Sie blicken kraftvoll nach vorne, weil sie keinen Berg von Geschichten um jedes Gefühl herum haben. Vermeiden Sie es, ihnen beizubringen, sich in Selbstmitleid zu ergehen, wie Erwachsene es oft tun. Erwachsene hören manchmal gar nicht damit auf und versuchen, ein Schuldgefühl beim anderen zu erzeugen, oder sie geben sogar der Kultur oder der Regierung die Schuld. Derartige Gewohnheiten wollen Sie Ihrem Kind sicher nicht beibringen. Bekunden Sie Wertschätzung, erwarten Sie jedoch von Ihrem Kind, den Blick nach vorne zu wenden und seine Gefühle nicht allzu ernst zu nehmen; und lernen Sie von Ihrem Kind. Emotionen sind etwas, was man herauslassen kann, wie Schweiß oder Stuhlgang. Emotionen müssen wahrgenommen werden, damit sie einem nicht im Weg stehen, genau wie Schweiß abgewaschen werden muss. Sobald das Bedürfnis des Kindes, verstanden zu werden, befriedigt ist, wird es den Blick nach vorne wenden. Seine Fähigkeit, nach vorne zu blicken, wird auch verhindern, dass es sich an der Episode festklammert und eine Geschichte daraus macht, die seine Einstellung für den Rest seines Lebens negativ beeinflusst.

Wenn das Bekunden von Wertschätzung zur Beleidigung wird

Manchmal kann das Bekunden von Wertschätzung in den Augen des Kindes seine Privatsphäre und Autonomie verletzen. Ein Kind kann Ihre anteilnehmenden Worte als Beleidigung auffassen, wenn es wegen etwas, das Sie getan oder gesagt haben, verärgert oder unglücklich ist; auch kann es sein, dass ein Kind das Bekunden von Wertschätzung unabhängig vom Grund seines Ärgers ablehnt. Ihr Kind braucht die Freiheit zu entscheiden, ob es seine Gefühle offen legen will oder nicht.

Vielleicht will es gar nicht, dass man erwähnt, dass es wütend oder traurig ist. Im Wesentlichen sagt das Kind: „Wenn ich unglücklich bin, lass mich, aber sag mir nicht, dass du mich siehst.“ Wenn ein Kind ein solches Bedürfnis nach stummem Zuhören hat, ist ihm wahrscheinlich jedes Wort, das wir sagen, unangenehm:

Die fünfjährige Amber baut einen Turm. Der Turm fällt um, und sie ärgert sich. Da kommt ihre Großmutter ins Zimmer und spiegelt: „Oh, ärgerst du dich? Wünschst du, der Turm wäre nicht umgefallen?“

Amber wirft die noch stehenden Bauklötze um und schreit: „Sag nichts!!!“ Die Großmutter sitzt still da und erkennt ihren Fehler.

Amber wirft sich auf den Boden und schiebt die Bauklötze wütend hin und her. Sie brüllt: „Blöde Bauklötze, blöder Fußboden, blöde Amber!“ Sie wirft noch mehr Bauklötze durch das ganze Zimmer. Die Großmutter schweigt, ist aber präsent, und Amber reagiert auf ihre Aufmerksamkeit, indem sie sich ganz ausdrückt. Als sie fertig ist, steht sie auf, sammelt die Bauklötze ein und baut ruhig einen Turm.

Schweigen heißt nicht Gleichgültigkeit. Schenken Sie dem Kind Ihre volle Aufmerksamkeit, aber erwähnen Sie es nicht. Es ist dem Kind auch unangenehm, wenn seine Gefühle erwähnt werden, wenn es verlegen ist oder Angst hat. In solchen Fällen können Sie entweder nichts sagen und aufmerksam bleiben oder das Kind bestärken, indem Sie Ihre eigene menschliche Schwäche betonen und dem Kind von einer ähnlich peinlichen Episode in ihrem Leben erzählen, wie es mein Klient Adi tat:

Während Adi im Garten arbeitete, ging seine vierjährige Tochter Ruthi nach drinnen und goss sich ein Glas Milch ein. Dabei verschüttete sie etwas Milch auf den Tisch und den Küchenfußboden. Als Adi ins Haus kam und die verschüttete Milch sah, wäre er beinahe herausgeplatzt: „Warum hast du mich nicht gefragt, ob ich dir helfen kann? Du weißt doch, dass du das nicht alleine kannst.“ Doch stattdessen atmete er tief ein; hörte diese Worte stumm in seinem Inneren (S von S.A.L.V.E.) und merkte, dass sie keinen Nutzen für ihn hatten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit (A) Ruthi zu. Ihm wurde klar, dass sie sich bemüht hatte, ihn nicht bei seiner Arbeit zu stören, und sich deshalb ohne seine Hilfe ein Glas Milch eingegossen hatte. Er kam näher auf sie zu und sagte fröhlich: „Wie ich sehe, hast du dir ganz allein Milch eingegossen.“

Ruthi antwortete: „Ja, und etwas ist daneben gegangen.“ Sie sah mit fragendem Blick zu ihrem Vater auf.

„Das ist mir neulich passiert, als ich bei Opa war“, sagte er. „Ich hab Saft verschüttet. Ich kam mir ganz ungeschickt vor, aber Opa hat gelächelt und mir ein Tuch gegeben. Es ist ganz leicht aufzuwischen.“ Ruthi lief aus der Küche und holte ein Tuch, das sie ihrem Vater gab. Es war nicht die Art Tuch, die Adi benutzt hätte, um den Boden auf zu wischen, doch er nahm das Tuch lächelnd an und wischte die Milch auf.

Indem er Ruthis Leistung, sich selbst ein Glas Milch einzugießen, wahrnahm und würdigte, behandelte Adi sie genauso, wie er einen Gast behandelt hätte, der versehentlich Milch verschüttet hätte. Adi gab seine eigene Ungeschicklichkeit zu und bekundete Ruthi dadurch seine Wertschätzung, ohne sie mit Worten, die ihre Gefühle bloßlegen, in Verlegenheit zu bringen. Als sie erkannte, dass sogar ihr Vater manchmal ungeschickt war, fühlte sie sich wieder wohl. Als sie das „falsche“ Tuch brachte, kritisierte Adi sie nicht und nahm auch kein anderes Tuch. In diesem Beispiel entstand durch ein Missgeschick eine tiefere Bindung zwischen Vater und Tochter, und die Selbstachtung und Würde des Kindes blieben intakt.

 

Gefühle der Wut, Worte der Liebe

Manchmal empfinden wir trotz unserer Absicht, zu lieben und freundlich zu sein, gegenüber einem Kind Ärger oder sogar Zorn. Der Auslöser muss nichts Großes sein. Wir alle haben unsere Erinnerungen an Schmerz und Scham, die an die Oberfläche kommen, wenn wir mit auch nur vage ähnlichen Situationen konfrontiert werden.

Wir erinnern uns nicht unbedingt an irgendetwas, aber die mit diesen Erfahrungen assoziierten Gefühle überfluten unser Inneres. Die S.A.L.V.E.-Formel (stummes Selbstgespräch, Aufmerksamkeit auf das Kind richten, Lauschen, Verständnis und Wertschätzung, Ermutigen) mit besonderer Betonung auf dem ersten Schritt kann hier hilfreich sein.

Ärger und heftige Reaktionen verdecken oft andere schmerzliche Gefühle. Häufig sind das Gefühle, derer wir uns aufgrund von Angst und Unbehagen, die in unseren früheren Erfahrungen wurzeln, nicht bewusst sind. Wenn es für Sie als Kind nicht sicher war, zu weinen, Aufmerksamkeit zu verlangen und sich ganz auszudrücken, haben Sie diese Gefühle wahrscheinlich schon vor langer Zeit unterdrückt. Was in der Gegenwart passiert, läuft automatisch ab: Die schmerzlichen Gefühle werden sofort „weggeschoben“, und Ärger tritt in den Vordergrund, weil er als akzeptabler gilt und man sich weniger verletzlich fühlt, als wenn man seine Traurigkeit oder seine Tränen zeigt.

Doch Ärger gibt uns nicht die Befreiung, die wir brauchen, weil er mit einer Schuldzuweisung einhergeht. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit von uns weg nach außen lenken (Schuldzuweisung), verhindert das, dass wir unsere Gefühle der Verletzlichkeit wahrnehmen. Wenn wir den Gedanken, die unseren Ärger auslösen, nicht auf den Grund gehen, bleiben wir unvollständig und oft noch ärgerlicher und klammern uns mehr an der schmerzlichen Position des Opfers (Schuldzuweisung) fest.

Bevor Sie als Reaktion auf ein unerwartetes Verhalten Ihres Kindes handeln oder etwas sagen, denken Sie nach (Selbstgespräch). Sprechen Sie die ersten Worte, die Ihnen in den Sinn kommen, nicht aus. Dies sind die Worte, die Ihr Kind wahrscheinlich verletzen und das Problem verschärfen würden; zwar werden diese Worte nicht verschwinden, aber Sie können lernen, sie nur als Gedanken und nicht als Wahrheit anzusehen. Bei diesem Prozess können Sie sich sogar von Ihrem Kind helfen lassen. Bitten Sie es, Sie daran zu erinnern: „Nimm dir Zeit, Mama“ oder „Denk einen Moment nach, Papa.“ Ihrem Kleinkind können Sie eine „Flagge“ geben, die es zur Erinnerung schwenken kann. Solche vereinbarten Hinweise können Ihnen signalisieren, sich eine „Auszeit“ für sich selbst zu nehmen, um Ihr inneres Selbstgespräch vom Problem Ihres Kindes und von Ihrem authentischen Selbst zu trennen. Kümmern Sie sich zuerst um Ihre Gefühle, dann können Sie die Freiheit erlangen, sich auf das Kind zu konzentrieren.

Das Kind ist der Auslöser, nicht die Ursache Ihres Ärgers; es ist nicht verantwortlich für Ihre Gefühle. Es hat etwas getan, woraufhin sich ein altes Programm in Ihrem inneren Computer geöffnet hat und verlangt, dass Sie tun, was es sagt. Diese Reaktion läuft automatisch ab, ob Sie wollen oder nicht; aber Sie können entscheiden, ob Sie dem Programm Folge leisten wollen oder nicht. Sie können Ihr eigener innerer Zuhörer sein und innerlich Dampf ablassen, damit Sie sich frei von diesen alten Reaktionen um Ihr Kind kümmern können. Wenn Sie sich etwas Zeit genommen haben, um Ihr Selbstgespräch von der Situation zu trennen, und wenn Ihnen klar geworden ist, dass die Gedanken, die Ihren Ärger auslösen, nicht wirklich dem Menschen entsprechen, der Sie sind, und nichts mit der Gegenwart zu tun haben, gelingt es Ihnen vielleicht, sie einfach wahrzunehmen, so stehen zu lassen und Ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kind zu schenken. Später können Sie, wenn Sie wollen, einen Zuhörer finden, einen Freund oder einen Therapeuten, um Ihre eigene Gefühlserforschung abzuschließen. Sie können es auch selbst tun. Schreiben Sie jeden Gedanken auf, der bei Ihnen Ärger erzeugt, und prüfen Sie seine Gültigkeit für Sie, welche Gefühle und welches Verhalten der Gedanke bei Ihnen auslöst und wie Sie ohne diesen Gedanken reagieren würden. Überlegen Sie dann, ob vieles von dem, was Sie von Ihrem Kind erwarten oder wie Sie es bewerten, nicht ebenso nützlich für Ihr eigenes inneres Wachstum sein könnte.

Seien Sie liebevoll zu sich selbst. Das Wichtigste ist, keine Urteile über Ihre Gedanken oder Fantasien zu treffen; sie sind kein authentischer Ausdruck des Menschen, der Sie sind, und der Mutter oder des Vaters, die oder der Sie sein wollen. Nehmen Sie sich etwa eine Minute Zeit, um sich in Ihrem Inneren ganz auszudrücken. Sie können sich vorstellen, wie Sie schreien, schlagen, schimpfen, drohen, strafen oder was auch immer tun würden, das Ihnen in den Sinn kommt. Lassen Sie Ihren inneren „Film“ laufen, bis er zu Ende ist und Sie zufrieden sind, und fragen Sie sich dann, ob er für die Gegenwart wirklich relevant ist und dem Menschen entspricht, der Sie sind. Sie werden froh sein, sich nicht nach diesem Film gerichtet zu haben.

Wenn Sie sich die Freiheit und Liebe gönnen, alles ungehindert durch Ihren Kopf strömen zu lassen, nimmt das nur wenig Zeit in Anspruch, gibt Ihnen aber Ihre Kraft und Ihre Liebe zurück. Sie beobachten Ihre Gedanken nur und betrachten den Inhalt Ihres Ärgers. Wenn Sie noch eine Minute Zeit haben, schreiben Sie diese Gedanken auf und prüfen ihre Gültigkeit für die momentane Situation. Nachdem Sie sich durch diesen „Wahrheitsprozess“ hindurch gearbeitet haben, werden Sie sich viel besser in der Lage fühlen, sich auf die Gegenwart und die unschuldige Absicht Ihres Kindes zu konzentrieren. Eine Mutter, die auf meinen Rat hörte, erzählte mir die folgende Geschichte:

Während Wendy ein Nickerchen hielt, beschloss der neunjährige Emory, sie zu überraschen, indem er die Lasagne zubereitete, die sie an dem Abend zu einer Party mitnehmen wollten. Als Wendy aufwachte und in die Küche kam, um die Lasagne zuzubereiten, fand sie Emory dort vor: Er war ganz mit Tomatensoße beschmiert, stand mitten in einer Tomatenpfütze, und Tofu und Käse waren auf der ganzen Arbeitsplatte verteilt. Eine Backform war mit Zutaten gefüllt, die wie Lasagne aussehen sollten, für Wendy jedoch eher wie Kartoffelpüree in Tomatensuppe aussahen. Wendy war kurz davor zu explodieren. Sie hatte keine Zeit, um vor der Party noch das ganze Chaos zu beseitigen und eine richtige Lasagne zu machen. Sie atmete tief durch und dachte an S.A.L.V.E. Im Geiste sah sie, wie sie schrie und fluchte, Emory aus der Küche zog und ihm verbot, zu der Party zu gehen. Nachdem die Worte und Fantasien der Wut unausgesprochen durch ihr Inneres geströmt waren, wandte sie ihre Aufmerksamkeit Emory zu. Bevor sie den Mund aufmachen konnte, sagte Emory: „Mama, ich hab die Lasagne gemacht. Wir müssen sie nur noch backen und hier aufräumen. Du kannst noch ein bisschen schlafen gehen.“

Wendy, die jetzt die liebevolle Absicht des Kindes erkannte, lächelte und sagte: „Danke. Was für eine Überraschung. Ich fühl mich ausgeschlafen. Kann ich dir beim Aufräumen helfen?“

Emory nahm die Hilfe seiner Mutter an. Wendy fiel auf, dass die Lasagne jetzt nicht mehr so schlimm aussah wie vorher, als sie wütend gewesen war. Emory war stolz auf sich, und Wendy lernte eine wichtige Lektion. Mutter und Sohn hatten einen wunderbaren Abend zusammen.

Wendy gelang es nicht nur, ihre Aufmerksamkeit zu verlagern und das, was ihr Sohn getan hatte, erfreut wahrzunehmen, sondern durch ihr Schweigen gab sie ihm auch die Möglichkeit, die ersten Worte zu sagen, die alles lösten. Wenn wir uns ärgern, ziehen wir oft voreilig Schlüsse, ohne die Tatsachen und Absichten hinter dem Verhalten des Kindes zu sehen. Zu warten, bis ein Kind das Gespräch beginnt, kann dem Ärger den Wind aus den Segeln nehmen und Klarheit in die Situation bringen.

Schwierige Situationen liebevoll zu bewältigen, ist leichter, wenn wir uns vor Augen führen, dass es genauso lange dauert, das Chaos eines Kindes aufzuräumen, wenn wir wütend sind, wie wenn wir uns über es freuen. Wenn wir dem Kind die Worte ersparen, die Schuldgefühl, Groll und Scham hervorrufen, fühlt es sich wertvoll, geschätzt und gewürdigt. Diese Gefühle, die uns miteinander verbinden, machen unsere Zeit mit Kindern so wertvoll für sie und für uns.

Wenn Sie Ihr Kind um etwas bitten

Manchmal möchten wir ein Kind um etwas bitten – nach dem Duschen das Handtuch aufzuhängen, ein Telefongespräch zu beenden, woanders Krach zu machen oder schmutzige Stiefel auszuziehen, bevor es ins Haus kommt. Die Worte, die wir in diesen Situationen verwenden, können ein Kind beschämen und ihm ein schlechtes Gewissen machen, oder sie können Rücksichtnahme und gegenseitige Fürsorge bewirken. Bis vor kurzem wurden Schuldzuweisung und Beschämung als Werkzeuge der Kontrolle, die keine Fürsorge bewirkten, sondern durch Angst Gefügigkeit erzeugten, eingesetzt. Typische Sätze wie „Wie oft muss ich dir noch sagen…?“, „Was ist los mit dir?“, „Du hast alles verdorben“, „Wenn du nicht… bekommst du was zu hören!“ klingen vielen Leuten noch aus ihrer Jugend in den Ohren.

Bisweilen war die Kontrolle subtiler, und wir fühlten uns verpflichtet, ohne zu wissen warum, etwa wenn Eltern sagten: „Jamie ist so ein liebes Mädchen; ich weiß, dass sie dir helfen wird.“ Wir wurden gelobt, wenn wir die Wünsche unserer Eltern erfüllten, und ignoriert, wenn wir es nicht taten. Uns wurde gesagt, wenn wir unsere Eltern liebten, müssten wir tun, was sie sagten. Wir wurden mit Essen, Lob, Liebe, Privilegien oder Geschenken bestochen und mit einer Vielzahl von Maßnahmen manipuliert. Diese Methoden, uns gefügig zu machen, waren ebenso Instrumente der Kontrolle, nur auf verstecktere Art. Kinder, die auf diese Weise kontrolliert wurden, waren oft verwirrt von dem, das einerseits so sanft und liebevoll wirkte, bei dem sie sich andererseits aber klein, beschämt und nicht authentisch fühlten.

Nachdem Kinder viele Generationen lang so aufwuchsen, dass sie aus Angst heraus das taten, was ihre Eltern sagten, machen wir uns nun endlich dazu auf, Kinder mit derselben Würde, wie wir sie uns für uns selbst wünschen, zu behandeln. Sich von dem alten Konzept, dass man von einem Kind erwartet, das zu tun, was Mutter oder Vater sagen, zu verabschieden, ist nicht einfach. Es verlangt Engagement, ständige Übung und Selbstkontrolle. Vielleicht ist es für Sie am ehesten eine Hilfe, sich eine Minute Zeit zu nehmen, bevor Sie Ihr Kind um etwas bitten, und sich selbst zu fragen: „Wie würde ich (oder würde ich überhaupt) einen erwachsenen Freund darum bitten?“

Nach dem neuen Paradigma sind Kinder nicht verpflichtet, unsere Wünsche zu erfüllen. Sie sind frei, gemäß ihrer eigenen Entscheidung auf unsere Bitten zu reagieren, und wir tun gut daran, ihre Entscheidungen zu respektieren und Rücksicht auf ihre Grenzen und Ambitionen zu nehmen. Es ist unsere Aufgabe, mit Kindern so zu kommunizieren, wie wir es mit unseren erwachsenen Freunden tun würden, ohne zu verstehen zu geben, dass wir von ihnen erwarten zu tun, worum wir sie bitten. Wenn unsere Bitte nicht erfüllt wird, sollten wir das entweder respektvoll akzeptieren oder Verständnis für die Wahl des Kindes zeigen und Möglichkeiten erörtern, wie die Bedürfnisse von allen erfüllt werden können, oder eine Lösung finden, mit der sowohl das Kind als auch wir glücklich sein können.

Bringen Sie Ihre Bitten authentisch vor; tun Sie nicht so, als sollte etwas dem Kind zuliebe geschehen, wenn es in Wirklichkeit Ihnen zuliebe geschehen soll. So sind zum Beispiel Sie es, die sich ein ordentliches Zimmer wünschen, nicht das Kind. Sie wollen lehren, aber das Kind will nicht lernen. Vorzeitiger Unterricht ist wie eine vorzeitige Geburt: Er hat seinen Preis, er verlangsamt den Lernprozess und lässt eine Mauer des Misstrauens zwischen Ihnen und Ihrem Kind entstehen. Haben Sie Vertrauen in die Entwicklungsschritte Ihres Kindes und stellen Sie ehrliche Bitten: „Ich wünsche mir, dass das Zimmer ordentlich ist.“ Ihr Kind kann Ihnen beim Aufräumen helfen oder nicht, jedenfalls wird es von Ihrem Wunsch nach Ordnung erfahren und wird sich später dasselbe für sich wünschen (oder einen Partner finden, der es zu mehr Ordnung bewegt oder der selbst aufräumt, was auch eine Möglichkeit ist).

 

Gestehen Sie Ihrem Kind Unschuld zu, und überlegen Sie gut, bevor Sie eine Bitte äußern. Wenn Ihr Kleinkind mit matschigen Schuhen ins Haus kommt und über den Teppich geht, ist es sich keines Problems bewusst. Sie können einfach die Tatsachen schildern: „Deine Schuhe sind schmutzig. Lass sie mich dir ausziehen.“ Dann machen Sie den Teppich sauber.

Wenn Sie anfangen, den Teppich sauber zu machen, entscheidet sich das Kleinkind vielleicht, Ihnen zu helfen, aber vielleicht auch nicht. Es spielt keine Rolle, ob es beim Saubermachen hilft. Es zum Helfen zu zwingen oder zu drängen, würde nur Gefühle des Versagens, des Grolls und der Schuld auslösen. Diese schmerzlichen Gefühle lassen einen authentischen Wunsch zu helfen gar nicht erst aufkommen. Wenn unser Kind dagegen zusieht, wie wir saubermachen, und sich selbst dabei gut fühlt, oder wenn es fröhlich weggeht und den Teppich hinterher sauber vorfindet, kann es das, was wir tun, in sich aufnehmen und später die freie Entscheidung treffen, bei unserem Tun mitzumachen. Wenn Ihr Kleinkind seine Hilfe anbietet, lassen Sie sich von ihm helfen, ohne es zu kritisieren, ihm ihrerseits zu helfen oder in seiner Gegenwart hinter ihm her zu wischen. Sie können ihm vorschlagen, den Besen zu holen oder zu helfen, aber vermeiden Sie, es zu lenken, so dass es selbst entscheiden kann, ob es sich beteiligen, zusehen oder weggehen will.

Wenn junge Kinder gemaßregelt werden, sind sie durch die intensiven Gefühle und Wertungen ihrer Eltern oft so verängstigt, dass sie den Inhalt der Aussage überhaupt nicht verstehen. Auch wenn die richtigen Worte in einem etwas scharfen Tonfall oder eine versteckte Anschuldigung mit süßer Stimme vorgebracht werden, ist das für die Gefühle eines jungen Kindes zu überwältigend und lenkt seine Aufmerksamkeit davon ab, zu merken, worum es eigentlich geht. Es ist dann zu sehr damit beschäftigt, sich verletzt oder eingeschüchtert zu fühlen. Doch wenn das Kind spürt, dass der Fluss des Lebens und der Liebe frei fließen kann und dass seine Würde geachtet wird, kann es sich am besten der vielen Gewohnheiten und Bedürfnisse seiner Mitmenschen bewusst werden. Das Kind braucht keine Hilfe, um zu lernen, wie es mit uns zusammenleben soll; was es braucht, ist, dass wir ihm vertrauen und seinem Lernen nicht im Wege stehen.

Wenn Sie nur das „s“ von S.A.L.V.E. beherzigen, wird der Rest ganz von selbst kommen. Sobald Sie dem Geschwätz in Ihrem Inneren auf den Grund gehen oder es an sich vorbeiziehen lassen, ohne ihm Folge zu leisten, können Sie statt Ihrer eigenen Reaktionen Ihr Kind wahrnehmen. Ob Sie eine Bitte äußern oder auf ein Problem eingehen – wenn Sie präsent und frei sind, Aufmerksamkeit zu schenken, werden Sie sich wahrscheinlich in Ihr Kind einfühlen können und wissen, was zu tun ist.

Zurückspulen

„S.A.L.V.E. funktioniert, wenn ich daran denke“, sagt ein zweifelnder Vater. „Aber was ist, wenn ich nicht daran denke, mir Zeit zu nehmen? Wenn ich vor Wut einfach herausplatze?“

Es ist in der Tat nicht einfach, Gewohnheiten zu verändern, und es wird vorkommen, dass Sie in alte Verhaltensmuster zurückfallen. Um sich von einem gewohnheitsmäßigen „Negierer“ in einen „Wertschätzer“ zu wandeln, brauchen Sie Zeit und Übung. Fangen Sie an, indem Sie sich Ihre negierenden Bemerkungen bewusst machen, ohne zu versuchen, sie zu ändern. Schimpfen Sie innerlich nicht mit sich selbst, weil Sie Ihr Kind oder Ihren Partner negiert haben. Liebevolles Handeln zu entwickeln fängt damit an, zu sich selbst freundlich und geduldig zu sein. Ergründen Sie Ihre Gedanken, wenn die Situation vorbei ist. Es ist nur eine Stimme in Ihrem Kopf. Hören Sie sie verklingen und gewinnen Sie einen Augenblick in der Gegenwart. Prüfen Sie ihre Relevanz für den Moment, dann werden Sie klarer sehen. Stellen Sie sich vor, wie Sie ohne diese Stimme sein würden, dann richten Sie den Blick darauf, wie das, was Sie von Ihrem Kind erwarten, vielleicht auf Sie selbst zutrifft, und Sie werden Ihre Liebe zu sich selbst und zu Ihrem Kind spüren.

Durch regelmäßige Übung werden Sie allmählich lernen, Ihre Gedanken mitten im Satz zu unterbrechen und deren Richtung zu ändern. Wenn das geschieht, können Sie Ihren Fehler vielleicht Ihrem Kind gegenüber einräumen, „zurückspulen“ und noch einmal von vorne anfangen.

Wir können lernen, Nutzen daraus zu ziehen, dass wir unbefriedigend verlaufene Szenen noch einmal wiederholen, wie bei einer Theaterprobe. Sie können sogar zu Ihrem Kind sagen: „Spulen wir zurück. Ich spiele die letzte Szene noch mal.“ Mit etwas Übung werden Sie sich rechtzeitig bremsen können, so dass die negierenden Worte unausgesprochen bleiben und Sie sich mit offenem Herzen und wachem Geist Ihrem Kind zuwenden können. So spulte ein Vater, der an einem meiner Workshops teilgenommen hatte, seine Ankunft zu Hause noch einmal zurück.

Als Norm das Haus betrat, waren überall auf dem Boden kaputte Kartons und zerbrochene Buntstifte verstreut. Er fing an, sich über das Durcheinander zu beschweren und zu verlangen, die Kinder sollten sofort alles aufräumen. Miranda, das jüngste Kind, fing zu weinen an, und ihr älterer Bruder Leon sagte: „Aber Papa, wir sind so schön am Spielen.“ „Das ist kein Spiel, all die Kartons und Buntstifte kaputtzumachen“, brüllte Norm… und dann hörte er unvermittelt mit dem Brüllen auf und sagte: „Spulen wir zurück! Lasst mich diese Szene noch mal machen.“ Theatralisch ging Norm rückwärts und verließ das Haus. Dann kam er lächelnd wieder herein. „Hallo, Kinder, wie geht’s euch?“ Er küsste jedes Kind und seine Frau und fuhr fort: „Oh, schau an, was entsteht denn hier?“ Die Kinder erklärten eifrig ihr Spiel, und seine Liebe und sein Interesse waren wiederhergestellt.

Es erfordert Zeit und Übung, eine solche Achtsamkeit zustande zu bringen. Schließlich sind wir alle in einer Kultur aufgewachsen, in der Negieren automatisch geschieht, einer Kultur, die uns gelehrt hat, uns mit den automatischen Worten, die in unserem Inneren ablaufen, zu identifizieren. Wir negieren so gedankenlos, dass unsere Äußerungen nicht einmal dem entsprechen, was wir wirklich denken oder fühlen; wir sind nicht authentisch. Doch es wird Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich selbst dafür verurteilen, dass Sie solch menschliche Gedanken haben. Auch Sie sollen noch wachsen; seien Sie liebevoll zu sich selbst. Fangen Sie an, indem Sie eine einfache Abmachung mit sich selbst treffen: Wenn Sie aus der Fassung geraten, sagen Sie nicht die ersten Worte, die Ihnen in den Sinn kommen; diese würden zwangsläufig jemanden negieren und verletzen. Sie können „zurückspulen“, sobald Sie sich ertappen, selbst wenn Sie schon mitten in der Szene oder sogar an deren Ende sind. Es ist nie zu spät, aus einem Albtraum aufzuwachen.

Die negierenden Worte im eigenen Kopf zu hören und zu stoppen, ist die Grundlage dafür, wertschätzend und liebevoll zu kommunizieren. Vielleicht gelingt es Ihnen in den ersten Monaten nur ab und zu, Ihre negierenden Worte zu stoppen, doch mit der Zeit wird es die alte Gewohnheit des Kontrollverlusts und der alten Filme, die Ihr Leben beherrschen, ersetzen.

Wenn Sie je eine neue Sprache, ein Musikinstrument oder eine andere schwierige Fertigkeit erlernt haben, wissen Sie, dass es Zeit und Wiederholung braucht, um irgendetwas zu meistern. Übung führt nicht zu Perfektion, Übung führt zu Beständigkeit. Ihre alten Gewohnheiten sind über viele Jahre eingeübt worden. Lassen Sie Ihr Kind wissen: „Das ist neu für mich. Ich lerne noch.“