Red Dirt Heart: Sengende Erde

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From the series: Red Dirt Heart #3
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Travis hob mein Kinn. Er lächelte, mit dunklen Augen und rauer Stimme. »Mir fallen viele Dinge ein, die man in drei Stunden machen könnte.«

Als er mir das Shirt über den Kopf zog, fragte ich: »Gehört Schlafen dazu?«

Er schüttelte den Kopf und zog am Knopf meiner Jeans, um sie zu öffnen. »Ab aufs Bett, Charlie«, murmelte er.

Ich fiel auf die weiche, wolkenartige Bettdecke und Travis grinste, als er meine Jeans an den Knöcheln packte und sie mir auszog. Dann strich er mit seiner Nase über jeden Zentimeter meines Körpers und sein stoppeliges Kinn und seine sanften Lippen folgten. Er sorgte dafür, dass ich keine Minute der nächsten drei Stunden verpasste.

***

Als ich das unablässige Hämmern nicht mehr ertragen konnte, ging ich nach draußen. Na ja, ich marschierte eher nach draußen und knallte die Fliegengittertür hinter mir zu, um meinen fehlenden Schlaf und die mangelnde Geduld zu betonen. Ich sah nach oben zum Dach, auf dem Travis hockte. »Könntest du noch lauter hämmern?«

Travis sah grinsend zu mir hinunter. »Jap. Gib mir eine Sekunde.« Er streckte seine Hand zu Bacon aus. »Gib mir den größeren Hammer.«

Ich grummelte. Oder knurrte, oder vielleicht etwas von beidem. Er deckte das Blechdach neu. Typisch Travis brauchte er etwas zu tun und da das Wetter noch immer kühl war, musste er sich gedacht haben, dass jetzt ein guter Zeitpunkt dafür war. Natürlich wollte er meine Hilfe nicht. Ich hatte eine Hausarbeit abzugeben und Bilanzen durchzugehen, also hatte er mir verboten zu helfen und sich stattdessen Bacon geschnappt. Jetzt lächelten beide.

»Du bist nicht witzig.«

Travis lachte. »Soll ich ein Lied hämmern? Wie wäre es mit Funkel, Funkel, kleiner Stern?«

Ich sah ihn finster an. »Wie wäre es mit Halt deine verfickte Klappe? Hast du das Lied schon mal gehört?«

Irgendwo im Haus schimpfte Ma mit mir, weil ich geflucht hatte und Travis warf lachend den Kopf zurück. Ich marschierte zurück in mein Büro und ignorierte ihn noch eine Weile, bis das Hämmern irgendwann aufhörte.

Allerdings rief Travis in diesem Moment: »Charlie? Charlie, das musst du dir ansehen.«

Kapitel 3

Mehr als nur Erinnerungen

Zwei Kartons standen auf dem Küchentisch.

Alt, staubig, vergessen.

Ich hatte keine Ahnung, was da drin war und ich hatte beinahe Angst davor, nachzusehen. Offensichtlich waren sie im Dachstuhl in Sicherheit gebracht worden – oder versteckt – und seit Jahren nicht angerührt worden.

Was mich zurückhielt, waren mein Name und Geburtsdatum, die in der Handschrift meines Vaters auf den Kartons standen.

Und mir Angst machten.

»Charlie«, sagte Travis leise. Er stand neben mir, ebenso wie Ma. Bacon, der geholfen hatte, sie runterzubringen, war nun verschwunden. »Willst du sie aufmachen?«

Ich nickte, dann schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß nicht.«

»Du musst nicht«, flüsterte er. »Ich kann sie in den Schuppen bringen, bis du bereit bist.«

Ich dachte, ich hätte das hinter mir gelassen. Ich dachte, ich hätte mich mit meinem Vater, seinen verletzenden, intoleranten Worten und seinem enttäuschten Blick abgefunden. Ich dachte, ich hätte meine Vergangenheit akzeptiert und weitergemacht. Zum Teufel, ich hatte sogar anerkannt, dass ich so stur war wie mein Vater – und war sogar stolz darauf. Ich war mit den homophoben Kommentaren und Blicken genauso umgegangen, wie er es mit jemandem getan hätte, der nicht seiner Meinung war.

Ich wusste, dass ich die Neigung zur nüchternen, in die Offensive führenden Arroganz direkt von meinem alten Herren geerbt hatte und das war für mich in Ordnung.

Und trotzdem katapultierte mich das, was auch immer er in diesen zwei Kartons versteckt hatte, wieder zum Ausgangspunkt zurück. Ich war wieder ein verängstigtes Kind und wartete darauf, dass mich seine Worte verletzen würden.

»Ich dachte, er hätte alles gesagt, was er sagen konnte«, hörte ich mich selbst sagen. Ich bin nicht sicher, ob ich es laut hatte aussprechen wollen. Trav legte seine Hand auf meinen Rücken und ich sah ihn an. »Was, wenn da noch mehr von Du bist so eine Enttäuschung drin ist?«

Trav hob das Kinn, als würde er glauben, dass ich ihn beleidigt hätte. »Charlie, seine Worte können dich nicht mehr verletzen«, sagte er. Ich glaube, er hatte das schon mal gesagt. »Du weißt das, richtig? Du hast die Macht über das, was in diesen Kisten ist. Du entscheidest, nicht er.«

Ich starrte ihn an. Er hatte vollkommen recht. »Wie bist du so klug geworden?«, fragte ich.

»Ich bin nicht so klug. Ich weiß einfach nur, wie dein Verstand funktioniert. Ich wusste genau, was du gedacht hast, Charlie.« Er küsste meinen Kopf. »Willst du sie aufmachen?«

Ich nickte und sah zu Ma, die Travis anlächelte. »Alles in Ordnung, Ma?«, fragte ich.

Sie sah immer noch müde aus, sah mich aber mit einem sanften Lächeln an, als sie sich an den Tisch setzte. »Mir geht's gut«, sagte sie. »Ich mache mir nur Sorgen, wenn du dir Sorgen machst, das ist alles.«

Ich nahm einen Stuhl, stützte aber nur das Knie darauf, anstatt mich zu setzen und zog den ersten Karton zu mir. Ohne darum gebeten worden zu sein, stellte Travis eine Tasse Tee vor Ma und beide warteten darauf, dass ich den Karton öffnete.

Ich weiß nicht, was ich erwartete. Vielleicht Briefe, Dokumente, vielleicht sogar finanzielle Unterlagen, die wir nicht gefunden haben, als wir sein Zimmer ausgeräumt hatten.

Was ich fand, brachte mich zum Lächeln und ließ mich gleichzeitig die Stirn runzeln.

Ich griff in den Karton und zog den ersten Gegenstand hervor. Es war ein Teddybär. Alt, ausgebleicht, ein wenig abgenutzt und er sah aus, als wäre er in den Schlamm gefallen. Ich erkannte ihn nicht.

»Oh, der hat dir gehört«, sagte Ma leise. »Bis du etwa drei warst, hast du ihn überall mit hingeschleppt.«

»Ich erinnere mich nicht«, sagte ich und legte ihn auf den Tisch.

Ma nahm den Bären und betrachtete ihn. »Dein Vater hat ihn dir nach deinem dritten Geburtstag weggenommen. Meinte, du wärst zu alt, um ein Stofftier mit dir rumzutragen.«

Ich zuckte mit den Schultern. Das überraschte mich nicht. Kein bisschen.

»Also daran erinnere ich mich«, sagte ich und nahm einen aufgesägten Gips heraus. Er war vom Dreck ganz braun, ausgefranst und kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte. »Mein erster gebrochener Arm«, sagte ich lachend. »Erinnerst du dich, Ma? Ich bin von meinem Motorrad gefallen.«

Ma sah mich finster an. »Natürlich erinnere ich mich. Wie könnte ich das vergessen?«

Travis nahm den Gips und betrachtete ihn. »Das ist widerlich. Kommt das vom Alter oder hast du ihn so zugerichtet?«

Ma schnaubte. »Er hat ihn im Schlamm, im Dreck und im Fluss getragen. Dann hat sein Vater ihm das Ding hier abgenommen, weil es so fürchterlich gestunken hat.«

Ich schnaubte. »Ja, er hat wie ein überfahrenes Tier gerochen.«

Travis betrachtete die ausgefranste Öffnung, die sich über die ganze Länge des Gipses zog. »Dein Dad hat ihn aufgeschnitten?«

»Ja, mit einer Schurschere.«

»Gütiger Gott«, murmelte Travis.

Ich lachte über seinen Ausdruck. »Und sieh mal, hier ist der Gasgriff des Motorrads, das ich gefahren habe, als ich gestürzt bin«, sagte ich und nahm den Motorradgriff heraus, der auf meine Peewee 50 gehört hatte. Er war schwarz und das Gummi mittlerweile abgewetzt und brüchig. Es war ein ungewöhnliches Andenken. »Warum zur Hölle hat er das aufgehoben?«

»Weil es dein erstes Bike war«, sagte Ma schulterzuckend. »Und du hast es geliebt.«

Ich dachte darüber nach, was es bedeutete. Mein Vater hatte diese Dinge nicht wirklich für sich selbst aufgehoben. Er hatte es für mich getan.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Anschließend nahm ich weitere Dinge heraus, angefangen bei einem kleinen Glas mit meinem ersten Zahn, meinen ersten Babyschuhen bis hin zu einem alten Bunnykins-Teller und einem dazu passenden Plastikbecher, der nun gesprungen war.

Auf dem Boden des Kartons befanden sich Bücher: ein Sammel-, ein Baby- und ein Fotoalbum. Ich nahm sie heraus und legte sie zur Seite, ehe ich nach den letzten Sachen in dem Karton griff. Es waren einige laminierte Zertifikate aus meinen Homeschooling-Tagen und eine Plastiktüte mit gefalteten Zeitungen.

Ich stellte die erste leere Kiste auf den Boden und betrachtete all die Dinge, die den Tisch bedeckten. Meine Kindheitserinnerungen. Es war schockierend und wundervoll, dass mein Vater diese Dinge aufbewahrt hatte. Ich fuhr mir mit der Hand übers Gesicht und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Da ich immer noch zu durcheinander war, um sie in Worte zu fassen, seufzte ich stattdessen.

Aber ich lächelte.

»Wow«, sagte ich schließlich und setzte mich. »Ich hatte keine Ahnung.«

Travis zerzauste meine Haare und drückte mir einen Kuss auf den Kopf, ehe er sich neben mich setzte. Er schien kurz davor zu sein zu platzen. Ob es vor Erleichterung oder Freude für mich war, wagte ich nicht zu sagen. Es war egal.

Zuerst nahm ich das Babyalbum. Es war blau, klein und durch das Alter gelb geworden. Ich öffnete die erste Seite, auf der in einer schönen Handschrift, die ich nicht erkannte, mein voller Name, mein Geburtsdatum, Gewicht, Größe und Haarfarbe standen. Außerdem klebte da ein kleines Bild eines weinenden Babys. Vermutlich war ich es.

»Du hast dich nicht verändert«, scherzte Travis.

Ich konnte nur lachen. Auf der nächsten Seite befanden sich Daten mit Gewicht, Größe und Meilensteinen. Anscheinend hatte ich meinen ersten Zahn mit sieben Monaten bekommen. Und es war sehr deutlich, sogar unterstrichen und so, dass ich Haferbrei nicht mochte.

 

Ma lachte schnaubend. »Also das hat sich nicht geändert.«

Ich lachte mit ihr, aber als ich die nächste Seite aufschlug, verging mir das Lachen.

Da war ich, vielleicht zwei Jahre alt und saß auf dem Knie meines Vaters. Er lachte über etwas, sein Gesicht leuchtete und er sah jemanden oder etwas an, das auf dem Bild nicht zu erkennen war.

Er sah so viel jünger aus als der Mann, an den ich mich erinnerte. Auch glücklicher. Er sah so glücklich aus. Unsere Kleidung war ein Hinweis auf die Zeit – die späten Achtziger – und das Foto selbst war ein vom Alter vergilbtes Polaroid.

Travis' Hand auf meinem Knie zwang mich, ihn anzusehen. »Geht's dir gut?«

Ich nickte. »Ja.« Und das stimmte. Das war nicht, was ich erwartet hatte: Diese Dinge aus meiner Kindheit und eine Erinnerung daran zu finden, dass mein Vater nicht immer so wütend gewesen war. Ich richtete meinen Blick wieder auf das Foto und strich gedankenverloren mit dem Finger darüber. »Er sieht so glücklich aus.«

Ich konnte Mas Blick auf mir spüren und als ich aufsah, musterte sie mich eine Weile lang. »Er war glücklich, Liebling.«

»Ich muss ihn wohl anders in Erinnerung haben«, murmelte ich.

Ma seufzte. »Er war nicht immer so…« Es schien ihr schwerzufallen, das richtige Wort zu finden.

»Wütend?«, schlug ich vor. »Verbittert?«

»Einsam«, beendete sie ihren Satz.

Darauf hatte ich keine Antwort. Stattdessen ließ ich es auf mich sinken, wie eine schwere Decke der Reue. »Ich war zu beschäftigt damit, ein Stinkstiefel zu sein, um es zu sehen«, gestand ich.

Ma lächelte mich warm an. »Du warst ein Teenager, Liebling. Man kann dir nicht die Schuld geben, es nicht gesehen zu haben, vor allem, wenn er Dinge sagte, die er nicht so gemeint hat.« Sie seufzte und sah so müde aus, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Er war ein guter Mann, Charlie, bis zu dem Tag, an dem deine Mutter gegangen ist. Danach war er nicht mehr derselbe. Zu stolz, glaube ich, um zuzugeben, dass er sich wünschte, die Dinge wären anders.«

Danach war es still und ich drehte die nächste Seite um. Es gab Abrissspuren, wo einst ein Foto gewesen war, das später herausgerissen worden war. Genau wie auf der nächsten und übernächsten Seite.

Ich nahm an, dass sie von meiner Mutter waren.

Der letzte Eintrag war ein Bild von mir. Ich war vielleicht vier Jahre alt, hielt einen Fisch, der halb so groß war wie ich und trug zu große Reitstiefel. Ich grinste wie das glücklichste Kind der Welt. Ein Kind, das nicht wusste, dass sich seine Welt für immer verändern würde.

Trav legte mir eine Hand in den Nacken und beugte sich vor, aber nicht, um sich das Bild anzusehen, sondern um mir näher zu sein. »Erinnerst du dich daran?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Dann betrachtete ich erneut das Foto. »Aber ich glaube, ich erinnere mich an die Stiefel.«

Travis lachte. »Jap. Du bist wirklich schwul.«

Ich stieß ihn mit dem Ellbogen an, lachte aber leise. Als Nächstes kam das Sammelalbum. Es war genauso alt, die Seiten vergilbt und staubig. Darin befanden sich eingeklebte Zeitungsartikel, ein paar Fotos von mir und einige Erwähnungen. »Du hast Bullen geritten?«, fragte Travis.

»Jap. Bis ich etwa zwölf war und mir das Handgelenk an zwei Stellen gebrochen habe.« Ich hatte ihm schon erzählt, dass ich mir das Handgelenk gebrochen hatte, bevor mein Dad ein wichtiges Treffen hatte. »Danach hat mir mein Vater verboten, noch einmal ein Rodeo zu reiten.«

Einige der Ausschnitte erwähnten die Sutton Station, bei anderen ging es direkt um mich und die School of the Air. »Es war keine normale Schule«, erklärte ich. »Es gibt keinen Mannschaftssport, keine außerschulischen Aktivitäten oder so was, wenn das nächste Kind zweihundertfünfzig Kilometer weit weg ist. Pi mal Daumen.«

Travis schüttelte den Kopf. »Deine Kindheit war ganz anders als meine«, sagte er.

»Sie war ziemlich toll«, gestand ich. »Reiten, Motorrad fahren, Bullen jagen… von Bullen gejagt werden.«

Ma deutete auf ihre Haare. »Siehst du die grauen Strähnen?«, sagte sie und hob die Brauen. »Jede einzelne davon habe ich wegen etwas bekommen, das er getan hat.«

Die Zeitungsartikel reichten von meiner Kindheit bis zum Teenageralter. Der letzte Ausschnitt war nicht eingeklebt, sondern einfach nur gefaltet und zwischen zwei Seiten gesteckt worden. Und er lag nur wenige Jahre zurück.

Soweit ich es beurteilen konnte, sah er aus, als wäre er aus dem Magazin der Beef Farmers Association ausgeschnitten worden, genau wie die Ausgabe, die wir letztens mit meinem Gesicht auf dem Titelblatt bekommen hatten. Aber das hier war nur Text, scheinbar ein Interview mit meinem Vater.

Er sprach darüber, dass die letzten Viehpreise etwas niedriger waren, als ihm lieb war, die Saison aber gut gewesen war. Als sich die Unterhaltung dann auf die Familienangelegenheiten konzentrierte, bemerkte der Journalist:

Charles Sutton sprach stolz über seinen Sohn und sagte, dass er in Sydney Landwirtschaft studiert. »Soviel wir auch davon lernen können, auf dem Land zu leben, liegt die Zukunft in Bildung«, sagte er. »Charlie wird ein besserer Farmer sein, besser, als ich es je sein könnte.«

Der Interviewer hatte gescherzt und sich gefragt, ob ein junger Mann ins Outback zurückkommen würde, nachdem er vom Stadtleben gekostet hatte. Charles Sutton lachte, als wäre es ein Insiderwitz. »Es ist ein hartes Leben, dem würde niemand widersprechen. Aber fragen Sie jeden von uns – wir würden es nicht anders haben wollen. Charlie wird zurückkommen. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil er es liebt.«

»Sie müssen sehr stolz auf Ihren Sohn sein«, sagte der Interviewer. Charles Sutton antwortete mit einem durchschlagenden Wort. »Sehr.«

Ich las das Interview. Und dann las ich es erneut. Und ich schluckte die Tränen hinunter, während Travis und dann Ma den Artikel lasen. »Ich verstehe es nicht«, sagte ich. »Hat er gelogen, als er das gesagt hat? Warum würde er sie anlügen? Warum sollte er diese Dinge sagen? Sie stimmten nicht.«

»Charlie«, murmelte Travis. »Sie stimmten.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir das Gegenteil gesagt. Er hat es mir gesagt. Ma war da, genau wie George. Sie haben gehört, was er gesagt hat.«

Ma runzelte die Stirn. »Oh, Liebling.«

Travis nahm unbeeindruckt meine Hand. »Charlie, wir sind ziemlich gut darin geworden, über Dinge zu reden, nicht wahr?«

Ich nickte. »Ich versuche, besser zu werden.«

Er lächelte. »Du machst das toll.« Er drückte meine Hand. »Aber erinnerst du dich an den Anfang? Es war nicht leicht.« Er sprach so ruhig. »Für dich war es einfacher, zu lügen und zu sagen, dass es dir gut geht, wenn das nicht wirklich der Fall war. Du hast so hart gekämpft und es war leichter, Nein zu sagen, in den Verteidigungsmodus zu schalten und so zu tun, als würde es dich nicht interessieren, als jemanden auch nur eine Sekunde lang glauben zu lassen, dass du ihm gegenüber offen wärst.«

Ich schluckte, damit ich sprechen konnte. »Aber warum sollte er bei einem Interview lügen? Er hätte einfach sagen können, dass ich auf dem College war und es dabei belassen können, aber das hat er nicht. Er hat weitergeredet. Das ergibt keinen Sinn.«

Travis schüttelte den Kopf, als würde ich das Offensichtliche nicht erkennen. »Er hat sie nicht angelogen, Charlie. Was er zu dir gesagt hat, war nicht die Wahrheit. Er war stolz auf dich. Er konnte es dir nur nicht sagen.«

Ich schüttelte den Kopf. Es ergab keinen Sinn.

»Genau wie für dich, war es für ihn einfacher, einem Fremden die Wahrheit zu sagen, als dem Menschen, den er liebte, die ganze Wahrheit zu sagen. Es ist leichter, einem Fremden die Wahrheit zu sagen, weil man nicht riskiert, zurückgewiesen zu werden. Siehst du es nicht? Für ihn war es leichter, dir gegenüber so zu tun, als wäre es ihm egal, weil er bei dir das meiste zu verlieren hatte.«

In diesem Moment sah ich Travis an. Sah ihn wirklich an. Neben mir saß der einzige Mensch auf der Welt, der mich wirklich kannte, hielt meine Hand und sah mich mit den blauesten Augen aller Zeiten an. Er kannte jedes meiner Geheimnisse, jede meiner Stimmungen, Träume und Wünsche, er hatte meine schlimmsten Seiten gesehen und saß trotzdem noch neben mir.

»Hörst du, was ich sage, Charlie?«, fragte Travis sanft.

Nickend schluckte ich den Kloß in meiner Kehle hinunter und ignorierte das Brennen in meinen Augen. »Du bist wirklich irgendwie perfekt, weißt du das?«

Ma schnaubte und als wir zu ihr sahen, wischte sie sich mit dem Ärmel über die Augen. »Ihr Jungs bringt mich zum Weinen.«

In dem Moment kam Nara in die Küche und blieb stehen, als sie uns sah. »Entschuldigung«, sagte sie schnell. »Ich bin nur gekommen, um beim Mittagessen zu helfen.«

Was uns alle dazu brachte, auf die Uhr zu sehen. Scheiße, der Vormittag war fast vorbei. Ich stand auf und legte alles wieder in die erste Schachtel zurück, als mir klar wurde, dass ich die zweite nicht einmal angerührt hatte.

»Ich hab noch gar nicht mit dem Mittagessen angefangen«, sagte Ma.

»Ich hätte Nugget mittlerweile füttern müssen«, fügte ich hinzu, sah aber zu dem ungeöffneten Karton zurück.

Ma legte eine Hand auf meinen Arm. »Mach ihn auf, Charlie. Verschwende keinen weiteren Tag. Ich kann die Flasche für Nugget fertig machen…«

»Wisst ihr was?«, sagte Travis. »Warum setzt ihr euch nicht ins Wohnzimmer und seht euch den Inhalt an. Ich bin sicher, dass ihr viel zu bereden habt. Nara und ich können uns ums Mittagessen kümmern.«

Ich wusste nicht, ob er wirklich der Meinung war, Ma und ich müssten reden oder ob ihm aufgefallen war, wie blass Ma aussah, aber es war eine gute Idee.

Und sie widersprach nicht.

Rückblickend hätte mir genau das, dieser fehlende Widerspruch, sagen müssen, dass etwas nicht stimmte.

Aber ich war zu sehr mit den Kartons beschäftigt, die sie im Dachstuhl gefunden hatten, um es zu bemerken. Der Karton meiner Kindheitserinnerungen und der winzige Funke Hoffnung – das Interview, das vielleicht, nur vielleicht bewies, dass mich mein Vater nicht so hasste, wie ich gedacht hatte – bestimmten mein Vorgehen.

Ma setzte sich neben mich und ich öffnete den zweiten Karton. Er war kleiner und leichter als der erste und als ich ihn öffnete, wusste ich, warum.

Nur ein Album lag darin.

Ein kleines Sammelalbum. Das war alles. Ich fragte mich, warum es in einem extra Karton lag, wenn sonst nichts weiter drin war. Ich nahm das Album und stellte den Karton ab, als ein paar Zeitungsausschnitte auf den Boden segelten.

Ich hob sie auf, es waren vielleicht sechs oder sieben, und öffnete das Album. Keiner der Artikel war eingeklebt, als wäre meinem Dad die Zeit ausgegangen oder als wäre er nicht sicher gewesen, was er damit machen sollte.

Ich legte das Album zwischen mich und Ma und öffnete den ersten gefalteten Ausschnitt. Das Papier war alt, vergilbt und trocken. Es war ein Artikel von einer Grundschule in Darwin, bei dem es um eine Ausstellung ging. Die Namen und Hinweise sagten mir nichts.

Ich nahm einen weiteren kleinen Ausschnitt. Es war ein Foto aus der Zeitung, auf dem einige Kinder Fußball spielten. Ich konnte keine Gesichter erkennen, aber sie mussten fünf oder sechs Jahre alt sein.

Wieder, nichts.

Ich reichte ihn Ma, dann nahm ich einen weiteren. Kleiner, älter. Es war eine Geburtsanzeige.

Samuel Jennings, geboren am 4. März 1983. Mutter und Sohn sind wohlauf.

Ich las ihn. Und las ihn erneut.

Ich hatte keine Ahnung, wer das war oder warum mein Vater es aufgehoben hatte.

Stirnrunzelnd reichte ich Ma das vergilbte Stück Zeitung. »Ich kenne niemanden mit dem Nachnamen Jennings.«

Das war der Moment, in dem ich Ma wirklich ansah. Also wirklich ansah. Sie war blass, blasser als jemals zuvor und die dunklen Ringe unter ihren Augen stachen hervor. Ihre Atmung kam schnell und abgehackt und als ich ihre Hand nahm, war sie klamm.

Ich nahm ihr den Zeitungsausschnitt ab, nahm ihre andere Hand und zog sie auf die Füße. »Ins Bett mit dir«, sagte ich. »Versuch nicht, mit mir zu diskutieren.«

Und sie tat es nicht.

Es war sehr untypisch für sie, aber sie nickte. »Ich fühle mich nicht gut.«

Ich führte sie in ihr Zimmer, an der Küche vorbei, wo Travis unterbrach, was er gerade tat, und uns folgte. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

 

»Ma geht's gut«, antwortete ich, während ich sie noch immer langsam zu ihrem Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses führte. »Sie braucht nur etwas Ruhe.«

»Danke«, sagte Ma schwach. »Ich will nicht, dass sich jemand Sorgen macht.«

Wir kamen bei ihrem Bett an und ich schlug die Decke zurück, während ich darauf wartete, dass sie hineinkrabbelte. »Wie wäre es, wenn du es uns zur Abwechslung überlässt, uns Sorgen zu machen?«, sagte ich. »Ich mach dir etwas Zitronentee und bring dir ein paar Panadol, ja?«

Sie nickte und ich verließ das Zimmer. In der Küche stieß Travis zu mir. »Charlie?«

»Ich mache ihr Tee«, sagte ich.

»Hat sie etwas aufgewühlt?«, fragte er. »Was war in dem zweiten Karton? Ich weiß, dass es ihr nicht gut ging, aber…«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie war schon eine Weile nicht mehr sie selbst. Seit Wochen. Erinnerst du dich, dass sie diese Erkältung hatte?«, fragte ich. »Da fing es an.«

Ich hatte irgendwie vergessen, dass Nara mit uns in der Küche war. »Mr. Sutton«, sagte sie leise und reichte mir eine Tasse Zitronentee. »Ich hab ihn ein wenig für sie abgekühlt, wie sie es mag.«

»Danke«, sagte ich. Nara lächelte schüchtern und widmete sich wieder der Vorbereitung des Mittagessens. »Nara? Hast du bei Ma eine Veränderung bemerkt?«

Das Mädchen sah zu mir auf, als hätte es Angst zu antworten. Doch dann nickte sie. »Sie wird sehr müde.«

Travis legte eine Hand auf meine Schulter. »Charlie, als Scott gestern hier war, hat er dasselbe gesagt.«

»Was?«

»Er hat zu mir gesagt, dass ihm nicht klar war, wie schlecht es Mrs. Brown ging. Er sagte, dass er sie das letzte Mal vor drei Jahren hier gesehen hätte, bei der Beerdigung deines Vaters.« Travis schluckte schwer.

»Und?«

»Und er sagte nur, dass es ein kleiner Schock war, sie so dünn und blass zu sehen.«

Und so dachte ich zurück, wie Scott es getan hatte und erst, als ich mich an die Ma von vor ein paar Jahren oder auch nur ein paar Monaten erinnerte, wurde mir klar, dass sie wirklich nicht sehr gut aussah.

Und ich hätte mich selbst treten können, weil ich so verdammt blind gewesen war.

Vielleicht war es nur eine Erkältung, wie sie sagte, aber sie war blass und sah müde aus. Sie war ruhiger als sonst und aß kaum etwas. Viele ihrer Teetassen blieben unberührt. Sie war so beschäftigt damit, sich um alle anderen Sorgen zu machen und wir so beschäftigt damit, das zuzulassen, dass ich es nicht einmal bemerkt hatte.

In dem Moment schlug die Fliegengittertür zu und ich erkannte am Klang der Schritte, wer es war. »George«, rief ich.

Er kam in die Küche und in seinen Augen blitzte etwas auf, das ich nicht erkannte. Ob es die Tatsache war, dass Ma nicht in der Küche war, oder der Ausdruck auf meinem Gesicht, wusste ich nicht.

»Wo ist Ma?«

»Sie ist im Bett«, sagte ich. »George, wahrscheinlich geht es mich nichts an, aber ich glaube nicht, dass sich Ma so gut fühlt. Und damit meine ich nicht, dass sie ein wenig krank ist, ich meine, dass es ihr nicht gut geht.«

Ich erwartete viel Überraschung oder einen Schock, stattdessen sah er zu Boden und seufzte. »Es geht ihr schon eine Weile nicht gut.«

Mein Körper bewegte sich wie von allein einen Schritt auf ihn zu. »Was hat sie gesagt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist gut darin, es zu verbergen.«

»Warum hat sie nicht früher etwas gesagt?«, fragte ich leise. »Zu mir, meine ich. Ich hätte sie dazu zwingen können, sich freizunehmen, sich auszuruhen oder so was.«

»Du kennst sie doch, Junge. Sie ist dickköpfig und stolz. Wollte nicht, dass sich jemand Sorgen macht.«

»Ich rufe den Arzt«, sagte ich.

George lächelte und schüttelte den Kopf. »Das sage ich schon seit zwei Wochen. Sie hat mir jedes Mal körperliche Schmerzen angedroht.«

»George, sie ist nie krank«, sagte ich, als würde ich ihm etwas erzählen, das er nicht bereits wusste. »Solange ich sie kenne, war sie noch nie so.«

»Ich weiß«, sagte er traurig. Er versuchte zu lächeln, aber es funktionierte nicht. »Und sie sagt, dass es nur eine Erkältung oder Grippe oder so was ist. Der Winter hat ihr schwer zugesetzt, aber sie sagt, dass sie in ein oder zwei Tagen wieder auf dem Damm ist.«

Ob er etwas wiederholte, was Ma ein Dutzend Mal gesagt hatte, oder ob er versuchte, sich selbst zu überzeugen, konnte ich nicht sagen. Ich schüttelte den Kopf. »Das hat sie vor zwei Wochen zu mir gesagt, als Trav und ich nach Alice gefahren sind.«

George nickte. »Ich weiß, Charlie.« Er klang nicht wütend oder auch nur resigniert. Es hörte sich an, als hätte er dieselbe Diskussion mit ihr immer und immer wieder geführt.

»Sie wird nicht arbeiten, bis sie sich besser fühlt. Es ist mir egal, ob es sie verrückt macht, sie kann mich anschreien so viel sie will. Sie braucht Ruhe und wir müssen uns zur Abwechslung um sie kümmern.«

George lächelte, wenn auch nur kurz. »Ich sag es ihr.«

»Wir behalten sie im Auge«, sagte ich ihm. »Aber wenn es ihr in ein oder zwei Tagen nicht besser geht, fahre ich sie persönlich nach Alice.«

Er zog den Kopf ein und als er sich zum Gehen umwandte, reichte ich ihm die Teetasse und sagte sanfter: »Ich hab ihr etwas Panadol versprochen.«

»Ich hole es«, sagte er und klang dankbar. »Danke, Charlie.«

Anschließend drehte ich mich um und stellte fest, dass Travis mich beobachtete. »Geht's dir gut?«, fragte er. »Du hattest einen verdammt aufreibenden Vormittag.«

Ich nickte und war mir sehr bewusst, dass Nara noch immer in der Küche war und die Tabletts mit Brot und Fleisch belud. »Alles in Ordnung«, sagte ich ihm.

Travis schien es egal zu sein, dass wir nicht allein waren. Er schlang seine Arme um mich und trotz meines Zögerns lehnte ich mich an ihn. Die Umarmung war warm und fest und alles, was ich brauchte. Ich konnte spüren, wie meine Sorgen verschwanden und das Gewicht des Vormittags – diesen Karton voller Kindheitserinnerungen unter dem Dach zu finden – fühlte sich nicht mehr so erdrückend an, als er mich umarmte.

»Was war in dem zweiten Karton?«, fragte er und zog sich zurück, umfasste aber weiter meine Arme.

»Nur Zeitungen, weitere Ausschnitte«, sagte ich. »Ich weiß nicht, was sie bedeuten. In keinem geht es um mich.« Ich zuckte mit den Schultern. Als sich die Hintertür quietschend öffnete und die anderen zum Mittagessen kamen, stellte ich fest, dass Nara bereits ein Tablett zum Tisch gebracht hatte.

Ich nahm das zweite Tablett mit dem geschnittenen Obst, Travis das andere mit den Soßen und Gewürzen und gemeinsam folgten wir Nara ins Esszimmer. Alle saßen am Tisch, irgendwie ruhig und abwartend. Ich fragte mich, warum niemand mit dem Essen anfing und dann wurde es mir klar. Sie würden nicht anfangen, weil George nicht da war. Ich nahm mir einen Teller und füllte ihn mit Sandwiches und Früchten. »Ähm«, setzte ich an. »Ma fühlt sich nicht gut. George ist gerade bei ihr, also bringe ich ihm den hier. Ihr esst bitte.«

Ich ließ sie mit geweiteten Augen und verwundert zurück und brachte George sein Mittagessen. Ich konnte leises Murmeln hören, aber als ich an der Tür klopfte, unterbrachen sie ihre Unterhaltung. George saß auf dem Bett und Ma versuchte zu lächeln. Ich brachte den Teller herein und reichte ihn George. »Ich kann dir etwas Toast machen?«, sagte ich zu Ma. »Nach all den Gelegenheiten, bei denen ich krank war und du mich gezwungen hast, trockenen Toast runterzuwürgen, ist es das mindeste, was ich tun kann.«

Sie lachte leise. »Vielleicht später.«

Ich ließ sie allein, ging zurück ins Esszimmer und nahm meinen üblichen Platz ein. Es fühlte sich falsch an, einen leeren Stuhl neben mir zu haben. In all den Jahren, die ich an diesem Tisch gesessen hatte, war George immer direkt neben mir gewesen. Seine ruhige, unaufdringliche, unglaubliche Stärke ausdrückende Präsenz fehlte.

Plötzlich war mir nicht mehr nach Essen, aber Travis stellte mir einen Teller vor die Nase. Er legte etwas Brot und Fleischaufschnitt darauf und ehe ich den Kopf schütteln konnte, hakte er unter dem Tisch seinen Fuß hinter meinen.