SCHMITT happens – im Radio

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3.

doch nun zu müde, um noch zu hoffen

sagt sie sich gute nacht

mit einem lachen in moll

Erdmöbel / Lachen in Moll

„Oma, diesen Dreck kannst du doch nicht ernsthaft lesen? Ich meine, du weißt schon, dass nicht mal die Hälfte von dem Zeug stimmt, das die hier aufschreiben?“ Jörn saß bei Oma Annie auf dem Sofa, das im Sommer in kurzen Hosen immer entsetzlich ungemütlich war, da es mit einem lindgrünem Stoff bezogen war, der dann an nackten Beinen zwickte und kribbelte wie ein Sack Stroh. Aber noch war Frühjahr und die Beine waren durch Hosenstoff geschützt. Das Sofa gehörte zu einem Ensemble, das bei Jörn unter dem Titel „Spießer-Dreier“ lief, Dreisitzer-Zweisitzer-Sessel. Seine Oma saß allerdings nie auf einem dieser Sitzgelegenheiten, sondern immer auf ihrem leberwurstfarbenen Schlafsessel mit den Holzlehnen, den sie mit einer selbstgehäkelten Decke vor Abnutzung schützen wollte. Dieses Monstrum von Sitz konnte man in verschiedene Positionen kippen: sitzend, leicht zurückgelehnt oder auch komplett in die Waagerechte. Als Kind hatte er sich darauf gefühlt wie Captain Kirk auf der Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise. Oma Annie nahm mittags gern mal einen kleinen Eierlikör oder Baileys und wurde dann sehr schnell sehr müde, doch der Sessel hatte den Vorteil, dass man auf Knopfdruck in bequeme Schnarchstellung abgleiten konnte. Jörn hatte das selber schon einmal ausprobiert als er bei seiner Oma übernachten musste, weil diese eine schlimme Grippe hatte und nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen, also Essen machen, Tee kochen und dergleichen. Damals hatte der liebende Enkelsohn sich bei ihr einquartiert, damit jedenfalls ab Mittag jemand den Krankendienst verrichten konnte. Damals war er die ein oder andere Nacht, erschöpft nach einem Tag des Kümmerns und einigen Gläsern entspannenden Weins, selig beim Fernsehen auf diesem Sitzmöbel eingeschlummert. Natürlich hätte Oma Annie auch genug Geld gehabt, um sich rund um die Uhr eine Pflegerin leisten zu können, aber da war die Alte eisern: Fremde Menschen kamen ihr nicht über Nacht ins Haus und erst Recht nicht in ihre Küche.

„Wir halten sie immer auf dem neuesten Stand über Neuigkeiten aus der Welt der Prominenten und des Adels,“ las Jörn vor und hielt seiner Oma das Titelbild des bunten Blattes vor die Nase. „Ich meine, das siehst doch sogar du ohne Brille, dass das hier vorne eine Fotomontage ist. Der Kopf von diesem Prinzen ist doch zweimal so groß wie der von dem Mädchen, das angeblich ins Königshaus einheiraten will. Womöglich haben die beiden noch nie im Leben nebeneinander gestanden. Aber die Leute hier wissen natürlich schon, welche Blumen die Hochzeitstafel schmücken sollen.“ Er griff nach einem Keks, den seine Oma auf einer Etagere zusammen mit Schokoküssen, zerbrochener Bitterschokolade und Gummibärchen angerichtet hatte, und blätterte die Zeitschrift durch. „Und dann so was hier: Auch aus dem tiefsten Tal der Verzweiflung gibt es einen Ausweg – Schicksale. Wer schreibt denn so etwas? „Sie wollte sich töten, doch das Leben ließ sie nicht los.“ Oma das geht doch nicht, liest du das wirklich alles, was die hier so absondern? Da wird man doch irre in der Birne.“

„Das ist ein ganz neues Heft, damit bin ich noch nicht durch.“ Oma Anni lächelte und steckte sich ein Stückchen Schokolade in den Mund, auf dem sie genießerisch herumlutschte.

Jörn blätterte weiter und schüttelte den Kopf über Geschichten von Prominenten von denen er noch nie zuvor gehört hatte und solchen, über die täglich neue Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, weil sie in irgendeiner Fernsehshow einen Sängerwettstreit gewonnen oder Würmer und Maden gegessen hatten. Annie trank einen Schluck, setzte ihre Kaffeetasse ab und lachte ihn an. „Auf Wahrheit oder nicht kommt es doch gar nicht an. Ich lese doch diese Artikel nicht, weil sie stimmen, sondern weil das einfach schöne Geschichten sind. Tolle Fotos haben die auch immer, und ich kann etwas rätseln, und ab und an habe ich da auch schon ein schönes neues Rezept gefunden. Mediterrane Frikadellen zum Beispiel, habe ich mir heute Mittag gemacht, steht auch da drin, wie das geht. War lecker, das mach ich mal wieder. Im Kühlschrank sind noch zwei, soll ich dir die eben aufwärmen?“ Sie machte Anstalten, sich aus ihrem Sessel zu erheben, aber Jörn winkte ab. „Wenn ich die Wahrheit wissen will, dann rufe ich meinen einzigen Enkel an, der ist ja beim Radio und kennt sich aus in der Welt.“ Sie tätschelte seine Hand, die auf dem Tisch lag. „Wie geht es dir denn bei deiner Arbeit? Macht es dir noch Spaß? Hast du wieder eine kleine Freundin?“

Das hatte sie immer schon gemacht, von „kleinen“ Freundinnen gesprochen, dabei war schon Jörns erste große Liebe, in der vierten Klasse damals, einen ganzen Kopf größer gewesen als er. Tatjana Fährmann aus der Parallelklasse. Sie hatte lange braune Haare, trug im Gegensatz zu allen anderen Mädchen tatsächlich nur Kleider und eine hässliche Zahnspange. Aber sie hatte dennoch das schönste Lachen der ganzen Schule gehabt. Er erinnerte sich noch gut daran, dass sie den dicken Tim weggeschubst hatte, als der ihm die Tüte Erdnüsse klauen wollte, die er sich am Schulkiosk gekauft hatte. Nach diesem mutigen Einsatz für ihn und seine Nüsse war es um ihn geschehen gewesen. Augenblicklich hatte er sich in seine Retterin verliebt und fast drei Monate lang hatte er damals nur Augen für Tatjana gehabt. Sie hatten in der Pause zusammen ihre Brote gegessen und sich morgens vor dem Schultor getroffen, um zusammen in den Klassenraum zu gehen. In Kindertagen also eine ewig dauernde Beziehung. Danach war seine Liebe aus Berlin weggezogen, wohin eigentlich noch mal?

„Sag mal Omi, weißt du eigentlich wo Tatjana Fährmann abgeblieben ist?“ Er kaute an seinem Keks.

„Tatjana? Wer ist denn das denn noch gleich gewesen? Bei deinen ganzen Mädchen komme ich nicht mehr so richtig mit, mein Junge. Versteh’ mich da nicht falsch, ich finde es ja gut und richtig, wenn man sich erst einmal austobt als junger Mensch, aber nun bist du ja auch bald vierzig und ich fände es ja schon ganz schön, auf meine alten Tage noch Uroma zu werden.“

Jörn ging auf die Sätze seiner Oma nicht ein, sondern hakte nach. „Na mit Tatjana bin ich doch in die Grundschule gegangen. Die haben hier um die Ecke gewohnt, vorne an der Brandenburgischen Straße, die Eltern waren glaube ich beide beim Finanzamt oder bei der Kfz-Behörde? Irgendwas mit Verwaltung, daran erinnere ich mich aber nicht mehr ganz genau.“

„Ach die meinst du. Nein, deren Eltern waren bei der Bank. Der Vater bei der Sparkasse und die Mutter in Teilzeit bei der Volksbank. Das waren sehr nette Leute, zu den Elternabenden sind die immer zusammengekommen und haben sich ja auch sonst sehr engagiert, wenn in der Schule Freiwillige gesucht wurden für Feste oder Klassenfahrten. Leider sind die dann ja nach Westdeutschland gezogen, nach Frankfurt, glaube ich, der Vater hatte da irgendeinen ganz dollen Job in Aussicht.“

Jörn wurde ein wenig wehmütig ums Herz, als er an die Verliebtheit von damals dachte. Wie unbelastet und sorglos man als Kind sein Herz verschenken konnte. Niemand verlangte Beständigkeit oder Dinge wie gemeinsame Reisen und Wohnungen und Schlafzimmer. Man liebte mit all seiner Kraft und bekam dafür Lutscher und Salamibrote und ganz selbstverständlich ging man davon aus, dass diese Liebe ewig währen würde. Innerlich seufzte er. Äußerlich wohl auch, denn seine Oma schaute ihn fragend an. „Ist dein Leben so schwer mein Kind?“

„Neee, gar nicht. Läuft alles prima. Im Job ist es manchmal anstrengend mit dem frühen Aufstehen, aber davon abgesehen macht mir das alles immer noch viel Spaß. Und ich bin nach wie vor wirklich sehr froh, dass ich diesen Job gefunden habe.“

„Und was ist mit den Mädchen? Diese eine war so eine Nette, die du mal mitgebracht hast. Ich weiß noch, dass ich damals zum ersten Mal diesen Schmand-Kuchen ausprobiert hatte. Anke, Anna, Andrea oder wie hieß die noch gleich?“

Jörn ärgerte sich immer noch darüber, dass er Anette zum Kaffeetrinken zu seiner Oma eingeladen hatte. Das war eigentlich komplett gegen seine Regel, denn seine Oma vermutete immer gleich mindestens eine Verlobung, wenn er die Damen seines Herzens vorstellte. An jenem speziellen Tag hatte sie ihn überraschend bei Radio Null abgeholt und er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie einfach wieder nach Hause zu schicken. Andererseits wollte er auch nicht den täglichen Besuch bei seiner Oma verschieben.

Anette war die bisher letzte in der Reihe der vielen Freundinnen gewesen und ausnahmsweise keine Mitarbeiterin von Radio Null. Er hatte sie bei einer Vernissage von Bernd kennengelernt, bei der sie für eine Veranstaltungsagentur als Kellnerin beschäftigt worden war. Sie waren ins Gespräch gekommen und es hatte sich herausgestellt, dass Anette nicht nur wegen ihrer langen, fast weißblonden Haare eine tolle Frau war. Sie studierte Psychologie und interessierte sich für alles, was mit Menschen zu tun hatte. Nach Dienstschluss hatten sie sich eine Bar in der Nähe der Galerie gesucht und bis zum Morgen einfach nur geredet. Gleich am nächsten Abend hatten sie sich wieder getroffen und das Gespräch fortgesetzt. Daraus war nach einigen Tagen eine leidenschaftliche Beziehung geworden, die so lange wunderbar lief bis Anette versuchte, sich in Jörns Leben einzumischen. Er sollte mehr Obst essen, dann würde ihm das frühe Aufstehen auch leichter fallen, er müsste mehr aus sich herausgehen, dann würde er auch den Zynismus ablegen können, er sollte sich mehr sozial engagieren, dann würde er sich wohler fühlen und dergleichen mehr, hatte sie ihm vorgeschlagen. Das war Anette. WAR.

„Ne, also die hat dann auch echt genervt, Oma. Weißt du, ich möchte schon selber entscheiden, wie ich mein Leben lebe und das ist nicht so einfach jemanden zu finden, der mich lässt.“ Er reichte seiner Oma den Teller mit den Keksen, aber sie schüttelte ablehnend den Kopf. „Lieber nicht, ich muss morgen früh zum Zuckertest.“ Das liebte Jörn an seiner Großmutter. Sie aß leidenschaftlich gern Süßes, litt aber unter dem sogenannten Alterszucker. Wenn sie also einen Arzttermin vor sich hatte, strich sie Kuchen, Bonbons und Schokolade von ihrem Speiseplan, um dann umgehend nach dem Test in eine Konditorei einzukehren. Da sie aber bei allem immer sehr Maß hielt, machte sich Jörn um ihre Gesundheit keine großen Sorgen.

 

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es so schwierig für dich ist, eine Frau zu finden, die zu dir passt,“ überlegte sie nun laut. „Du musst dir über Geld keine Gedanken machen, hast eine sehr schöne Wohnung und ein tolles Auto. Du bist ja fast schon so etwas wie eine Berühmtheit mit deiner Arbeit bei diesem Radio und außerdem bist du ein ganz hübscher Kerl und weißt sogar, wie man sich ordentlich anzieht. Was ist denn das Problem?“

Jörn wollte ganz sicher nicht seine Beziehungsunfähigkeit und die gescheiterten Liebschaften der Vergangenheit mit seiner Oma diskutieren. „Oma, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich war einfach noch nicht die Richtige dabei. Das ist doch in meinem Alter nun auch oft so, dass die tollen Mädchen schon verheiratet sind und Kinder haben, oder so sehr auf ihre Karriere konzentriert sind, dass da kein Mann reinpasst, da kann er noch so viel Geld haben. Ich bin doch auch noch jung und gesund. Das kommt schon alles noch. Aber nun erzähl du doch mal von deiner Reise mit dem Kegelclub. In diesem Jahr fliegt ihr an den Gardasee, stimmt doch, oder bringe ich da etwas durcheinander?“

Er wusste, wie er Oma Annie auf andere Gedanken bringen konnte. Sie fing an von Rentnerfreunden zu berichten, die in diesem Jahr das erste Mal auf die Reise mitkamen, von der Aufregung, die der Flug ihr verursachte, und von der Angst, dass das Essen im Hotel wieder so fürchterlich sein würde wie im vergangenen Jahr in Griechenland. Jörn ließ sich von dem Geplapper einlullen und war froh, einmal nicht über sein eigenes Leben nachdenken zu müssen.

4.

ich habe abitur

und habe studium

doch mein herz bleibt dumm

mein herz bleibt dumm / Erdmöbel

Bernd ließ sich schwer auf den niedrigen Designersessel herab und faltete sich umständlich auf ihm zusammen. Für große und breite Menschen wie ihn waren diese zierlichen, sehr flach gebauten Sitzgelegenheiten einfach nicht gemacht. Dafür waren sie ausgesprochen schick und für Menschen wie Jörn auch wirklich sehr bequem. Man konnte sogar zu zweit darauf sitzen oder liegen, hatte er alles schon getestet. Jörn liebte diese Sessel, deren Rückenlehnen man bis in die Waagerechte verstellen konnte, so dass sie dann aussahen wie ein großes, weiches Kopfkissen, das auf vier schmalen Stahlbeinen ruht.

Das Glas in Bernds Hand erreichte nun einen gefährlichen Neigungswinkel als er sich stöhnend in eine bequeme Position wälzte. „Boah ey, du hast so Scheiße viel Geld, kannst du dir nicht mal vernünftige Sessel kaufen, auf denen man sich hinsetzen kann ohne dass es zu einer Turnübung ausartet?“

Jörn hatte sich gleich drei der Liegesessel gekauft in schwarz, hellgrau und dunkelgrau, und sie zusammen mit einem passenden Sofa um mehrere, ebenfalls flache Beistelltische aus Glas gruppiert. An der Wand war ein überdimensionaler Flachbildschirm installiert, der so groß war, dass man auch aus der angrenzenden, offenen Küche noch verfolgen konnte, was gerade im Fernsehen lief. Nicht dass es wichtig gewesen wäre für Jörn, der sowieso nicht kochen konnte. Nicht einmal ein Rührei bekam er hin, ohne dass es anbrannte.

Daher war er auch nicht unglücklich gewesen, dass Bernd ihn in seiner Wohnung mit Spaghetti Carbonara überraschte als er von Oma Annie zurückkam. Er hatte Bernd, kurz nach seinem Einzug in das Dachgeschoß in der Wielandstrasse, zu seiner eigenen Sicherheit einen Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Bernd wohnte nur wenige Straßen entfernt und war Jörn ein Meister darin sich selber auszusperren. Das konnte besonders morgens um halb vier unangenehm werden, wenn er vor seiner Haustür stand, ohne Haustürschlüssel, und der Autoschlüssel leider IN der Wohnung lag. Der gutmütige Bernd nahm es nie übel, aus dem Bett geklingelt zu werden, auch nicht zu nachtschlafender Zeit, am Wochenende oder an Feiertagen.

Ab und zu kam es aber auch vor, dass sein Freund sich nun selber hereinließ und wie eine junge Braut mit dem Essen auf ihn wartete, wenn er nach Hause kam. Bernd kochte phantastisch und noch dazu gerne. So wie heute.

Nach dem Essen hatten sich beide einen Malt eingeschenkt und saßen nun auf den modernen Sesseln, die auf dem flauschigen grauen Veloursteppich besonders gut zur Geltung kamen – fand Jörn. „Du musst dich ja nicht auf einen Sessel setzen. Hol dir einen Stuhl vom Esstisch oder bleib zu Hause.“ Jörn, der sich auf dem Doppelsitzer lang ausgestreckt hatte, stöhnte wohlig und prostete seinem Freund pantomimisch zu. „Zum Wohl.“

Bernd bemühte sich um Haltung, während er versuchte die Rückenlehne des Sessels wieder in die Senkrechte zu klappen. Sein Glas hatte er neben sich auf den Fußboden gestellt, in bedenkliche Nähe zu seinem rechten Fuß. „Vielleicht stellst du deinen Malt lieber auf einen der kleinen Tische? Die sind nämlich tatsächlich extra dazu da, um etwas darauf abzustellen.“ Versuchte Jörn es vorbeugend. „Um den Teppich mache ich mir keine Sorgen, den kann ich jederzeit erneuern lassen, aber der Malt den du da trinkst, ist ein Single Cask Malt, das ist ein 17 Jahre alter Hanyu und da kostet die Flasche knapp zweihundert Euro, mein Freund. Und es handelt sich um eine limitierte Auflage, den kann man nicht einfach so bei Lidl nachkaufen, wenn du verstehst...“

Bernd hatte die Rückenlehne in der gewünschten Position arretiert, griff wieder nach seinem Glas und nahm einen tiefen Schluck. „Trifft ja keinen Armen, dann holst du dir eben irgendeinen anderen guten Tropfen.“ Er schmatzte anerkennend und trank gleich noch etwas von dem teuren Malt. „Wie geht es deiner Oma?“ Bernd und Oma Annie verband eine tiefe platonische Liebe. Bernd hatte sich eine Woche lang um Annie gekümmert als Jörn ein Seminar in Köln besuchen musste, dass sich nicht verschieben ließ. Jörn hatte trotz der vielen Freizeitaktivitäten seiner Oma kein gutes Gefühl dabei, sie tagelang allein zu lassen, und hatte seinen Freund als Vertretung zum täglichen Check up geschickt. Bernd hatte sich um schwerere Einkäufe wie Wasserkästen gekümmert, Annie Hühnersuppe gekocht und mit ihr Mieten, kaufen, wohnen und Das perfekte Dinner im Fernsehen angesehen. Nach dieser Zeit war Annie voll des Lobes für Jörns „feinen und freundlichen Freund“. Bernd erkundigte sich ständig nach ihrem Befinden und besuchte sie auch ab und an auf einen Kaffee, oder holte sie mit seinem Auto zu einem Spaziergang am Schlachtensee ab. „Der geht’s gut, die plant schon ihre nächste Reise mit dem Kegelverein. Trotzdem hat sie natürlich noch genug Energie mir nahe zu legen, jetzt endlich mal eine Frau fürs Leben zu finden, damit sie endlich Uroma wird.“

„Aber das ist noch klar. Annie wird auch nicht ewig leben und du bist ja viel mehr, als einfach nur irgendein Enkel. Ihr zwei habt nur einander und da wünscht sie sich natürlich, noch zu sehen wie du jemanden findest, mit dem du alt werden willst, und träumt davon noch, mal was in den Armen zu halten, was ihr Hoffnung gibt, dass es ihrem lieben Enkel auch gut geht, wenn sie mal nicht mehr da ist.“

„In welcher von Annies Zeitschriften hast du das denn gelesen?“ Jörn trank den letzten Schluck Malt aus seinem Glas und stand vom Sofa auf, um sich an der alten Kommode, die als Barschrank diente, ein neues Getränk einzuschenken. „Oma Annie ist fit wie ein Turnschuh, die wird mindestens so alt wie Jopie Heesters, da muss man sich nun wirklich keine Gedanken machen. Im Übrigen hat sie sich noch nie in mein Leben eingemischt und mich immer machen lassen, immer darauf vertraut, dass das schon alles seinen Weg nimmt. Bisher hat doch auch alles prima geklappt.“

„Bis auf die Nummer mit den Weibern.“ Bernd streckte ihm sein inzwischen ebenfalls geleertes Glas entgegen, um Nachschub einzufordern. „Wenn du endlich mal anfängst, ehrlich zu dir selber zu sein, dann wirst du zugeben müssen, dass es nicht gerade übel wäre, wenn du eine Frau finden würdest, die sich um dich kümmert, die dich liebt und dein Leben bereichert. Vielleicht findest du ja sogar eine, die aussieht wie Ina.“

Bernd schwärmte seit Jahren heimlich und aus der Ferne für die Sängerin Ina Müller. Er liebte diese Frau, ihre kernige Art und die ungeheure Lebensfreude und Energie, die sie verströmte. Natürlich hatte er Ina Müller nie persönlich getroffen, aber er hatte alle ihre Sendungen „Inas Nacht“ gesehen und auch alle ihre CDs gekauft, auch die von ihrem Duo Queen B. und auch die plattdeutschen, obwohl er da kein Wort von dem verstand, was sie sang. Wohlweislich bewahrte er die Scheiben in einem Schrank auf, den man abschließen konnte. Damit seine wenigen Damenbesuche sich nicht darüber lustig machten. Nur Jörn wusste von seiner Schwärmerei für die Blondine aus dem Norden.

„Bernd, noch mal, lass diesen Psychoquatsch weg. Eine Frau, die mein „Leben bereichert“ – liest du neuerdings auch die Groschenhefte von Oma Annie? Ich brauch’ kein Mädchen, um zufrieden zu sein. Warmes Essen kochen mir mein Freund oder der nette Renato vom Italiener nebenan, ich hab so viel Geld, dass ich es in meinem ganzen Leben nicht ausgeben kann, ich bin gesund und brauche wirklich nicht irgendeine Frau, die sich in meiner schönen Wohnung auf Dauer breit macht, um mir zu sagen, was ich tun und was ich lassen, und wie viel Obst und Gemüse ich essen soll. Ich will in meinem Bett vor mich hinpupsen soviel ich will und selber entscheiden ob ich in seidener Wäsche schlafe oder in Baumwolle. Ich...“

„Schon gut, Bruder. Ich habe es gecheckt. War ja auch nur so eine Idee von mir. Ich hatte mir vorgestellt, dass du dich nach all deinen Liebes-pleiten in der Vergangenheit jetzt einmal richtig auf das Projekt „Frau“ konzentrierst und auf Zukunft planst, so von wegen Familie mit Kindern und dem Leben einen Sinn geben und so. Aber wenn du tatsächlich damit zufrieden bist, wie es ist, dann habe ich die Situation falsch eingeschätzt. Sorry.“ Er nickte dankend und schnupperte an dem neu eingeschenkten Getränk.

Jörn setzte sich wieder ihm gegenüber. „Wieso ist dir das Thema eigentlich so wichtig? Wir reden doch sonst nicht über Frauengeschichten und schon gar nicht über heiraten und Kinder kriegen.“

„Ich weiß auch nicht, aber ich hab ja vergangenes Wochenende meinen Bruder in Schleswig besucht, der gerade Vater geworden ist. Und so ein kleiner Moppel, den man selber gemacht hat, das ist schon etwas Tolles. Der ist so winzig und so perfekt. Da ist alles dran, kleine Finger und ganz niedliche kleine Füße hat der. Ich werde Patenonkel,“ verkündete Bernd stolz.

„Aber du bist doch sowieso schon der Onkel.“

„Ja, aber als Patenonkel übernimmt man eine ganz andere Verantwortung, wenn den Eltern etwas passiert, dann springt man quasi als Ersatzvater ein und man sollte auch dafür Sorge tragen, dass Mutter und Vater das Kind im christlichen Sinne erziehen und...“

Jörn richtete sich auf. „Nun mach aber mal halblang. Du bist doch seit Jahren nicht in der Kirche gewesen und hast dich auch einen Dreck drum geschert, was die da so erzählt haben, und nun willst du Patenonkel werden und am liebsten auch gleich Vater? Hast du mir irgendetwas unterschlagen? Gibt’s schon eine Verlobte im Leben von Bernd Zimmermann, die womöglich auch schon schwanger ist?“

„Ja, mach dich nur lustig. Ich nehme diese neue Aufgabe wirklich sehr ernst. Wenn du meinen kleinen Neffen gesehen hättest, dann würde dir vielleicht auch klar werden, dass es mehr gibt im Leben als ‘ne schnelle Nummer unter der Dusche oder ein geiler Blowjob in der Sendertoilette.“ Jetzt wurde der sonst so sanfte Bernd tatsächlich heftig. „Mir reicht es mit dem Alleinsein, ich habe mir fest vorgenommen eine feste Freundin zu finden. Ich will am Sonntagmorgen aufwachen neben jemandem, der mich gern hat und mir einen Kuchen backt. Ich wünsche mir eine Frau, mit der ich spazieren gehen und Weihnachten feiern kann. Unter anderem.“

„Mach dich mal locker, Alter.“

Jetzt wurde Bernd richtig laut. „Ich WILL mich aber nicht locker machen. Nur weil du Mister Lockerheit persönlich bist, muss das doch nicht für alle anderen auch gelten. Es gibt eben Menschen, denen wird irgendwann klar, dass sie nicht dafür gemacht sind, immer alleine zu sein. Ich bin nicht so ein überzeugter Single wie du!“ Er versuchte, auf dem flachen Sessel eine Haltung einzunehmen, die es ihm erlaubte zu trinken und zu schimpfen und dabei noch imposant auszusehen. Diese Anstrengung führte immerhin dazu, dass er sich im Ton wieder mäßigte. „Klar ist es immer cool, mit dir abzuhängen und in Bars Weiber anzumachen, aber bei mir funktioniert das doch ohnehin nur, weil die Ladies über mich an dich herankommen wollen. In mich hat sich noch nie eine richtig verliebt.“

 

Jetzt wurde Jörn klar, woher der Wind wehte. „Du hast Franzi getroffen!“ In Nagellack-Franziska war Bernd aus der Ferne schwer verliebt gewesen. Er fand, sie erinnerte optisch an Cleopatra im Asterix-Comic, unnahbar und strahlend schön, wie sie auf ihn wirkte. Dementsprechend hatte er es kaum verkraftet, dass Jörn seine Kollegin bereits nach kurzer Zeit wieder abserviert hatte. Franzi hatte damals den Kontakt zu Bernd aufgenommen und sich mehrmals mit ihm getroffen, um die kurze Beziehung zu Jörn von vorn bis hinten durchzukauen und zu analysieren. Mit dem Fachmann sozusagen. Dem Jörn-Experten. Dabei hatte Bernd sich immer mehr in Franziska verliebt, sich aber nie getraut es ihr zu sagen, aus Angst vor einer Enttäuschung. Stattdessen hatte er sich mit der Freundschaft zu seiner Angebeteten zufrieden gegeben. Inzwischen war die große Verliebtheit tatsächlich einer kumpeligen Freundschaft auf Gegenseitigkeit gewichen. Die beiden sahen sich immer noch ab und zu, auf einen Kaffee oder ein Glas Wein. Franzi hatte keinen Freund und Bernd keine Freundin, da war es manchmal ganz praktisch, jemanden anrufen zu können, der einen zum Beispiel ins Kino begleitete, wenn der beste Freund keine Zeit oder Lust hatte. Aber jedes Mal, wenn Bernd sich ausführlich mit Franziska über die Psyche seines Freundes und Männer im Allgemeinen ausgetauscht hatte, kam er anschließend mit Liebe-für-die-Ewigkeit-Geschichten und romantischen Ideen. Jörn wartete schon auf den Tag, an dem er romantische Filme mit Meg Ryan mitbrachte. Jetzt ließ er, wie ein Hund, der sich ein Stück Braten vom Esstisch gestohlen hat, verlegen den Kopf sinken. „Bernd, Mann lass mich mit Franzi in Ruhe. Ich hab es dir damals schon gesagt und sag es dir gerne heute wieder. Die Alte hat sie nicht alle. Darf ich dich daran erinnern, dass die hier schon gleich in der zweiten Woche Pärchenabend machen wollte mit Kartenspielen und „Weinchen“, und dass du leider nicht eingeladen werden konntest, weil dir zu einem Pärchen der weibliche Part einfach fehlte?“ Bernd schüttelte zaghaft den Kopf. „Und weißt du nicht mehr, wie anstrengend die wurde, wenn man mal mehr als einen Malt trinken wollte? Dieses Gejaule von wegen „denk doch an das frühe Aufstehen morgen, und für die Gesundheit ist dieser hohe Alkoholgehalt auch nicht das Richtige“. Bernd, wenn ich eine Mutter brauche, dann rufe ich lieber dich an, als mir von einer Frau, die weniger Schuhe im Schrank hat als ich, erklären zu lassen, wie das Leben funktioniert. Die Bezeichnung „Spaßbremse“ ist für die Tante echt noch ein Kompliment. Leider habe ich das nicht von Anfang an durchschaut.“

Kurz begehrte Bernd noch einmal auf. „Du weißt schon, dass Franziska eine sehr kluge Frau ist, die es im Grunde gar nicht nötig hätte bei so einem Sender wie Radio Null zu arbeiten? Die hätte gar keine Schwierigkeiten, sofort einen Job zum Beispiel beim Spiegel zu bekommen oder bei sternTV. Weißt du, was die schon alles gemacht hat nach ihrem Volontariat? Allein die Auslandsaufenthalte, die die beruflich hinter sich hat...“

„Ach Bernd, lass uns lieber von etwas anderem reden. In Sachen Franziska kommen wir doch nie auf einen Nenner. Ich bin einfach nur genervt von der und wenn du sie morgens in den Sitzungen bei Radio Null erleben würdest, dann wäre die auch ihre berufliche Erfahrung egal, das sage ich dir. Und du findest Franziska interessant und lebenserfahren und tauscht dich gerne mit ihr aus. Lass uns über etwas anderes reden.“ Jörn angelte nach der Fernbedienung, die auf dem Fußboden halb unter einen Sitz gerutscht war. Bernd rutschte auf dem Sessel vor und stellte sein Glas schwungvoll auf einem der kleinen Tische ab. „Ich will mein Leben auf jeden Fall ändern und habe mir etwas überlegt.“ Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein, bevor er weiter sprach. „Ich werde jetzt Zeichenkurse anbieten.“ Bernd verschränkte die Finger wie zum Gebet und sah Jörn erwartungsvoll an.

„Zeichenkurse? Und da willst du dann die Frau fürs Leben finden? Oder malst du dir die da gleich selber?“

„Ich hab mir das gut überlegt.“ Bernd war selber ganz begeistert von seiner Idee. „Die Ladys mögen meine Bilder, aber auf den Vernissagen erwarten die immer einen langhaarigen Hippie mit schwarzer Denkerbrille statt jemanden wie mich. Ist ja immer wieder passiert, dass die dann mit meinem Agenten oder dem jeweiligen Galeriebesitzer abgezogen sind.“ Jörn erinnerte sich dunkel an einen Abend vor gar nicht allzu langer Zeit, an dem eine sehr attraktive Blondine tatsächlich mit dem Galeriebesitzer verschwunden war. Und der hatte auch tatsächlich eine Wim-Wenders-Gedächtnisbrille getragen. Bernd schaute Jörn vorwurfsvoll an. „Oder sie sind mit dir in der Kiste gelandet .“

„Ach so, ich verstehe und nun willst du den Damen erst zeigen, dass du nicht aussiehst wie George Clooney oder irgend so ein Durchschnittsintellektueller aus Prenzlauer Berg und wenn sie dann immer noch in deinen Zeichenkurs kommen, dann hast du sie im Sack? Dann ist der oberflächlich denkende und nur an Äußerlichkeiten interessierte Damendreck schon mal vorsortiert, oder wie? Dann hast du nur diejenigen dabei, die in erster Linie kunstinteressiert sind und denen ganz egal ist, wie der Maler aussieht, wenn er nur den Pinsel richtig schwingen kann?“ Bernd runzelte aufgrund der zweideutigen Anspielung die Stirn. Inzwischen hatte Jörn die Fernbedienung gefunden und richtete sie auf den Bildschirm, auf dem es daraufhin kurz knackte, dann sah man die Kulisse von „Deutschland sucht den Superstar“ und Dieter Bohlen.

Bernd sah kurz genervt zum Bildschirm. Offensichtlich hatte er etwas mehr Begeisterung für seine Idee erwartet. „Meinst du nicht, dass das klappen könnte? Wenn die mich dann richtig kennenlernen beim Zeichnen, dann wissen die doch, dass ich kein schlechter Kerl bin und vielleicht ist dann ja doch eine dabei, die zum einen meine Liebe zur Kunst teilt und zum anderen...“

„...eine Liebe zum Künstler selbst entwickelt. Doch, klar. Das könnte funktionieren.“ Jörn war mit den Gedanken schon bei Bohlen, fragte sich, was der wohl nach der Sendung mit der scharfen Sängerin von Cascada anstellte, die ebenfalls in der Jury der Castingshow saß. Bernd seufzte resigniert und schälte sich aus dem Sitzmöbel. Ihm war klar, dass er mit Jörn nicht tiefer in das Thema einsteigen würde heute Abend. Auch wenn er ein klein wenig mehr Hilfestellung erwartet hatte, versuchte er, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Vielleicht würde er das Thema beim nächsten Treffen mit Franziska besprechen. Oder mit Oma Annie. „Hast du noch irgendwo Chips oder Flips versteckt?“

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