Oliver Hell - Feuervogel

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From the series: Oliver Hell #5
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Hvide Sande

Das Glöckchen über der Eingangstür zu Kjell Klofts Laden klingelte. Kloft rief aus dem Hinterzimmer: »Ich komme sofort, einen Moment bitte!«

Als er den Vorhang, der seinen Laden von der kleinen Stube dahinter trennte, beiseiteschob, stand bereits sein Freund Petter Johansson vor ihm. Er sah in sein sorgenvolles Gesicht.

»Der Retriever ist verschwunden«, sagte er ohne einen Gruß.

»Was?«

»Der Hund ist weg. Ich wollte ihm eben frisches Wasser geben und ihn füttern, da habe ich gesehen, dass die Tür aufgebrochen wurde.« Er hob die Arme und ließ sie wieder fallen.

»Aufgebrochen?«

»Hör mir doch zu! Ja, aufgebrochen.« In seiner Stimme mischte sich Aggression mit Verzweiflung.

»Ob das die Polizei war? Was denkst du?«, fragte Kloft, ohne weiter nachzudenken.

»Dann wären die auch schon bei uns gewesen, klar. Es steht ja auch unser Name dran«, sagte er kopfschüttelnd, zog aber trotzdem besorgt die Augenbrauen zusammen.

»Stimmt. Die alte Kate ist keinem von uns zuzuordnen, wie sollten die dann auf uns kommen? Du hast recht. Aber wer war es dann?« Kloft schüttelte den Kopf über seine eigenen Gedanken.

»Jemand, der zufällig vorbeigekommen ist. Und dann hat er den Hund gesehen und ihn mitgenommen. Der geht ja mit jedem mit, das Schaf.«

Kloft nickte. »Ob es die Besitzer waren?«

»Blödsinn. Die geben ihn nicht erst in unsere Hände, damit sie ihn dann wieder stehlen. Nein. Und außerdem wussten sie nicht, wo wir den Hund untergebracht hatten.«

»Dann kann es nur jemand gewesen sein, der zufällig vorbeikam«, sagte Kloft und räumte die Dosen mit Tomaten ins Regal, die er aus dem Lager geholt hatte.

»Nein, wir haben bisher eine Möglichkeit außer Acht gelassen«, sagte Petter Johansson und presste seine Lippen aufeinander.

»Welche denn?«

»Jemand hat uns beobachtet. Der hat sich auch den Hund geholt.«

»Was? Warum? Wer soll uns denn beobachtet haben? Wir alle sind doch immer so vorsichtig. Nein, das glaube ich nicht.« Er schüttelte energisch den Kopf.

»Wir beiden wissen, dass wir vorsichtig sind. Aber was ist mit Merit?«

Kloft riss die Augen auf. »Merit? Nein, das glaube ich nicht. Wir können ihr vertrauen, auch wenn sie keine Dänin ist.«

»Das hat nichts mit Vertrauen zu tun. Ich habe mich deinetwegen darauf eingelassen, sie mit ins Team zu holen. Das weißt du, Kjell«, sagte Johansson.

»Und? Was soll ich jetzt sagen? Sollen wir ihr sagen, dass wir auf ihre Mitarbeit verzichten, weil ein Hund verschwunden ist? Solch eine blöde Idee kannst du nicht wirklich haben.«

»Wir müssen ein Auge auf sie haben, das ist alles, was ich von dir verlange.«

Er zuckte mit den Achseln, eine Geste der Hilflosigkeit. Sein Blick huschte zwischen den Dosen, die Kloft weiterhin in das Regal stellte, und dem Vorhang hin und her. Er wirkte gereizt und Kloft kannte dieses Verhalten an seinem alten Freund nicht.

»Du kannst ihr gerne hinterher spionieren, aber erwarte nicht von mir, dass ich da mitziehe.«

Wahrscheinlich wusste Johansson nicht einmal, dass er sich wie ein Trottel benahm. Kloft grinste ihn an, sein Freund blickte nur sprachlos.

»Das ist deine Sache, Kjell. Ich habe nur gesagt, dass wir weiter vorsichtig sein müssen.«

»Gut. Sind wir vorsichtig. Wir müssen überlegt herausfinden, was mit dem Hund passiert ist.«

Johansson schaute auf seine Armbanduhr. Es war halb vier nachmittags. Er schüttelte plötzlich den Kopf, hob die Hand und ging mit schnellen Schritten zur Ladentür. Als kurz drauf wieder das Glöckchen klingelte, sah Kloft seinem Freund immer noch nach. Es meldete sich seine innere Stimme. Johansson hatte recht, wenn er sich Gedanken machte. Immerhin stand ihre Freiheit auf dem Spiel. Aber deshalb meldete sich die innere Stimme nicht. Er hatte keine Angst, sich für seine Überzeugung einzusetzen. Irgendetwas war mehr als seltsam am Verschwinden des Tieres, aber er vermochte noch nicht zu sagen, was.

*

Ribe

Kurz vor Ribe war Franziska wieder aufgewacht. Hell warf ihr den Wohnmobilführer nach hinten, dem sie sofort die passenden Geheimnisse für dieses kleine mittelalterliche Städtchen entlockte.

»Es soll hier sogar etwas außerhalb einen kostenlosen Wohnmobilstellplatz geben«, erläuterte sie nach kurzer Zeit.

»Da wir nur ein paar Stunden in Ribe verbringen wollen, sollten wir natürlich möglichst zentrumsnah parken.«

Franziska lotste Hell mit dem Wohnmobil zu einem Parkplatz gleich gegenüber einem Hostel und dem Busparkplatz, auch wenn die dortige Verwirrung der Beschilderung nicht besser sein könnte.

Hell rollte trotzdem wieder rückwärts in die Parklücke. Diese Übung hatte er jetzt schon in Perfektion drauf. So stand dem kleinen Spaziergang ins nahe gelegene Mittelalterstädtchen Ribe nichts mehr im Weg.

»Ich bin froh, mich wieder bewegen zu können«, sagte Franziska und schnappte sich die Tüte mit den Fischbrötchen aus dem Kühlschrank.

Schon auf dem Weg ins Zentrum wurden einige Parallelen zur Stadt Husum wach. Auch hier fanden sie einen kleinen Kanal mit Schiffen und einige kleine Häuschen am Hafen vor, die durchaus früher einmal Kontore oder zumindest Lagerhäuser gewesen sein könnten.

Ribe erwies sich als eine kleine, pittoreske Stadt. Nachdem sie recht schnell im Zentrum von Ribe standen, orientierten sich Hell und Franziska zunächst nach rechts und spazierten die wirklich sehr mittelalterlich anmutende Stadt mit Ihren engen Gassen und Wegen entlang.

Franziska fand die Häuser faszinierend. »Ich würde mich in einem solchen Haus wohlfühlen, da bin ich mir sicher«, sagte sie, als sie vor einem klassischen Fachwerkbau mit kleinen Fenstern und einer teilweise beängstigenden Schieflage standen. Hells Augen wanderten an den schiefen Balken entlang und er stellte sich vor, dass der Fußboden drinnen eine ähnliche Neigung aufwies.

»Schön sind diese Häuser, nur wohnen würde ich in einem solchen Haus nicht wollen. Aber von außen sieht es nett und urig aus. Das schaue ich mir gerne an.«

Eine Ecke weiter entdecken sie die Touristeninformation, wo sie auch gleich die ersten Postkartenständer von Ribe bestaunten. Bevor Franziska sich an dem nächsten Andenkenladen festsaugen konnte, zog Hell sie weiter. Kurz darauf standen sie vor der Kirche von Ribe, diese hatte gleich zwei Kirchtürme.

Franziska wühlte sofort zu diesem Thema im Reiseführer, nachdem die Frage aufkam, warum die beiden Türme so unterschiedlich waren.

Schließlich erklärte sie Hell auf seinen fragenden Blick nach oben, dass die Kirche zunächst nur einen Turm gehabt hatte, dieser sei dann aber eingestürzt. Also hatte man einen neuen Turm gebaut, aber später dann auch den alten Turm wieder aufgebaut und so hat die Kirche nun zwei Türme.

»Wir gut, dass so ein Missgeschick nicht auch in Köln passiert ist«, scherzte er.

*

Hvide Sande

Sie überlegte, noch ein paar Minuten zu warten, streckte die Hand aus und nahm den Becher aus der Halterung am Armaturenbrett, trank einen Schluck. Der Fahrersitz ihres Ford Bronco war schon sehr durchgesessen und deshalb rutschte sie ein wenig nach links. Ihr Blick blieb auf die Einfahrt des Grundstückes gerichtet. Sie sah hektisch auf die Uhr des Ford, hängte den Becher wieder ein. Es war jetzt halb vier Uhr nachmittags. Sie fischte sich eine Zigarette aus der Packung und drückte den Zigarettenanzünder. Als er wieder heraussprang, zündete sie sich die Kippe an.

Wenn er nicht seine Gewohnheiten total geändert hatte, so sollte er innerhalb der nächsten Minuten nach Hause kommen. Gewohnheiten. Sie waren es unter anderem gewesen, die ihre Ehe mit Nils Ole Andresen ins Aus getrieben hatte.

Merit Holzheuser wartete in einiger Entfernung zu seiner Hofeinfahrt. Seit ihrer Scheidung hatte sie seine Gegenwart gemieden. Nicht wie der Teufel das Weihwasser, aber ihre Lebensumstände wiesen nach der endgültigen Beendung ihrer gemeinsamen Zeit einfach keine Schnittmengen mehr auf. Wenn sie ehrlich war, so hatte sich nicht viel geändert. Der rechte Lokalpolitiker und die Deutsche lebten in einer Zweckgemeinschaft mit schlechtem Ende für sie. Andresen hatte es sehr gut verstanden, sich trotz seiner extremen politischen Ansichten in seiner Partei als Bürgermeisterschafts-Kandidat durchzusetzen. In der Partei galt er trotz allem als Vorzeige-Kandidat. Und sie hatte als seine Frau einen entscheidenden Anteil gehabt. Selbst als sie sich trennten, änderte das nichts an seiner Aufstellung.

Viele Bürger von Hvide Sande vertraten zu seiner Kandidatur aber eine völlig andere Meinung, sie meinten, einen schlechteren Kandidaten könne die Partei nicht nominieren, daher sei er zwangsläufig der Beste. Wäre Merit Holzheuser eine politisch engagierte Person gewesen, sie hätte sicher beste Chancen gehabt, eine leitende Position in einer politischen Partei zu ergattern. Sie hatte eine angenehme Art, Menschen zu überzeugen, mit sachlichen Argumenten, doch das hätte er ihr verboten.

»Wie sieht das aus, wenn meine Frau bei den Demokraten antritt?«, hatte er sie gefragt. Sie hatte ihn nur reden lassen und sich ihre eigene Meinung gebildet.

Einige Monate später hatte es für sie nur noch einen bohrenden Gedanken gegeben: Wie komme ich so schnell wie möglich aus dieser Ehe heraus? Sie hatten sich nichts mehr zu sagen.

Schließlich gab sie dem Leidensdruck nach. Nach einem körperlichen Übergriff ihres Mannes war sie an ihrem emotionalen Tiefpunkt angelangt, sie war es leid gewesen, sich jeden Tag die gleiche Frage zu stellen.

 

Doch heute hatte sie das erste Mal seit einem halben Jahr das Bedürfnis gehabt, mit Nils Ole Andresen zu sprechen. Es würde kein nettes Gespräch werden, darüber war sie sich im Klaren. In ihrem Magen machte sich daher auch ein übles Gefühl breit. Mit fahrigem Blick schaute sie erneut auf die Uhr. Merit Holzheuser legte den Sicherheitsgurt an. Andresen würde nicht mehr kommen.

Gewohnheiten.

Wenn er mit seinem Auto bis jetzt nicht die Auffahrt entlang kam, würde er erst spät am Abend heimkommen. Sehr wahrscheinlich mit dem Taxi und sicherlich betrunken. Sie warf die Zigarette aus dem Fenster, griff zum Zündschlüssel und startete den Motor. Als sie eine Minute später an der Stammkneipe der Partei vorbeifuhr, verriet ihr der Blick auf den Parkplatz, dass er seine Gewohnheiten geändert hatte. Sein Auto stand nicht dort.

*

Ribe

Nachdem sie von Ribe aus losgefahren waren, schnappte sich Franziska wieder die Reiseführer, um auf den nun noch folgenden Kilometern mögliche Sehenswürdigkeiten aufzutun. Sie hielt Hell ein Foto der ‚Männer am Meer‘ hin. Am Meer, nordwestlich der Stadt Esbjerg, stand eine der bekanntesten Skulpturen Dänemarks. Dort bildeten vier weiße Männer, die dort aufs Meer blickten, eines der Wahrzeichen Dänemarks, das man in vielen Reiseführern vorfinden konnte.

»Brauchen wir das? Oder sind wir lieber eine halbe Stunde früher in Hvide Sande?«, fragte er und tat damit seine Skepsis kund. Franziska zog den Reiseführer wieder zurück.

»Ich denke, wir haben genug Kultur für heute getankt und Meer haben wir heute noch genug, wenn wir mit den beiden an den Strand gehen. Also, lassen wir Esbjerg links liegen. Noch weiter westlich liegt noch der Leuchtturm Blavand Fyr, der wird auch als tolles Ausflugsziel beschrieben.«

»Wir haben ja noch eine Rückfahrt vor uns. Wenn wir noch ein paar Dinge haben, die wir uns dort anschauen können, ist es nicht so langweilig, als wenn wir in einem Rutsch zurückfahren«, sagte Hell.

Die Landschaft veränderte sich, je näher sie dem Ringkøbing Fjord kamen. Das platte Land blieb platt, doch wurde die Vegetation immer spärlicher. Aus den lichten Birken– und Nadelholzwäldern, die sie noch nördlich von Esbjerg begleiteten, wurden sandige, mit Gras und Bodendeckern bewachsene Kuppen, auf denen schon die ersten typischen Ferienhäuser zu sehen waren. Als sie das südliche Ende des Fjordes, in der Gegend um Nymindegab erreichten, war von großwüchsiger Vegetation nichts mehr zu sehen. Natürlich gewachsene Wälder gab es so gut wie keine, höchstens ein paar als Windschutz angepflanzte Bäume in den Ferienhaussiedlungen. Aber auch hier war es meistens flach. Der namensgebende Fjord hielt sich hinter Heide und Graslandschaft verborgen.

Als die Straße hinter Nymindegab wieder schnurstracks in Richtung Norden ging, fiel Hell auf der linken Seite der Straße eine große weiße Dünenkuppe auf. Kurzentschlossen lenkte Hell das Wohnmobil auf einen langgestreckten Parkplatz, auf dem als einziges Fahrzeug ein Wohnmobil stand, das ihrem eigenen sehr ähnlich war.

»Hier werden wir unseren ersten Blick auf die Nordsee werfen«, sagte er, während Franziska die abrupte Richtungsänderung nicht mitmachen konnte, weil sie gedanklich noch immer auf der Suche nach dem Wasser des Fjordes war.

»Hey, kündige das doch bitte an«, meckerte sie.

Der Weg zum Strand war mit zwei weiß-rot-gestreiften Schranken abgesperrt. Hell parkte das Wohnmobil.

»Ich möchte jetzt sofort Sand unter die Füße haben«, sagte er.

»Sollten wir nicht Stephanie eine Nachricht schicken und ihr sagen, dass wir vor der Tür stehen?«

»Ja, mach ich. Sobald ich den Sand unter meinen Füßen spüre.« Hell drehte den Fahrersitz nach rechts und überlegte, wohin er seine Sandalen gepackt hatte. Er fand sie dort, wo sie alle ihre Schuhe aufbewahrten.

Hell trat vor das Wohnmobil und versuchte, hinter den sanften Hügeln irgendwo einen Blick auf das Meer werfen zu können. Vergebens.

Franziska trat neben ihn. Sie trug einen Strohhut, den Hell bisher noch nie auf ihrem Kopf erblickt hatte.

»Schick, sehr kleidsam.«

Mit einer beinahe königlichen Geste setzte sie sich ihre Sonnenbrille auf.

»Kamera? Handy? Alles dabei?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Hell und verschwand wieder im Wohnmobil. Mit seinem Baseball-Cap auf dem Kopf und geschulterter Kameratasche schloss er die Türen des Wohnmobils ab.

»Komm«, sagte er und hielt Franziska die Hand hin.

Als sie fünf Minuten später auf dem Dünenkamm standen, hatten sie nicht nur die Straße hinter sich gelassen, Oliver Hell und Franziska Leck hatten soeben ihren Urlaub begonnen. Sie blieben eine Weile auf dem Dünenkamm stehen. Vor ihnen breitete sich der weitläufige Strand aus, den viele als den schönsten Dänemarks bezeichneten.

Sand, Meer, Himmel, Wolken, Weite.

Links und rechts rauschte das Dünengras im sanften Windhauch. Franziska drehte sich um. »Sieh mal, dahinten ist der Fjord und hier kannst du ja kilometerweit laufen. Ist das traumhaft, Oliver!«, jauchzte sie.

Hell fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. Sand lief ihm in die Sandalen, doch es störte ihn nicht.

Vor ihnen fiel der sandige Weg steil ab. Der feine Sand war strahlend weiß. Hell zog sich mit einer kurzen Geste die Sonnenbrille von der Nase. Sofort wurde er geblendet, was ihn dazu brachte, sich eilig wieder die Brille auf die Nase zu schieben. Am Strand lagen noch ein paar kleine Bunker, die seit dem Zweiten Weltkrieg hier immer weiter im Sand versanken. Sie näherten sich langsam dem Meer, Hand in Hand.

Franziska bemerkte, dass sich am Strand außer ihnen nur ein weiteres Paar befand. Eine Person badete und die andere saß am Strand, nahe der Wasserlinie.

»Wollen wir auch schwimmen gehen?«

»Ich hab keinen Badeanzug an«, sagte Franziska zweifelnd.

»Brauchst du einen?«, fragte Hell schmunzelnd.

*

Kapitel 2

Hvide Sande

Hell parkte das Wohnmobil auf dem Parkplatz schräg gegenüber von dem kleinen Supermarkt, der die dahinterliegende Ferienhaussiedlung mit den nötigsten Lebensmitteln versorgte. Es hatte keine zwei Sekunden gedauert, um sich daran zu erinnern, dass er genau hier vor über zwanzig Jahren zusammen mit seiner Frau Urlaub gemacht hatte.

»Ich war hier schon«, sagte Hell zu Franziska.

»Ja?«

Hell hörte am Klang ihrer Stimme, dass sie nicht verstand, was er damit meinte.

»Ich meine, ich habe genau hier schon einmal Urlaub gemacht. Mit meiner Frau. Den Supermarkt dort erkenne ich.«

»Ach, was für ein Zufall. Wie heißt das denn hier?«

»Bjerregaard. Ein paar Meter weiter auf der anderen Seite gab es früher eine Fischräucherei. Direkt neben einem privaten Windrad.«

Hell lehnte sich nach vorne und stützte sich auf dem Armaturenbrett ab. Dann zeigte er begeistert auf die andere Straßenseite.

»Siehst du, dort steht das Windrad noch. Verrückt! Ob die Räucherei auch noch da ist?« Sofort hatte er wieder ein Bild vor sich: Ein riesiger Teller voller Krabben, die gepult werden mussten und eine eiskalte Flasche Aquavit, die vor ihm auf dem Tisch stand.

»Das kannst du ja später noch erkunden, jetzt müssen wir erstmal auf Stephanie und Sarah warten«, sagte sie mit einem milden Ausdruck auf ihrem Gesicht.

»Das ist ein bisschen, als würde jemand eine Zeitkapsel öffnen«, sagte Hell und löste langsam den Sicherheitsgurt.

Der Supermarkt schien wirklich nicht groß verändert, daneben gab es immer noch den Verschlag mit der Holztür, wo man die gebrauchten Gasflaschen gegen neue tauschen konnte. Ein kleiner Imbiss hatte seinen Standort beibehalten, selbst das Schild über dem Eingang hatte sich in seiner Erinnerung nicht verändert. Bjerregaard Købmandshandel‘ stand dort zwei Mal, gelb auf schwarzem Grund. Nebeneinander, als würde einmal nicht ausreichen. Er erinnerte sich, dass sie sich schon vor zwanzig Jahren darüber amüsiert hatten. Und: ‚7 Tage die Woche geöffnet‘. Dieser Hinweis auf Deutsch neben dem Dänischen machte klar, wer hier die Majorität der Touristen stellte.

Über seinen Mund flog ein Lächeln. Er blickte nach links die Straße hinunter, die in das Ferienhausgebiet führte. Wie hieß sie noch gleich? Während er noch darüber sinnierte, sah er in einiger Entfernung zwei Frauen näherkommen. Er erkannte seine Kollegin Stephanie Beisiegel sofort an ihrem Gang.

»Sie kommen, sieh die Straße hinunter«, sagte er und Franziska bückte sich, um durch das Fenster über der Sitzgruppe zu schauen. Hell schaltete das Navigationsgerät aus und notierte sich den Kilometerstand auf einem Zettel, den er zurück auf das Armaturenbrett legte.

Sie kletterten aus dem Wohnmobil und gingen den beiden Frauen entgegen. Stephanie Beisiegel strahlte über das ganze Gesicht, als sie sich trafen.

»Da seid ihr ja endlich, wie war die Fahrt?«, fragte sie und nahm den überraschten Hell sofort in die Arme. Sein Basecap rutschte vom Kopf und segelte auf den Boden.

»Hey, Kollegin, nicht so stürmisch«, sagte er, hob sein Cap auf, schlug es einmal gegen sein rechtes Bein, um den Staub abzuklopfen und gab dann Sarah Smysiak höflich die Hand.

»Keine Angst, ich werde Ihre Kopfbedeckung nicht in Gefahr bringen«, sagte sie und beließ ihre Begrüßung bei einem herzlichen, aber kräftigen Händedruck.

Franziska musste ebenfalls eine Knuddelattacke der Gerichtsmedizinerin über sich ergehen lassen.

»Habt ihr Hunger? Ihr müsst Hunger haben, wir haben Unmengen von Spaghetti gekocht«, sagte sie und zog Franziska am Arm, »Ach ja, das Wohnmobil. Wir haben herausgefunden, dass direkt gegenüber auch ein Stellplatz ist. Für die erste Nacht ist das sicher eine gute Alternative, schließlich wartet im Eisfach schon der Aquavit.«

Sie zwinkerte Hell zu. Der erinnerte sich an ihr Gespräch, das diesen Plan mit dem gemeinsamen Urlaub überhaupt erst in die Welt gebracht hatte. Mal gepflegt einen zechen und dabei eine Runde pokern, so hatte sie sich ausgedrückt. Und nun standen sie zusammen in der Nähe ihres Wohnmobils in Dänemark.

»Das ist sicher eine gute Idee. Denkt ihr, wir können das Wohnmobil erst mal hier stehen lassen?«, fragte Hell und blickte sich unsicher um.

»Du solltest besser gleich herübergehen, oder besser fahren, je nachdem, wie euer Aquavit-Zuspruch ausfällt«, mahnte Franziska.

»Wir fahren alle rüber. Ich bin noch nie mit einem Wohnmobil gefahren«, regte Sarah Smysiak an. Sie blickte von einem zum anderen.

»Okay, das können wir so machen. Aber ich möchte jetzt gerne euer Ferienhaus sehen«, sagte Hell, doch sein Einspruch blieb ungehört.

»Wohnmobil«, sagte Stephanie Beisiegel, hakte sich bei ihrer Freundin ein und griff auch Franziska Leck bei der Hand. Hell sah sich einer neuen Allianz gegenüber.

»Oh Mann, wenn ich das gewusst hätte, ich hätte noch einen Mann mitgenommen«, sagte er und kramte den Schlüssel wieder aus der Tasche.

»Was willst du denn damit sagen?«, fragte Franziska und schob Hell sanft vor sich her.

»Gegen drei Frauen stehe ich auf verlorenem Posten, das meine ich damit.«

»Ach so ist das. Deshalb hast du nur zwei Frauen im Team«, redete Stephanie Beisiegel drauf los, als Hell den Schlüssel in das Schloss des Wohnmobils steckte.

»Gut erkannt«, antwortete Hell, »Darf ich die Damen nun bitten, die Sicherheitsgurte anzulegen und das Rauchen einzustellen.«

Die Fahrt auf den Campingplatz dauerte genau eine Minute und sie hinterließ zwei völlig begeisterte Frauen, die schon vor der Rezeption Pläne für einen gemeinsamen Urlaub im Wohnmobil schmiedeten. Hell sah sich, bevor sie die kleine Hütte betraten, in der Umgebung um. Das Windrad drehte sich nicht, aber es sah noch intakt aus. Wegen des flauen Windes stand es sicher still. Die alte Fischräucherei war noch genau an der Stelle, wo er sie vermutete.

Hell trat ein und bekam an der Rezeption bestätigt, dass seine Camping-Card des ACSI hier akzeptiert wurde. Die hatte er noch vor der Abfahrt bekommen, weil er dem Tipp des Wohnmobil-Vermieters gefolgt war.

»Sie haben ein Wohnmobil und Sie sind zu viert?«, fragte die Dame hinter dem Tresen.

 

„Zu zweit.“

„Aber ich sehe noch drei Personen!“, protestierte die Frau.

„Das sind Freunde, die wohnen gegenüber in einem Ferienhaus.“

„Sicher?“

Hell bestätigte es ihr.

»Sie haben einen Hund dabei?«

»Nein, keinen Hund.«

»Hunde kosten extra und wir wollen keine Kampfhunde hier haben«, sagte sie und schob sich die Brille in die Haare.

Hell schüttelte den Kopf. »Keinen Kampfhund, noch nicht einmal einen ganz kleinen.« Er versuchte ein gequältes Lächeln.

»Sehr gut. Haben Sie eine Camping-Card?«

Hörte er richtig? Fragte die Dame an der Rezeption wieder nach seiner Camping-Card?

»Die habe ich Ihnen doch gerade gezeigt!«, sagte Hell und zeigte ihr etwas verwirrt seine ACSI Camping-Card.

»Aber doch nicht die! Sie brauchen eine richtige Camping-Card!

»Entschuldigen Sie, was ist eine richtige Camping-Card?«

Die Rezeptionistin kramte mit einem unwirschen Gesichtsausdruck eine Plastikkarte aus einer Schublade und legte sie vor ihm auf den Tresen.

‚Scandinavian Camping Card‘ las er darauf.

»Sie sind nicht oft im Norden unterwegs?«

Und dann fiel es Hell wieder ein! Diese Karte hatte der Vermieter ebenfalls erwähnt, allerdings ohne ihm zu erklären, dass diese Camping-Card beinahe obligatorisch war.

»Sorry, aber ich habe diese Karte nicht.«

Sofort zog sie ein Formular aus der Schublade und gab Hell einige Hinweise zum Ausfüllen.

Kurz drauf rumpelte das Wohnmobil über die unebene Zufahrt. Sie suchten sich einen Platz aus, was nicht einfach war, denn der Campingplatz war klein und sehr gut besucht. Sie fanden trotzdem noch einen schönen Platz, nahe am Fjord. Hell parkte das Wohnmobil so auf der Wiese, das sie beim Frühstück auf den Fjord blicken konnten.

»Wenn das mal keine herrliche Aussicht für ein himmlisches Frühstück ist«, sagte Franziska und küsste ihn auf die Stirn.

»Ja, genau das habe ich auch im Kopf gehabt. Auf einen wunderbaren Urlaub«, sagte er und umarmte Franziska.

*

Um viertel vor sieben rief Kjell Kloft bei Merit Holzheuser auf dem Handy an. Er hatte den ganzen Tag über vergeblich versucht, sie zu erreichen.

Während er ungeduldig dem Klingeln lauschte, rieb er sich ungeduldig mit dem Zeigefinger unter der Nase.

»Mist«, rief er, als die Mailbox zum wiederholten Mal ansprang. Er beendete den Versuch, vermied es, ihr die dritte Nachricht an diesem Tag auf die Mailbox zu sprechen.

Wo war sie?

Wieso beantwortete sie seine Anrufe nicht?

Hatte Petter recht mit seiner Vermutung?

Kloft schaute auf seine Armbanduhr. Erst in einer Viertelstunde konnte er den Laden schließen. Erst recht, da er den Laden verspätet geöffnet hatte. Er beschloss, bei Ihr vorbeizufahren, hoffentlich würde er sie antreffen.

Das zarte Gebimmel der Glöckchen riss ihn zurück in die Realität. Er drehte sich um und erschrak.

*

Auf dem Tisch vor Oliver Hell stand eine Flasche Aquavit, halbleer. Beinahe ein Déjà vu, dachte er mit einem unmerklichen Lächeln.

Er legte die Gabel neben den Löffel in den Teller, nachdem er schon die zweite Portion Spaghetti gegessen hatte.

»Nimm noch Spaghetti«, forderte Stephanie Beisiegel ihn auf. Hell lehnte ab und hielt die rechte Hand über den Teller.

»Mann oder Memme?«, fragte Sarah Smysiak und ihre Hand kreiste mit der gefüllten Spaghetti-Gabel über Hells Hand. Die Nudeln berührten sie beinahe.

»Vielleicht später, danke.«

Die Gabel drohte nicht mehr und Hell griff zum Aquavit. Wie Öl floss der Alkohol in sein Glas. Die Eisschicht auf der Flasche war schon geschmolzen und hatte einen feuchten Kranz auf der Tischdecke hinterlassen. Er wischte seine Hand an der Serviette ab und hob das Glas.

Die Sonne stand nicht mehr hoch am Himmel, es war schon halb acht. Golden funkelte das Getränk im Glas.

»Prost«, sagte er und führte das Getränk an die Lippen.

Das Haus, in dessen Garten sie nun saßen, war nicht weit von den Dünen entfernt. Die grasbewachsenen Hügel schimmerten verlockend in der Abendsonne. Hell schätzte, es würden vielleicht noch fünfzig Meter sein. Drei oder vier Grundstücke grenzten an diese Parzelle. Am Ende des Weges, auf dem sie zu dem Haus gelangt waren, war ein Durchgang, der direkt zum Strand führte. Der Durchgang war mit zwei dicken Tauen abgesperrt, die jeweils zwischen zwei Pfähle gespannt war, damit sollten die Motorradfahrer davon abgehalten werden, diese Zugänge zu nutzen.

Der moderne Stuhl, auf dem Hell saß, gehörte zu einer Garnitur, die auf einer Veranda stand, die aus Bangkirai-Holz gefertigt war, wie man es auch auf vielen Terrassen in Deutschland fand. Das Holzhaus war weiß gestrichen und hatte, anders als viele andere, ein graues Dach. Innen war es hell und freundlich mit sehr hellen Nut- und Feder-Brettern verkleidet. Richtung Süden öffnete sich die große Veranda, die lang gezogenen Fenster ließen das Sonnenlicht weit in die Wohnung fallen, denn sie endeten erst direkt unter dem Dach. Die Einrichtung war nicht komfortabel, eher zweckmäßig, aber es gab ein paar Highlights, wie einen Whirlpool und einen Kaminofen. Stephanie und Sarah hatten mehr Wert auf die direkte Lage an der Düne und das Baujahr gelegt. Alles machte den Eindruck, als sei es eben erst ausgepackt und aufgestellt, auch die Betten. Es gab drei Schlafzimmer, von denen Sarah und Stephanie nur zwei nutzten. Im dritten könnten Franziska und Hell schlafen, wenn es sich ergeben würde.

Ein weiteres Highlight war die umlaufende Terrasse, auf der man den ganzen Tag über die Sonne genießen konnte. Genau dort saßen sie jetzt, der Aquavit kämpfte gegen die Massen an Spaghetti mit köstlichen Scampi, die sie verzehrt hatten.

Hell stand schwerfällig auf. »Sagt mal, wer kommt mit an den Strand? Ich kann es nicht mehr aushalten!«

»Wir scheinen alle zu faul zu sein«, antwortete Franziska und rekelte sich in dem bequemen Sessel.

»Wer sollte es mir verbieten?«, fragte Hell. Die drei Frauen wechselten schnell einen Blick. Stephanie war dann doch aufgestanden.

»Ist schon gut, ihr kennt den Strand ja noch nicht. Also machen wir einen Verdauungsspaziergang.«

Die Beisiegel hat halt eben doch das Vorgesetzten-Gen, dachte Hell. Sie verschlossen das Haus und setzten sich in Bewegung.

Sarah Smysiak führte sie bereitwillig den sandigen Weg entlang, sie schlängelten sich zwischen der Sperre hindurch. Hell fasste im Vorbeigehen das starke Tau an. Sie kletterten die Düne hinauf, nicht weit, dann standen sie schon oben. Hell war fasziniert. Das war also hier der tägliche Blick in die Welt. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass man in solch einer Umgebung keine bösen Gedanken hegen konnte. Hier konnte man sich doch innerhalb von einer halben Stunde vom Tagesstress regenerieren. Wer hatte da noch schlechte Laune?

»Habt ihr schon jemanden gesehen, der schlecht gelaunt war?«, fragte Hell die beiden Frauen, die schon einen Tag länger hier waren.

Die Angesprochenen schauten sich an, doch schienen sie von seiner Frage nicht überrascht zu sein.

»Ja, natürlich. Der Mann vorne in dem Kaufmannsladen hat immer schlechte Laune.«

»Oh, das hätte ich jetzt nicht gedacht«, antwortete Hell überrascht.

»Ist das wichtig?«, fragte Franziska.

Hell schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das war nur so ein Gedanke, mehr nicht.«

»Was für ein Gedanke?«, bohrte sie weiter.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass man hier wohnt und schlechte Laune hat. Das Meer ist doch ein Gute-Laune-Elixier.«

»Ach so, deshalb die Frage.«

»Hmh«, brummte Hell und kletterte auf der anderen Seite der Düne hinunter.

Seine Schritte beschleunigten von ganz alleine, und als er schließlich die Düne hinunterstürmte, stieß er einen Jubelschrei aus.

»Okay, das ist also der berühmte und von allen Verbrechern gefürchtete Ermittler Oliver Hell aus Bonn«, scherzte Sarah Smysiak. Man hätte ihr Grinsen falsch verstehen können, doch es war ehrlich gemeint. Sie fand Männer attraktiv, denen man dann und wann das Kind im Manne noch ansah.