666 Der Tod des Hexers

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„Das Blut stammt von Fabrice“, gab sie deshalb zu.

„Eurem Gesangstalent?“, höhnte Klaus.

„Ja … nee … Das hat sich gestern Abend ausgesungen mit dem Arsch“, erklärte sie.

„Ihr habt ihn also endlich gefeuert?“ Die schadenfrohe Erleichterung in seiner Stimme war überdeutlich zu vernehmen. Sarika wusste, dass ihr Vater Fabrice vom ersten Moment an nicht hatte leiden können. Sie hatte das zuerst anders gesehen … anders sehen wollen. Der Typ sah gut aus, seine Gesangsstimme war nicht schlecht, taugte aber für die Art von Musik, die sie machen wollten, nicht wirklich. Fabrice wäre vermutlich in einer Schlagercombo besser aufgehoben. Wenn er lauter oder höher sang, wie es im Metal häufig vorkam, kippte seine Stimme und war nur noch Geschrei abseits der Tonlage. Sarika hatte sich von ihm blenden lassen. Ja, sie hatte sogar einen Moment geglaubt, etwas für ihn zu empfinden. Doch da war sie nicht die Einzige gewesen. Fabrice hatte alles angegraben, was nicht bei drei auf den Bäumen war.

„Ja, haben wir“, bestätigte sie, obwohl es nicht ganz dem entsprach, was geschehen war. Doch was zählte, war schließlich das Endergebnis.

„Und? Habt ihr schon jemand Neuen?“, wollte Klaus wissen. Sarika verdrehte die Augen. Irgendwie war ihr das heute Morgen viel zu viel Konversation.

„Nee, wir überlegen noch. Es gibt Ideen, is aber jetzt auch nicht so wichtig“, wich sie aus und griff sich ihr Mobiltelefon vom Tisch, um zu schauen, ob es eventuell Kommentare oder Posts zu dem gestrigen Auftritt bei Instagram, Facebook und Co. gab.

Bereits einer der ersten Beiträge in ihrer Timeline erweckte Sarikas Aufmerksamkeit. Fabrice, ihr Ex-Frontmann, hatte ein Video auf der Fanpage der Band hochgeladen und geteilt. Sie klickte darauf und schaltete den Ton ein. Der würde doch jetzt hoffentlich nicht öffentlich über seinen Abgang aus der Band lamentieren. So ein Mist. Sie hätte ihm gestern Abend noch die Adminrechte auf die Witchwar-Page aberkennen sollen.

Das Filmchen war von schlechter Qualität. Alles viel zu dunkel. Das Einzige, was man erkennen konnte, war Fabrices Gesicht. Sein Auge war zugeschwollen und blutunterlaufen. Hatte sie tatsächlich so hart zugeschlagen? Vielleicht wegen des Schlüsselbundes? Auf seiner Stirn war, vermutlich mit Blut, die Zahl 666 geschmiert oder sogar eingeritzt worden. Das Licht flackerte auf seinem ansonsten blassen Antlitz. Sarika kniff die Augen zusammen und sah genau hin. Ja, das schienen eindeutig Kerzen zu sein, die sich in seinen glasigen Pupillen spiegelten. Fabrice weinte. Wobei das nichts heißen musste, da er dies, wie Sarika glaubte, auf Kommando konnte. Der Typ war ein Waschweib sondergleichen.

„Mein Name ist Fabrice Gladenberg. Ich bekenne mich schuldig der Hexerei. Ich habe dem Zauberlaster gefrönt und mehrfach bösen Zauber getan. Ich habe mit dem Teufel gebuhlt und bin von Gott abgefallen“, wimmerte Fabrice. Sarika starrte mit aufgerissenem Mund gebannt auf den kleinen Bildschirm. So eine Wahnsinnsshow und ein schauspielerisches Talent hätte sie dem Depp gar nicht zugetraut. Die Frage war nur, was er damit bezweckte. Sie merkte, wie Klaus sich erhob und sich zu ihr auf die Eckbank schob, und hielt das Gerät nun so, dass er mitschauen konnte.

„Auf den Tanzplätzen habe ich mit den anderen Hexen und Hexern unzüchtig getanzt, getrunken und gebuhlt. Gesehen habe ich dort Lena Binenbacher, Selina Marksdorf, Fabienne Luca und Sarika Zielner“, stammelte er nun auch noch die Namen der kompletten Bandmitglieder herunter. Dann war das Video zu Ende.

Sarika zitterte vor Wut. Was zum Kuckuck sollte dieser Mist?

„Spiel das bitte noch mal ab“, bat Klaus sie. Sarika wollte schon den Play-Button betätigen, als das Telefon in ihren Händen zu vibrieren begann. Der Anruf kam von Selina. Sarika konnte sich denken, was die Bassistin wollte. Vermutlich hatte sie das Video ebenfalls gerade gesehen.

Kapitel 2

Sonntag, 8. August 2021, 9:13 Uhr

Friesenhagen/Rote Kapelle

Nina nutzte die Zeit bis zum Eintreffen der Kollegen von der KTU, um sich die Umgebung anzusehen. Thomas war zum Auto gegangen, um seine Kamera zu holen. So etwas brauchte Nina nicht. Teure Kameras wurden ihrer Meinung nach heutzutage, wo es Mobiltelefone mit einer solchen Funktion gab, vollkommen überbewertet. Sie war selbst immer wieder erstaunt, wie toll zum Beispiel die letzten Urlaubsfotos geworden waren. Super Farben und alles gestochen scharf. Wenn sie da an solche Bilder aus ihrer Jugend dachte, die mit einem für damalige Verhältnisse super Fotoapparat gemacht worden waren, dann war das kein Vergleich mehr.

Sie zückte also ihr Handy und begann zu fotografieren. Die beiden Bäume vor der Kapelle, die Kapelle selbst, die Hinweistafel aus Holz, auf der auf die Hexenprozesse vor beinahe vierhundert Jahren eingegangen wurde.

Bilder vom Tatort und der Umgebung konnte man nie genug haben. Außerdem kosteten Handyfotos ja nichts, da man anders als früher keinen Film entwickeln musste.

Sie ging zur Kapelle, betrachtete die Tür und stutzte, als sie die Blutstropfen auf der steinernen Stufe und dem Basaltpflaster davor entdeckte. Nina beugte sich vor und sah durch die kleine Scheibe. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass die Kapelle so hübsch eingerichtet war. Alles sah aus, wie man es auch in einer richtigen Kirche erwarten würde. Der Boden war aus Steinplatten, auf denen zwei Teppichläufer lagen. Der eine von der Türe zum Altar. Der andere quer vor selbigem. Rechts und links an der Wand standen Klappstühle aus Holz mit roten Sitzkissen. Im gleichen Rot wie das Tuch auf dem Altar. In der Nische, hinter dem mit frischen Blumen und Kerzen geschmückten Altar, thronte lebensgroß die Gottesmutter. Wobei …nein. Eine Marienstatue konnte das eigentlich nicht sein, da diese ja das Jesuskind im Arm gehalten hätte. Stattdessen hielt diese Frau ein offenes Buch in den Händen. Zu ihren Füßen kniete ein Kind. Vermutlich irgendeine Heilige und für den Fall nicht weiter wichtig.

Aus einer Eingebung heraus drückte Nina die Klinke der Tür herunter und war nicht wirklich erstaunt, dass das kleine Gotteshaus nicht verschlossen war. Sie zerrte das Paar Einweghandschuhe, das sie sich aus Küblers Wagen mitgenommen hatte, aus der rechten vorderen Tasche ihrer Jeans und streifte sie über. Erst dann betrat sie die Kapelle.

„Och, Mensch, Nina, muss das sein?“, hörte sie hinter sich die Stimme von Torsten Liebig sagen. Sie drehte sich um und sah ihn an. Er steckte wie immer, wenn er einen Tatort betrat, in einem der Einwegpapieranzüge.

„Wieso, was meinst du?“, erkundigte sie sich, obwohl sie genau wusste, was er meinte. Wenn es in der Kapelle etwas zu finden gab, wenn hier ein Tatort war, dann war sie gerade dabei, ihn mit ihren Spuren zu kontaminieren. Dass hier etwas geschehen war, schien ihr beinahe außer Frage.

„Das weißt du ganz genau“, beschied der Kollege sie derweil.

Nina ließ sich nicht beirren und blickte sich um. Mitten in dem Raum stand außer einem der Klappstühle ein Gestell für Opferkerzen. Rechts neben dem Altar lagen auf einen Haufen geworfen Kleidungsstücke und ein abgegriffener Rucksack. Überall auf dem steinernen Fußboden rechts und links des Teppichs befanden sich kleinere Blutspritzer. Zumindest ging sie nicht davon aus, dass hier jemand Farbe verspritzt hatte.

„Nina, jetzt komm da raus“, quengelte Torsten.

„Jaja … schon gut. Aber ich möchte als Erstes gerne wissen, was da in dem Rucksack ist“, antwortete sie, deutete auf das Objekt der Begierde und bewegte sich dabei langsam rückwärts in Richtung Ausgang.

„Nina, kommst du mal?“, hörte sie Thomas rufen, der zusammen mit Kriminaloberkommissarin Heike Friedrich-Liebig, der Frau von Torsten, an der Motorhaube eines Streifenwagens lehnte und auf ein Computertablet starrte.

Nina ging zu ihnen hin und begrüßte erst einmal Heike mit einer freundschaftlich angedeuteten Umarmung. Die Beziehung zu der Kollegin war noch nie so gut gewesen wie in den letzten Monaten. Anfangs, damals bei ihrer ersten Begegnung, hatte Nina die blonde Frau mit der Wuschelmähne überhaupt nicht leiden können. Doch mittlerweile war da eine richtige Freundschaft gewachsen.

„Moin, Heike, was gibt’s denn?“, wollte Nina wissen, da Heike irgendwie besorgt dreinschaute. Die Kollegin deutete auf das iPad in Küblers Händen. „Vorhin hat eine ziemlich aufgelöste Mutter auf der Dienststelle angerufen. Ihr Sohn ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Auf der Facebookseite seiner Band hat er ein ziemlich verstörendes Video hochgeladen. Die Frau hat Angst, er könne sich etwas antun … Aber schau es dir mal besser selbst an“, erklärte Heike, während Thomas den Film startete.

Nina erkannte den Jungen sofort. Es war Fabrice, der Sänger von Sarikas Band. Er sah übel aus. Ein Auge war blutunterlaufen, daneben eine Platzwunde. Die langen Haare klebten auf seiner verschwitzten Stirn, auf der Zahlen zu erkennen waren. Was er zu sagen hatte, klang wirr, aber in Anbetracht dessen, was sie heute Morgen hier an diesem Ort schon gesehen hatte, irgendwie logisch. Nachdem das Video geendet hatte, ruhte Ninas Blick noch eine gefühlte Ewigkeit auf dem Scheiterhaufen mit den verkohlten menschlichen Überresten. Mit einem Mal war ihr auch klar, woher sie den Rucksack kannte, der neben dem Altar in der Kapelle lag.

„Wann hat er das Video hochgeladen?“, erkundigte sie sich bei Kübler, der ebenfalls sehr still und nachdenklich war.

„Ähm …“, er tippte auf dem Display des iPads herum, bis er fand, was er suchte.

„Laut dem, was hier steht, vor einer Dreiviertelstunde. Genauer gesagt, vor siebenundvierzig Minuten“, las er ab.

Nina schüttelte unmerklich den Kopf. Das konnte nicht sein. Vor einer Dreiviertelstunde war der Mann auf dem Scheiterhaufen schon tot gewesen. Der Brand war bereits vor fast zwei Stunden gemeldet worden. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass der verbrannte Körper der von Fabrice Gladenberg, dem Sänger der Band Witchwar, war.

 

„Thomas, finde heraus, von wo und wann das genau hochgeladen wurde. Heike und ich fahren gleich zu Frau Gladenberg. Das ist die Mutter von Fabrice“, gab sie Anweisung und rannte dann zurück zu der Kapelle. Sie musste jetzt wissen, was in dem Rucksack war und von wem er stammte.


Die Dusche hatte Sarika gutgetan. Wobei es natürlich auch an dem Kaffee und der Kopfschmerztablette liegen konnte, die sie genommen hatte. Die Sache mit Fabrice lag ihr schwer im Magen, und ihr Entschluss stand fest. Sie würde jetzt zu ihm fahren und ihm das Passende sagen. Die Adminrechte für die Facebook- und Instagram-Pages der Band hatte sie ihm, direkt nachdem sie das Video angeschaut hatte, entzogen. Der Link zum Video selbst war auf der Seite entfernt. Dennoch war es immer noch im Netz über die private Seite von Fabrice zu sehen. Da er nicht an sein Telefon ging und die Gladenbergs keinen Festnetzanschluss besaßen, musste sie also wohl oder übel zu ihm hinfahren und ihn auffordern, den Mist unverzüglich zu löschen. Als sie in die Küche kam, um Klaus zu sagen, dass sie kurz weg sei, war der nicht mehr da. Ein Blick aus dem Fenster in die Einfahrt brachte Klarheit, da der orangene VW Bulli ihres Vaters gerade aus der Einfahrt rollte. Vermutlich war er los, um die Zwillinge abzuholen, die bei Ninas Mutter übernachtet hatten.

Sie schnappte sich also noch eine Banane als Frühstück von der Anrichte und verließ dann ebenfalls das Haus. Keine Minute später bog sie mit ihrem bereits ziemlich betagten Mercedes SLK auf die Steinerother Straße in Richtung Betzdorf. Als sie an der roten Ampel in Höhe der Post hielt, kam ihr der Gedanke, dass sie vermutlich ja noch gar nicht hätte selbst fahren dürfen. Die letzte Wodka Cola hatte sie gegen zwei Uhr morgens getrunken. Obwohl sie sich nicht mehr betrunken fühlte, war sie dennoch fast sicher, dass, wenn die Polizei sie anhielt und ins Messröhrchen blasen ließ, es eng werden könnte für ihren Führerschein. Einen Moment überlegte sie daher umzudrehen. Aber nein, sie musste das mit Fabrice jetzt ein für alle Mal klären. Warum sollten die Bullen sie auch anhalten, wenn sie ordentlich fuhr? Per Knopfdruck öffnete sie das Verdeck. Sicher war sicher, so konnte es im Wagen unmöglich nach Alkohol riechen, sollte sie doch noch gestoppt werden.

Bis Harbach, so hieß der Ort, in dem die Gladenbergs lebten, brauchte sie keine zehn Minuten. Als sie in die Einfahrt zu dem alten Fachwerkhaus bog, war sie im ersten Moment ein wenig irritiert, da dort bereits ein roter 911er Porsche parkte, den sie nur zu gut kannte und den sie hier auf gar keinen Fall vermutet hätte. Was machte ein Dienstwagen der Kriminalpolizei vor dem Haus der Gladenbergs? Waren Kübler und Nina vielleicht bei Fabrice? Aber weshalb? Klaus hatte ihr vorhin erzählt, die beiden hätten zu einem Todesfall nach Friesenhagen gemusst. Ihr Restalkohol fiel ihr wieder ein. Nina würde ihr vermutlich nicht den Kopf abreißen. Bei Kübler war sie sich da allerdings nicht so sicher. Der Typ war irgendwie ein Spießer und ging bestimmt zum Lachen in den Keller. Nein, es würde wohl das Beste sein, wenn sie hier schnellstens wieder die Biege machte. Sie legte den Rückwärtsgang ein und schoss dann mit durchdrehenden Rädern zurück auf die Straße. Gerade als sie am Ortsausgang das Ortsschild passierte, klingelte ihr Telefon. Der Name des Anrufers wurde auf der Anzeige neben dem Tacho angezeigt. Sie hätte es sich denken können, dass Nina sie gerade gesehen hatte. Sie nahm das Gespräch also an und meldete sich lediglich mit einem: „Ja hallo?“

„Sarika, Liebes … Würdest du bitte wenden und zurück­kommen?“, wies ihre Stiefmutter sie an.

„Ja, okay“, willigte sie ein und wendete den Wagen bei der nächsten Gelegenheit in einem Forstweg.


Frau Gladenberg war sichtlich besorgt um ihren Jungen. Wozu sie natürlich allen Grund hatte. Nina und Heike hatten auf der Fahrt nach Harbach besprochen, den Eltern gegenüber erst einmal noch nichts von dem verbrannten Leichnam zu sagen. Vorerst war der Junge ja nur verschwunden. Der Rucksack in der Kapelle gehörte, dieser Verdacht hatte sich bestätigt, Fabrice Gladenberg. Dieser Umstand bedeute allerdings noch lange nicht, dass er auch das Mordopfer war. Dass es sich um einen Mord handelte, war für Nina ebenfalls eine unumstößliche Tatsache. Niemand enthauptete sich selbst und legte sich auf einen Scheiterhaufen. Nein, für so etwas gehörten immer noch mehrere dazu. Das Zimmer von Fabrice, bei dem es sich eindeutig um die Höhle eines pubertierenden Musikfans handelte, lag zur Straße. Heike war es, die den kleinen blauen Wagen in der Einfahrt zuerst bemerkte.

„Sag mal, Nina, ist das nicht deine Stieftochter?“, fragte sie verwundert.

Nina trat ebenfalls ans Fenster und blickte in die von wilden Rosen eingefasste Einfahrt, in der hinter Küblers Dienstporsche ein dunkelblaues Mercedes Cabriolet hielt. Da das Verdeck geöffnet war, konnte man auch wunderbar die Fahrerin erkennen. Eindeutig Sarika.

„Hmmm“, antwortete sie lediglich und beobachtete, wie der kleine Wagen wieder zurücksetzte, ziemlich hastig auf die Straße schlidderte und mit quietschenden Reifen davonschoss.

„Die hat es aber sehr eilig“, fand Heike.

Nina antwortete nicht, sondern wählte stattdessen Sarikas Nummer. Sie hatte Glück. Das Mädchen nahm das Gespräch bereits nach dreimal Läuten an.

„Sie kommt zurück“, antwortete Nina nach dem Gespräch, ging dann an Frau Gladenberg vorbei in den Flur, rannte die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus. Bereits wenige Sekunden später knirschten zum zweiten Mal für diesen Tag die Räder von Sarikas kleinem Benz in der Einfahrt.

Nina trat an den Wagen und beugte sich über die Front- und Seitenscheibe.

„Moin, Sari“, begrüßte sie ihre Stieftochter, zu der sie tatsächlich, und anders als es in den Grimmschen Märchen erzählt wurde, ein sehr gutes Verhältnis hatte.

„Moin, Nina“, erwiderte diese und sah sie mit geröteten Augen über den Rand ihrer Sonnenbrille an. Scheinbar hatten sie beide heute Morgen das gleiche Problem.

„Du wolltest zu Fabrice?“, mutmaßte Nina einfach mal.

„Klar … Was soll ich hier sonst wollen?“, schnaufte Sarika verächtlich.

„Immer noch Stress mit ihm?“, erkundigte Nina sich weiter und traf, wie es schien, genau ins Schwarze.

„Der Arsch hat so ein blödes Video hochgeladen und auf der Witchwar-Seite bei Facebook und Insta geteilt“, zischte sie und hieb dann wütend auf das Lenkrad des Wägelchens.

Nina dachte einen Moment nach, was sie sagen konnte und was nicht. Sarika war definitiv eine Zeugin, die sie früher oder später befragen mussten. Dummerweise war sie aber auch ihre Stieftochter. Nina ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür, hob Sarikas Handtasche vom Sitz, ließ sich nieder und zog die Türe zu.

„Was gibt das jetzt? Soll ich dich wohin fahren?“, fragte Sarika irritiert.

„Nein, wir müssen reden. Mach das Dach und die Fenster zu“, wies Nina sie an.

„Was ist denn los?“, wollte Sarika wissen, schloss aber wie gewünscht das Dach und die Seitenscheiben.

Nina wartete geduldig. Es musste nicht jeder mitbekommen, was sie dem Mädchen zu sagen hatte.

„Du bleibst jetzt bitte ganz ruhig und hörst mir zu. Es kann sein, dass Fabrice etwas zugestoßen ist. Heute Morgen wurde oberhalb von Friesenhagen die Leiche eines Mannes gefunden. Es gibt Hinweise, die darauf schließen lassen, dass es sich dabei um Fabrice handeln könnte“, kam sie direkt zur Sache und beobachtete dabei genau Sarikas Reaktion. Sie fiel aus, wie Nina es erwartet hatte. Ihrer Stieftochter entglitten sämtliche Gesichtszüge. Ihre Hände verkrampften sich zitternd um das Lenkrad.

„What the Fuck …“, stammelte sie. Nina griff ihren Arm.

„Sarika, wir wissen noch nicht, was genau passiert ist und ob es sich tatsächlich um den Sänger eurer Band handelt. Es ist jetzt ganz wichtig, dass du mir alles erzählst, was du weißt und was gestern nach dem Konzert vorgefallen ist“, schilderte Nina ihr sehr eindringlich die derzeitige Lage.

Sarika nickte.


Oberkommissarin Heike Friedrich-Liebig stand am Fenster und sah hinunter in die Einfahrt. Bei dem Gespräch zwischen Nina und ihrer Stieftochter wäre sie jetzt gerne mal als lauschendes Mäuschen dabei. Worüber die beiden sprachen, war ihr ziemlich klar. Dass Sarika und der vermeintlich verstorbene Junge sich kannten, war mehr als offensichtlich.

Die Wand gegenüber dem Fenster war komplett schwarz angemalt worden. Darauf in Weiß das Logo einer Heavy-Metal-Band namens Witchwar, was ja so viel bedeutet wie Hexenkrieg. Ein, wie Heike fand, selten dummer Name. Um das Logo herum verteilt waren Dutzende von Fotos. Einige zeigten auch Sarika Zielner, Ninas Stieftochter. Wobei Nina ihr aber auch schon auf der Fahrt hierher erzählt hatte, woher sie den verschwundenen Jungen kannte. Dass Nina das Mädchen gerade alleine befragte, war aus Ermittlersicht nicht gut. Andererseits konnte Heike es durchaus verstehen. Sie war selbst Mutter. Würde ihre Tochter Florentina da unten in dem Wagen sitzen, hätte Heike auch zuerst alleine mit ihr sprechen wollen und war sich sicher, dass Nina dies ebenfalls respektieren würde. Heike wandte sich ab und ging zu dem Schreibtisch rechts neben dem großen Bett, auf dem ein Laptop stand. Sie klappte das Gerät zu und zog die Stecker für das Netzteil und die Maus heraus. Auf dem Regal über dem Schreibtisch lag eine externe Festplatte. Die würden sie genau wie auch das Notebook mitnehmen.

„Meinen Sie, das ist nötig? Fabrice wird das, wenn er nach Hause kommt, bestimmt nicht gutheißen, dass Sie seinen Computer mitgenommen haben“, sagte Frau Gladenberg, die mit besorgtem Blick in der Türe stand und Heike beobachtete.

„Das muss leider sein, Frau Gladenberg. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass die Kollegen von der Technik sorgsam mit dem Gerät umgehen und Sie es wohlbehalten wiederbekommen“, erwiderte Heike. Dass Fabrice den Computer vermutlich nicht mehr brauchen würde, verschwieg sie weiterhin. Offiziell waren sie hier, weil die Mutter den Jungen als vermisst gemeldet hatte. So lange nicht feststand, dass es sich bei dem Toten tatsächlich um Fabrice handelte, würden sie dies auch so belassen. Ein Umstand, der Heike schwerfiel. Doch was war besser? Sollten sie mutmaßen, dass der Sohn tot war, und der stand gleich dann doch plötzlich quicklebendig auf der Matte … oder sollten sie erst einmal die Klappe halten und abwarten, bis sie mehr wussten? Für sie nicht wirklich eine Frage.

„Was ist eigentlich mit dem Vater von Fabrice?“, lenkte sie das Gespräch nun erst einmal in eine andere Richtung.

„Wir leben getrennt. Schon lange“, antwortete die Frau mit den graublonden Haaren, die vermutlich nur ein paar Jährchen älter war als Heike selbst. Sie war eine, wenn man sich die Sorgen aus ihrem Gesicht einmal wegdachte, sehr hübsche Frau.

„Das heißt, Sie und Fabrice leben alleine in diesem Haus?“, fragte Heike weiter.

„Ja … nein. Meine Tochter Anne hat noch ein Zimmer hier im Haus. Sie studiert seit letztem Jahr in München und besucht uns nur noch selten. Nur für das Wochenende lohnt sich die weite Fahrt ja nicht“, antwortete Frau Gladenberg.

„Hat Fabrice Kontakt zu seinem Vater? Könnte er bei ihm oder bei Anne sein?“, erkundigte Heike sich der Form halber und betrachtete weiter die Fotos, die mit Reißzwecken rund um das Bandlogo von Witchwar auf die schwarze Wand gepinnt worden waren. Auf den Bildern waren auffallend viele Mädchen zu sehen. Heike stutzte. Wenn man es genau nahm. waren da überhaupt keine Jungs drauf.

„Wie ist es mit Freunden, Kumpels oder Klassenkameraden? Gibt es da jemanden, der wissen könnte, wo sich Ihr Sohn befindet?“, forschte Heike weiter.

Frau Gladenberg überlegte einen Moment. „Eigentlich kämen da nur die Mädchen aus der Band infrage. Einen Freund, also so einen richtigen besten Kumpel, den gibt es soweit ich weiß nicht. Wie es sich mit seinen Klassenkameraden verhält, kann ich nicht sagen. Hier bei uns ist noch nie jemand von denen gewesen. Ich denke, mit denen hat er nicht so viel am Hut“, antwortete sie.

 

„Wie kommt das? Ich meine, wenn ich die Fotos betrachte, sehe ich hier nur Mädchen“, interessierte es Heike nun doch brennend. Jungs hingen doch normal mit anderen Jungs ab, oder nicht? Zumindest kannte sie es nur so.

„Fabrice hatte schon immer einen besseren Draht zu Mädchen. Das war schon im Kindergarten so … und, nein, er ist nicht schwul … falls Sie das jetzt denken.“

Zugegeben, der Gedanke war Heike schon kurz gekommen. Überhaupt machte Fabrice auf sie einen eher femininen Eindruck. Sie nahm ein Foto von der Wand, auf dem er mit den vier Mädchen seiner Band abgelichtet war. Fabrice war darauf, genau wie seine Bandkolleginnen, eindeutig und ziemlich stark geschminkt. Er erinnerte sie ein wenig an den Sänger von Tokio Hotel. Wie hatte der noch gleich geheißen? Egal. Alles in allem schien Fabrice Gladenberg keine graue Maus gewesen zu sein. Die Bezeichnung „Paradiesvogel“ würde ihn wohl am besten umschreiben. Heike ließ ihren Blick weiter über die Wände schweifen. Über dem Bett hing ein Kreuz mit dem angeschlagenen Heiland daran. Das Besondere an dem Kreuz war der Umstand, dass der Gekreuzigte samt dem Kreuz verkehrt herum aufgehängt worden war. Was es bedeutete, war ihr schon klar. Neben dem Bett ein Regal mit Schallplatten und CDs. So etwas sah man heutzutage nur noch selten. Selbst zu ihrer Jugendzeit hatte es nur noch wenige Platten aus Vinyl gegeben. Sie wusste aber, dass es für diese Art Tonträger auch heute noch viele Sammler gab. Fabrice besaß, grob geschätzt, einige Hundert davon. Draußen vor dem Haus wurde ein Wagen gestartet. Heike blickte kurz aus dem Fenster und sah Nina, die zurück zum Haus ging. Eigentlich hatte Heike gehofft, dass sie sich gleich noch einmal gemeinsam mit Sarika unterhalten könnten. Aber gut, das Mädchen lief ihnen nicht weg. Eines nach dem anderen. Jetzt waren sie erst einmal hier, um sich umzuschauen. Heike trat vor, zog eine Plattenhülle aus dem Regal heraus, las den Namen der Band und betrachtete das Bild. Es zeigte einen Dämon vor einem rot glühenden Himmel, der eine Kette schwang, an deren Ende sich ein ertrinkender Priester befand.

„Fabrice lebt für seine Musik“, hörte Heike die Mutter sagen und blickte zur Tür, in der nun auch Nina erschien.

„Ohh, Dio, Holy Diver“, sagte diese direkt und lächelte wissend.

„Du kennst die Platte?“, wunderte Heike sich, da sie selbst noch nie davon gehört hatte und auch mit dieser Art von Musik überhaupt nichts anfangen konnte. Zu ihrer Teenagerzeit war es in gewesen, Take That oder Backstreet Boys zu hören.

„Ja, hatte ich mal auf CD“, antwortete Nina, trat zu Heike an das Plattenregal und zog eine weitere Hülle heraus. Das Cover war ähnlich abscheulich. Allerdings hatte selbst Heike von der Band Iron Maiden schon einmal etwas gehört.

„The Number oft the Beast“, las Nina laut vor und nickte zustimmend.

„Lass mich raten … Die hattest du auch mal als CD?“, schlussfolgerte Heike.

„Nein, aber mein Göttergatte besitzt die Scheibe ebenfalls“, bestätigte Nina nur indirekt, was Heike befürchtet hatte.

„Sag mal, hat Klaus nicht auch Theologie studiert?“, fiel Heike ein.

„Ja, auf Lehramt. Warum?“, wunderte Nina sich erst, bevor sich ihr Blick aufhellte.

„Ach so, du meinst, wegen der Schallplatten …“, Nina winkte ab. „Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.“

„Meinen Sie nicht, dass Sie lieber nach meinem Sohn suchen sollten, als hier über Musik zu diskutieren?“

Die Stimme von Frau Gladenberg klang schneidend und vorwurfsvoll.

Nina wirbelte herum, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und hielt es der Frau hin. Heike befürchtete schon, dass Nina Frau Gladenberg das Foto des verkohlten Leichnams zeigen könnte. Doch nichts dergleichen. Das Ganze war mehr eine Geste.

„Frau Gladenberg, Sie haben das Video, das Ihr Sohn heute Morgen hochgeladen hat, selbst gesehen und befürchten, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Glauben Sie da nicht, dass es für die Polizei besser ist, zu verstehen, wie Ihr Junge tickt, bevor wir die Stecknadel im Heuhaufen suchen? Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihren Sohn zu finden. Gerade sind über einhundert Beamte der Bereitschaftspolizei sowie die Feuerwehr dabei, nach ihm zu suchen. Dieses Video … das hat doch offensichtlich etwas mit der Band zu tun, oder?“, fragte Nina, schien aber darauf gar keine Antwort zu erwarten, da sie nun damit begann, mit ihrem Telefon die Fotos an den Wänden abzufotografieren.

Frau Gladenberg schluckte, nickte kurz und wandte sich dann ab, um zu gehen.

„Ach, Frau Gladenberg“, fiel Heike noch etwas Wichtiges ein.

„Ja?“

„Wir bräuchten noch für einen etwaigen DNA-Abgleich die Zahnbürste Ihres Sohnes.“

Frau Gladenberg sah Heike irritiert an.

„Warum, weshalb? Das verstehe ich jetzt nicht. So etwas brauchen Sie doch nur, wenn …“ Sie schluckte. Heike sah zu Nina. Vermutlich einen Moment zu lange, sodass Frau Gladenberg sichtlich ein Verdacht kam.

„Was haben Sie gefunden? Was verheimlichen Sie mir?“ Ihre Stimme schien fast zu ersticken.

„Beruhigen Sie sich bitte, Frau Gladenberg. Noch ist nichts sicher“, ergriff Nina das Wort.

„Was haben Sie gefunden? Ist er …?“

„Wir wissen es nicht, Frau Gladenberg. Wir haben heute Morgen zwar einen Leichnam in der Gegend gefunden, in der sich Ihr Sohn gestern aufgehalten hat, glauben aber derzeit nicht, dass es sich um ihn handelt“, log Nina.

Heike bemerkte, wie die Mutter des Jungen zu zittern begann und nach der Türklinke griff.

„Ihr Sohn hat das Video gegen sieben Uhr heute Morgen gepostet. Der Tote wurde aber bereits über eine Stunde vorher gefunden. Rein rechnerisch passt das nicht“, erklärte Nina weiter, obwohl dies nicht der Wahrheit entsprach. Tatsächlich war das Video um fünf Uhr zweiundfünfzig hochgeladen worden. Vermutlich von Fabrices Mobiltelefon. Doktor Wagner hatte vorhin den Todeszeitpunkt auf fünf Uhr morgens plus/minus eine Stunde geschätzt. Das Feuer war um exakt sechs Uhr zweiundvierzig gemeldet worden.

Frau Gladenberg schien den letzten Satz von Ninas Notlüge jedoch schon nicht mehr wahrzunehmen. Ein erstickter Schrei, dann rutschte sie am Türstock hinunter zu Boden. Nina war sofort bei ihr, während Heike die Nummer des Notarztes wählte. Jetzt war genau das eingetreten, was sie unbedingt hatten vermeiden wollen.


Sarika stoppte das Cabriolet direkt an der Zufahrt zum Tüschebachsweiher, sprang hektisch aus dem Wagen und übergab sich über die Leitplanke. Die Bilder, die Gedanken an das, was Nina ihr eben im Vertrauen gesagt hatte, fraßen sich gerade in ihre Eingeweide. Fabrice war vermutlich tot. Verbrannt auf einem Scheiterhaufen an dieser Kapelle oberhalb von Friesenhagen. Die Polizei ging derzeit von einem Gewaltverbrechen aus. Die Möglichkeit, dass er sich selbst angezündet haben könnte, schloss Nina aus. Warum dies so war, wusste Sarika nicht, aber Nina würde vermutlich ihre Gründe haben. Klar, die durfte auch Sarika nicht alles erzählen, was die Polizei ermittelte. Irgendwie war sie ja vermutlich in das Ganze auch involviert. Immerhin hatte Fabrice in seinem Video bei Facebook ihren und die Namen der anderen Bandmitglieder genannt. Verdammt … wer tat so etwas Abscheuliches? Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf. Vielleicht schlief sie ja noch und alles war nur ein blöder Traum. Wobei … nein, so schlecht und mies konnte es ihr noch nicht mal in einem Traum gehen.

Nach dem Auftritt waren sie gestern alle zu Selina gefahren. Die Freundin und Bassistin der Band lebte dort in einer zu einer Wohnung umgebauten ehemaligen Stallung auf dem Hof ihrer Eltern. Insgesamt waren sie so um die zwanzig Leute gewesen. Die meisten davon hatte Sarika gekannt. Schulkameraden aus ihrer Abistufe. Einige mit Anhang, andere ohne. Es war, wie sie es erwartet hatte, zum Streit in der Band gekommen. Fabrice ging ihr schon länger auf den Keks. Dass sein Gesang für die Art von Musik, die sie machen wollten, nicht optimal war, war da noch das kleinste Problem. Nein, was Sarika am meisten an dem Typ nervte, war sein ganzes Getue. Fabrice nahm die Themen, die er in die Songtexte hineinschrieb, viel zu ernst. Der glaubte diesen ganzen Satansmüll in seinen Texten tatsächlich. Sie selbst war nicht gläubig. Weder glaubte sie an Gott noch an Satan oder sonst welche Götter. Religion war nicht ihr Ding. Dies war auch der Grund, warum es sie am Anfang nicht gestört hatte, welche Themen die Songs beinhalteten, zu denen sie die Musik geschrieben hatte. Sämtliche Gitarrenriffs und Melodien stammten aus Sarikas Feder. Okay, auch sie hatte sich von den Großen der Musikbranche inspirieren lassen, weshalb einige Passagen der Stücke schon einmal ähnlich klangen wie die Werke bekannter Metal Bands. Es war aber auch unmöglich, das Rad noch einmal neu zu erfinden. Alles war schon irgendwann zumindest ähnlich einmal dagewesen.