Bildung und Glück

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Was heißt endlich Werteerziehung? Die Soziologie unterscheidet schulmäßig zwischen Normen und Werten33 und will damit ausdrücken, daß Normen jene Verhaltensmaßgaben sind, die um der Verwirklichung eines von mehreren Personen für wichtig gehaltenen Gutes willen etabliert worden sind. Gilt etwa persönlicher Respekt als das wünschbare und schützenswerte Gut, so beschreibt „Höflichkeit“ die Normen, die im zwischenmenschlichen, alltäglichen Umgang zu beachten sind. Die schulmäßige Unterscheidung führt zu der Frage, welche „Werte“ in einer menschlichen Sozialität nicht nur faktisch vorfindlich, sondern auch normativ akzeptabel sind. Die Werte „Reichtum“, „sexuelle Attraktivität“, „Liebe zur Heimatgemeinde“, „Vorrang der eigenen Rasse“, „Toleranz“, „Pünktlichkeit“ etc. sind offensichtlich weder gleichermaßen legitim noch gleichermaßen weitreichend. „Werte“ der persönlichen Lebensführung sind einerseits von „Werten“ des öffentlichen Zusammenlebens zu unterscheiden, während andererseits faktische, legale und legitime „Werte“ auseinanderzuhalten sind. Wie weit eine dezentrierte, demokratische Gesellschaft überhaupt noch beliebige „Werte“ verkörpern und durchsetzen kann, ist in politischer Soziologie und Philosophie strittig. Ob der Wertepluralismus und die mit ihm einhergehende Verunsicherung nur ein Desaster oder nicht doch eine große Chance darstellt, ist ebenfalls umstritten. Auf jeden Fall: In Gesellschaften dieses Typs dürften nur noch sehr allgemeine, individuelle Lebensweisen, nicht mehr zensierende „Werte“ allgemein akzeptabel sein: vor allem die Würde des Menschen (einschließlich der entsprechenden rechts- und sozialstaatlichen Sicherungen). Diesen soziologischen Befund unterschlägt die „Wertedebatte“. Letzten Endes schrumpfen in demokratischen Gesellschaften die allgemein als legitim erachteten und deswegen positiv sanktionierten Werte zu minimalen Verfahrensgrundsätzen zusammen. Mehr ist weder möglich noch nötig. Was bleibt, sind Vorschläge zur geregelten Auseinandersetzung über Wertkonflikte. Bedarf also die Motivation von Eltern und Lehrern, die bereit sind, sich in diesem Sinn auf sozialisatorische Interaktionen einzulassen, der Semantik von Ordnung, Verantwortung und Grenzen? Tatsächlich ist davon auszugehen, daß diejenigen, die ohnehin demokratisch und partnerschaftlich erziehen, entsprechende Appelle zustimmend oder nachdenklich zur Kenntnis nehmen werden, während derlei Erklärungen an den Eltern derjenigen Kinder, die als delinquent, verhaltensgestört, gewalttätig oder gar als rassistisch angesehen und behandelt werden, resonanzlos vorüberrauschen dürften. In diesen Fällen, das ist Lehrerinnen und Lehrern ebenso vertraut wie Sozialarbeitern, hilft nur die mühsame Praxis am Arbeitsplatz oder ein politisches Handeln, das die Verstetigung des Unterschichtmilieus mit seinen Überforderungen in der Schule durch radikale Reform überflüssig macht. Dieses Thema – das rückständig gegliederte Schulwesen34 in Deutschland und die Ausbreitung von Armut – interessiert die neuen Wertepolitiker jedoch nicht im mindesten. Wie sollte es auch? Eine gehaltvolle bildungspolitische Diskussion würde den trivialen Konsens im luftigen Bereich der Werte sofort zum Einsturz bringen. So einleuchtend die Rede von der Leichtigkeit des Lebens vor 1989 auch war – am Ende handelt es sich wohl doch nur um eine suggestive Floskel, der in der Sache nur wenig entspricht und die nur deshalb verbreitet wird, um ohne weitere Begründung konservative Ideologien zu propagieren. Der beste Sinn, den wir dem Problem der Leichtigkeit und ihrem vermeintlichen Gegenpart, der Verantwortung, geben können, resultiert in der Frage nach dem richtigen Leben.

Als Resümee kann gelten, daß in komplexen, ausdifferenzierten und pluralistischen Gesellschaften mit konkreten Werten allein nicht auszukommen ist und es mindestens so sehr prinzipieller, eher abstrakter Haltungen und Einstellungen bedarf, etwa der Fähigkeit zur Reflexion, zur Distanz, zum hypothetischen Denken – Eigenschaften, die ich vorläufig als „Tugenden“ bezeichnen möchte. Womöglich läßt sich dem, was als „Leichtigkeit“ kritisiert wird, ja doch noch ein guter Sinn verleihen, womöglich läßt sich die Leichtigkeit sogar rehabilitieren. Denn „Leichtigkeit“ – paradox genug – ist keineswegs einfach zu vollziehen, sondern bedarf der Übung und Disziplin. Im oben beschriebenen Sinn „leicht“ zu leben, bedarf ebensosehr einer Anstrengung wie eines Weges, die Bürde des menschlichen Lebens besser, d. h. distanzierter zu tragen. Die Leichtigkeit scheint den jeweiligen Ancien Régimes unauflöslich anzuhaften – Regimes, unter denen das gute Leben, Leben und Überleben davon abhingen, daß man in Distanz zu seinen Rollen und Lebensentwürfen stand. Die folgenden Zeilen wurden 1910 geschrieben und kommen in einem Drama, in einer Farce vor, die im Ancien Régime, im Österreich der Kaiserin Maria Theresia spielt. Die Hauptfiguren dieses Stücks sind durch gesellschaftliche Zwänge und ökonomische Rücksichtnahmen an der Entfaltung ihres Lebens behindert und versuchen, dies mit Fassung zu tragen. In Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier bekundet die Marschallin, eine Frau in den Dreißigern, die weiß, daß sie noch am selben Tag von ihrem siebzehnjährigen Geliebten verlassen werden wird, diesem auf seine Treueschwüre:

„Nicht quälen will ich dich mein Schatz.

Ich sag, was wahr ist, sags zu mir so gut wie zu dir.

Leicht will ichs machen dir und mir.

Leicht muß man sein:

mit leichtem Herz und leichten Händen,

halten und nehmen, halten und lassen …

Die nicht so sind, die straft das Leben und Gott

erbarmt sich ihrer nicht.“35

Die Leichtigkeit des Seins, mit leichtem Herzen halten und nehmen, das scheint für pädagogisches Handeln nicht selbstverständlich zu sein. Auch Selbstaufforderungen, Dinge mit Gelassenheit zu vollziehen, verweisen nur darauf, daß Menschen meist dem, was sie tun, zutiefst, ja zu sehr verhaftet sind. Diese Bindung, die jede Leichtigkeit zu einer enormen Anstrengung macht, resultiert daraus, daß Bildung und Erziehung allem aufklärerischem Wollen zum Trotz weniger eine Frage intellektueller Einsicht denn affektiver Bildung sind.

Diesen Gedanken versuche ich in den folgenden zwölf Kapiteln darzulegen. Dabei geht es zunächst um einen der antiken Philosophie entnommenen, erneuerten Begriff der menschlichen Natur, der in normativer Hinsicht auf eine Alternative zu Pflicht- und Nützlichkeitsmoralen, nämlich auf eine Tugendethik zielt. Das zweite Kapitel sucht den hier vorgestellten Begriff der Tugend durch eine Reflexion auf sein Gegenteil, das Laster, zu schärfen. Auch eine erneuerte Theorie der menschlichen Natur kann freilich, zumal wenn es ihr um die tragende Rolle der Gefühle beim Entstehen von Moralität geht, die Ergebnisse einer Naturwissenschaft vom Menschen, wie sie seit Darwin vorliegt, nicht vernachlässigen. Das dritte und das vierte Kapitel erläutern die moralische Funktion von Gefühlen und plädieren für eine evolutionsbiologische Perspektive. Im fünften, sechsten und siebten Kapitel, die Platon, Aristoteles und Luhmann konfrontieren, geht es zunächst um den Nachweis, daß die Vernachlässigung der Gefühle in der Bildungstheorie Ergebnis einer bewußten, zweieinhalbtausend Jahre alten Verdrängung ist und daß eine Theorie der Bildung und Erziehung nur auf den Lebenslauf im ganzen bezogen entwickelt werden kann. Ohne einen Begriff vom „Glück“ ist das freilich unmöglich, wie Aristoteles gezeigt hat. Im siebten Kapitel weise ich dann nach, daß die systemtheoretische Umformulierung des Bildungsproblems mißlingen muß und warum die von Luhmann süffisant als „alteuropäisch“ bezeichneten humanistischen Überlegungen nach wie vor aktuell sind. Das achte und neunte Kapitel entfalten schließlich das Verhältnis von Tugend, Bildung und Charakter im einzelnen. Ein gutes, tugendhaftes Leben verharrt jedoch nicht im Privaten. Im zehnten, elften und zwölften Kapitel will ich zunächst zeigen, warum ein lange Zeit in der Pädagogik vernachlässigter Begriff, der der „Freundschaft“, unerläßlich ist, um das Bildungsgeschehen nicht nur zu begreifen, sondern auch zu befördern. Im Begriff der „Freundschaft“ liegt zugleich das Modell einer Lebensform vor, auf deren Basis eine normativ gehaltvolle politische Organisation, die Demokratie, pädagogisch bedeutsam wird.

I.Menschliche Natur und Tugendethik

Mit dem Hinweis auf affektive Bildung steht die Frage nach dem Verhältnis von Herz und Verstand, von Kognitionen und Affekten in individuellen und kollektiven Bildungs- und Lernprozessen im Zentrum, mehr noch: die Frage nach Bildsamkeit und Bildbarkeit und damit das Problem der moralischen Gefühle. Denn wie soll eine lebbare Moral greifen, wenn Menschen zu ihr nicht von Natur disponiert sind? Die abendländische Tradition verstand Erziehungsprozesse von Beginn an in einem engen und zugleich weiterführenden Verhältnis zur Natur. In ihren Anfängen war dieser Tradition ein anderes Verhältnis von Natur und Kultur gewärtig als der europäischen Moderne seit der Aufklärung. Sie kennt „Natur“ nur noch als einen Bereich kausal wirkender Notwendigkeiten, während sich der Bereich der „Kultur“ – ganz untragisch – mehr oder minder als Feld freien menschlichen Handelns offenbarte. Ein Rückgang auf die Antike freilich zeigt, daß diese Dichotomie weder sinnvoll noch notwendig ist1 Spätestens bei Aristoteles läßt sich lernen, daß man sinnvoll zwischen erster und zweiter Natur unterscheiden kann. Auffällig ist, daß dieser Begriff bzw. die Problematik einer zweiten Natur stets im Zusammenhang mit Bildung und Tugend erörtert wird: „Die Tugenden entstehen in uns“, so Aristoteles, „also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die Gewöhnung.“2 Dabei war Aristoteles keineswegs der erste, dem das quasi-natürliche Wesen menschlicher Verhaltensbereitschaften auffiel: „Die Natur und die Erziehung“, so ein Zeitgenosse des Sokrates, der Atomist Demokrit, „kommen einander gleich. Denn auch die Erziehung formt den Menschen um, und indem sie umformt, schafft sie Natur.“3

 

Diese Überlegung verdichtet sich bei Platon und Aristoteles in dem Gedanken, daß insbesondere menschliche Gewohnheiten zu Natur werden, mehr noch: daß am Ende – so der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo – andauernde Gewohnheit stärker sei als Natur. Spätestens in der lateinischen Klassik, bei Cicero, wird dann der Begriff einer anderen, einer zweiten Natur explizit artikuliert: „consuetudine quasi alteram quandam naturam effici“ – „daß durch Gewohnheit gewissermaßen eine andere Natur hervorgebracht wird.“4

Da tote Gegenstände keine Gewohnheiten ausbilden, kann sich das, was hier als „andere Natur“ bezeichnet wird, sinnvollerweise nur auf lebende Organismen, zu denen auch die Angehörigen der menschlichen Gattung zählen, beziehen. Freilich fällt auf, daß Cicero noch zögert; in der zitierten Passage aus seiner Schrift über die höchsten Güter spricht er von einer „gewissermaßen anderen Natur“ und trifft damit eine Unterscheidung. Beinahe zweitausend Jahre später nimmt der Begründer der modernen Pädagogik, Jean-Jacques Rousseau, derlei Gedanken auf, wenn er in seinem Diskurs über die Ungleichheit der Menschen aus dem Jahr 1755 schreibt:

„Ich sehe in jedem Tier nur eine kunstreiche Maschine, der die Natur Sinne gegeben hat, um sich selbst wieder aufzuziehen und bis zu einem gewissen Grad gegen alles zu schützen, was sie zerstören oder in Unordnung bringen könnte. Genau das gleiche stelle ich an der menschlichen Maschine fest, nur mit dem Unterschied, daß bei den Bewegungen der Tiere die Natur alles tut, während der Mensch bei den seinen mithilft, insofern sein Wille frei ist.“ Im französischen Originaltext steht für das hier mit „mithilft“ übersetzte Verb „concourt“, das vielleicht genauer mit „mitwirkt“ zu übersetzen wäre. „Jenes“, so fährt Rousseau fort, „wählt oder verwirft mit Instinkt, dieser durch einen Akt der Freiheit, woraus sich ergibt, daß das Tier nicht den ihm vorgeschriebenen Gesetzen entgehen kann, selbst wenn es zu seinem Vorteil wäre, und daß der Mensch sich oft zu seinem Schaden davon entfernt.“5

Das ist die Fähigkeit der Menschen, sich willentlich und frei zu ihrer (ersten) Natur zu verhalten und dabei eine zweite, eine charakterliche Natur zu schaffen. Diese zweite, anerzogene und gebildete Natur entfaltet sich in Zuständen „eines Charakters, dessen Träger im Hinblick auf einen bestimmten Bereich von Verhaltensfragen zu richtigen Antworten gelangt“6 Diese Charakterzustände lassen sich als „Tugenden“ bezeichnen. Um sie besser zu verstehen, ist zu klären, wie menschliche Charaktere, d. h. die je nachdem tugend- oder laster haften, dauerhaften Prägungen und Neigungen eines Menschen entstehen bzw. welches ihre Bestandteile sind. Wenn der Charakter Ausdruck, ja sogar Inbegriff der zweiten Natur ist, diese aber wesentlich durch Gewohnheitsbildung entsteht, und wenn bestimmte Charakterzüge deshalb als „tugendhaft“ ausgezeichnet sind, weil sie es Menschen ermöglichen, bestimmten normativen Ansprüchen zu genügen, dann setzt dies zugleich eine bestimmte Empfänglichkeit dafür voraus, was in gegebenen Situationen zu tun ist. Tugenden basieren mithin auf intelligenten Empfindsamkeiten für eigene und andere Befindlichkeiten, auf Sensitivitäten, genauer gesagt: eine einzige Sensitivität, „die ihrerseits nichts anderes ist als die Tugend überhaupt, also eine Fähigkeit, die von Situationen an das Verhalten gestellten Forderungen als solche zu erkennen.“7

Es geht also um intelligente Gefühle bzw. „eine einzige komplexe Form der Sensitivität“, die zugleich eine moralische Sichtweise begründet. Demnach beruhen Tugenden mindestens so sehr auf affektiven Haltungen, wie sie in kognitive Fähigkeiten münden. Freilich können es kaum alle affektiven Haltungen sein, die zu tugendhaften Charakteren disponieren. Die zweite, in einer bestimmten normativen Form gebildete menschliche Natur resultiert damit aus einer spezifischen Art der Affektbildung, wenn man so will aus einer „éducation sentimentale“8 Ein Verständnis der Tugend, der Tugenden erheischt demnach eine Entschlüsselung des moralischen Charakters von Gefühlen im Lauf des menschlichen Lebens. Dies war das Programm Rousseaus, der in seinem Emile eine Bildung zur Liebe als Basis moralischen Verständnisses forderte.

„Seine ersten Zuneigungen“, so Rousseau über den jungen Menschen, „sind die Zügel, mit denen man all seine Bewegungen lenkt; er war frei, und ich sehe ihn unterworfen. Solange er nichts liebte, hing er nur von sich selbst und von seinen Bedürfnissen ab. Auf diese Art werden die ersten Bande gebildet, die ihn mit Wesen seiner Art vereinigen. Wenn er seine erwachende Empfindsamkeit auf sie richtet, so glaube man nicht, daß sie gleich anfangs alle Menschen umfaßt und daß das Wort Menschengeschlecht ihm etwas bedeutet. Nein, diese Empfindsamkeit wird sich zunächst auf seinesgleichen beschränken, und seinesgleichen werden keine Unbekannten für ihn sein, sondern diejenigen, mit denen er Verbindungen hat, diejenigen, welche ihm die Gewohnheit lieb und notwendig gemacht hat, diejenigen, welche augenscheinlich ebenso denken und empfinden wie er, diejenigen, die er den gleichen Leiden, die er gelitten hat, ausgesetzt sieht und die für die gleichen Freuden, die er genossen hat, empfänglich sind – mit einem Worte, diejenigen, bei denen die natürliche Gleichheit augenfälliger ist und ihm eine größere Neigung zu lieben gibt.“9

Die auf der Basis identifikatorischer Prozesse stattfindende affektive Bindung Gleichartiger führt zu einer partikularen Solidarität, die die notwendige Bedingung zur Ausbildung einer universalistischen Moral hier und einer entfalteten Individualität dort ist, die sich im Prozeß ihrer Herausbildung wechselseitig bedingen. Rousseau fährt fort: „Er wird erst nachdem er sein Naturell auf tausenderlei Art entwickelt hat, erst nach vielen Betrachtungen über seine eigenen Gefühle und über diejenigen, die er an anderen beobachten wird, dahin gelangen, daß er seine einzelnen Vorstellungen unter dem abstrakten Begriff der Menschheit verallgemeinert und seinen besonderen Neigungen diejenigen hinzufügt, durch die er sich mit seiner Art zu identifizieren vermag.“10

Dabei rechnet Rousseaus pädagogische Anthropologie stets mit einem angeborenen Egozentrismus, einer Eigenliebe, der in seiner „natürlichen“ Form als „Selbstliebe“ – „amour de soi“ bezeichnet wird und in seiner denaturierten Form in „Eigenliebe“ – „amour propre“ umschlägt. Grundsätzlich äußert sich auch in geistigen und moralischen Interessen, die in den Haltungen der Tugend ihren Ausdruck finden, eine Art der „Selbstliebe“. Geistige und moralische Interessen beziehen sich „allein auf uns selbst, auf das Wohl unserer Seele, auf unser absolutes Wohl. Es ist ein Interesse, das wesentlich mit unserer Natur zusammenhängt und deshalb auf unser wirkliches Glück gerichtet ist.“11

Damit hat Rousseau, der sich in seiner politischen Theorie als Erbe wesentlicher römischer Traditionen verstanden hat,12 den von der antiken Philosophie postulierten Zusammenhang von Tugend und Selbstliebe wieder aufgenommen – eine Thematik, die die moderne Moralphilosophie zerrissen hat und die derzeit erneut auf der Agenda steht. Freilich scheint die Aufnahme von Kategorien des aufgeklärten Eigeninteresses in eine Theorie der Moral der Moderne fremd – allenfalls in Begründungsdiskursen formal universalistischer Moralen wie in John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit soll ein prudentialer Diskurs eine eher methodologische Funktion übernehmen13 Hinter dieser Nichtberücksichtigung des Eigeninteresses in einer modernen Theorie der Moral steht ein massives moralisches und methodisches Problem, das erst in letzter Zeit aufgefallen ist und seither systematisch bearbeitet wird14 Ellen Key forderte in einer Radikalisierung von Rousseaus Sentimentalismus, daß „eine neue Menschheit hervorgeliebt werden“ solle, und nahm damit das antike Thema einer perfektionierenden Bildung wieder auf, nachdem Christentum und Aufklärung entweder auf Erziehung als Normierung oder auf Bildung zur Mündigkeit setzten.

Der Perfektionismus ist eine ethische Theorie, die als höchstes Gut allen menschlichen Lebens die Selbstvervollkommnung ansieht. Theorien der Perfektionierung und vor allem der Selbstperfektionierung, die vermeintlich unablösbar der Gedankenwelt der Antike angehören, sind in den letzten Jahren nicht nur im Rahmen etwa der humanistischen Psychologie wiederbelebt worden, sondern auch und gerade in der Philosophie, und zwar besonders in ihrem angelsächsischen, dem sprachanalytischen Vorgehen verpflichteten Strang. Daß es dazu einer Wiederbesinnung auf das US-amerikanische, das pragmatistische Erbteil bedurfte, kommt nicht von ungefähr. Ralph Waldo Emerson, der zum wesentlichen Anreger für die Arbeiten von Stanley Cavell15 wurde, war nicht nur eine Quelle für Friedrich Nietzsche, sondern kann selbst als Erneuerer des Tugenddiskurses16 gelten. In Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit findet sich in den späteren, seltener gelesenen, aber systematisch unerläßlichen Kapiteln eine entfaltete Theorie des guten Lebens, die in unterschiedlicher Form z. B. in die neuere politische Philosophie, etwa multikultureller Gesellschaften, eingegangen ist17 Ohne eine Theorie des Guten als des Vernünftigen ginge Rawls das Problem, das er mit seiner Theorie der Gerechtigkeit lösen wollte, verloren. Schließlich hat Alan Gewirth eine umfassende, systematische Arbeit zur Frage menschlicher Selbstentfaltung vorgelegt, die bei aller Strenge der Terminologie doch jenen existentiellen Kern freilegt, um den es aller Ethik geht. Spätestens mit dieser Untersuchung,18 aber auch nach neueren deutschen Beiträgen zu einer „Philosophie der Lebensgeschichte“,19 dürfte denn auch deutlich werden, daß die Versuche der Theorie autopoietischer Systeme, Biographien ohne ein Moment teleologischer Narrativität verstehen zu wollen, aus systematischen Gründen zum Scheitern verurteilt sind.

Die neuere philosophische Diskussion unterscheidet terminologisch zwischen Ethik und Moral, zwischen teleologischen und deontologischen, zwischen Güter. und Pflichtethiken. Moralische Theorien sind Theorien, die das, was allen Menschen unbedingt geboten ist, ermitteln wollen. Das sind in aller Regel unparteiisch eingeführte Gerechtigkeitsgrundsätze, d.h. Prinzipien für eine angemessene Verteilung von Gütern und Übeln. Der „moral point of view“20 zeichnet sich – wie die Allegorie der Gerechtigkeit – dadurch aus, daß er bestimmten Interessen gegenüber systematisch blind ist. Auch Güterethiken interessieren sich für das, was allen Menschen gemein ist. Im Unterschied zu Pflichtethiken und im Unterschied zur Moral geht es ihnen aber nicht um die Frage, was unbedingt gerecht und daher geboten ist, sondern um die Frage, zu welchem Zweck Menschen überhaupt leben. Erst Güterethiken können (vielleicht) eine Frage beantworten, vor der die Moral in ihrem eigenen Bezugssystem verstummen muß: Warum soll ich überhaupt im Hinblick auf Gerechtigkeit handeln, warum überhaupt irgendwelchen Pflichten folgen? John Rawls, dessen begriffliche Mittel in diesem Kontext zureichen, unterscheidet zwei Formen des Perfektionismus. Ein Perfektionsprinzip sei in seiner strengen Lesart „der einzige Grundsatz einer teleologischen Theorie, die die Gesellschaft anweist, Institutionen, Pflichten und Verpflichtungen so festzulegen, daß die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur maximiert werden.“21 Der von Rawls als Alternative erwogene gemäßigte Perfektionismus nimmt ein Perfektions- prinzip hingegen nur als ein Prinzip unter mehreren, das im Vergleich zu diesen sorgfältig abzuwägen sei.

Die sicherlich radikalste und bekannteste Variante des Perfektionismus findet sich im Werk Friedrich Nietzsches und seiner Idee vom Übermenschen, von der „blonden Bestie“ gar, eine Theorie, die keineswegs nur mißverständlich zum Hintergrund des europäischen Faschismus und Rassismus gehört. Daß Richard Strauss’ Tondichtung „Zarathustra“ Stanley Kubricks Film „2001“ an entscheidender Stelle instrumentiert, ist keiner effekthaschenden Absicht zuzuschreiben, sondern dem philosophischen Grundgedanken dieses Films, der mit dem Aufstieg des Menschen aus der Lebensform von Voraffen beginnt, um nach einer langen Weltgeschichte in einem kosmischen Baby zu enden: In der von Kubrick inszenierten überwältigenden Bilderwelt wird die Geschichte der Menschheit als Übergangsgeschehen dargestellt, gerade so, wie Nietzsche Kants Gedanken des Menschen als eines Selbstzweckes dementierte und damit auch in der Moralphilosophie einer radikalen Moderne zum Durchbruch verhalf: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. […] Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß er ein Übergang und ein Untergang ist […]. Es ist an der Zeit, daß der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, daß der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze.“22

 

Systematisch widerruft Nietzsche in dieser Passage einen zentralen Lehrsatz der Moral der Aufklärung, nämlich Kants in der Metaphysik der Sitten ausgeführtes Prinzip, nach dem „der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen Zweck“ ist und er daher „weder sich selbst noch andere als Mittel zu brauchen befugt ist, […] sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“23

Und so läßt sich fragen: Wenn der Mensch kein Zweck ist, was ist dann überhaupt ein Zweck? Wenn der Mensch eine Brücke ist, dann ist er ein Mittel; offen bleibt lediglich die Frage, wozu? Und wenn es einen Zweck gibt, zu dem der Mensch ein Mittel ist, worin besteht dieser Zweck dann und wer setzt ihn sich in einer Welt nach dem Tode Gottes, die keine metaphysischen Vorgaben mehr kennt? Nach Nietzsche kann es nicht anders sein, als daß der Mensch sich selbst zum Mittel seiner Selbstüberwindung macht und sich ein Ziel steckt, das höher als er selbst ist. Welches wäre der Maßstab, anhand dessen sich bemißt, was höher und was niedriger ist? Für Nietzsche ist dieser Zweck der Übermensch, der ebenso Inbegriff wie reale Möglichkeit wahrer Individualität und überbordender Kreativität ist. Beider Entfaltung aber setzt die Befreiung von den undurchschau- ten Fesseln der Moral voraus. Diese Lehre hat vor allem in der von Nietzsches Schwester überlieferten Form eine rassistische und sozi- aldarwinistische Lesart erhalten, die nachvollziehbare Spuren bis in den tödlichen Rassenwahn der Nationalsozialisten gelegt hat24 Man beraubt sich jedoch aller Erkenntnischancen, wenn man bei der Lektüre Nietzsches vor allem diese eine Folgegeschichte in den Blick nimmt – wie man sich auch aller Erkenntnischancen beraubt, wenn man als hermeneutischen Schlüssel für das Werk von Karl Marx den Stalinismus nimmt. Die moderne Pädagogik, die mit dem Jahrhundert des Kindes ihren Anfang nahm, erweist sich nicht nur in der deutschen Reformpädagogik als zutiefst nietzscheanisch.

Im Werk von Ellen Key finden wir eine Lektüre und Entfaltung von Nietzsches Ideen, die die Fruchtbarkeit dieses Denkens sehr viel deutlicher werden lassen. Ellen Key, daran ist ein redlicher Zweifel kaum möglich, war eine Darwinistin, die den „Kampf ums Dasein“ sublimieren wollte und die bedauert, daß es bisher nicht gelungen sei, „dem Kampfe ums Dasein edlere Formen zu verleihen“25 Key war fest von der Unabgeschlossenheit, vom fortwährenden Werden des menschlichen Wesens überzeugt26 und zog aus dem Faktum der Evolution den Schluß, daß dort, wo es bereits eine Höherentwicklung gegeben hat, auch eine weitere Höherentwicklung möglich, wenn nicht gar wünschenswert sei27 Es ist diese, von Darwin und Galton unterschiedlich verstandene Evolutionstheorie, die in Verbindung mit einer Tugendethik, d. h. einer Ethik, die als ihr höchstes Kriterium die Heranbildung edler Charaktere sieht,28 die Pädagogik zur Wissenschaft macht: „Erst wenn man die Erziehung des Kindes auf die Gewißheit gründet, daß Fehler nicht versöhnt oder ausgelöscht werden können, sondern immer ihre Folge haben müssen, aber gleichzeitig auf die Gewißheit, daß sie in einer fortgesetzten Evolution umgewandelt werden können, durch langsame Anpassung an die umgebenden Verhältnisse, erst dann wird die Erziehung anfangen, Wissenschaft, Kunst zu werden.“29

Damit zielt Ellen Key auf eine durch wissenschaftliche Erziehungskunst gesteuerte Evolution der Gattung, die aber nicht – wie man meinen könnte – Entwicklung als Selbstzweck, als Religion30 ansieht, sondern als Unterpfand des Glücks: „Für das Kind wie für den Erwachsenen gilt Goethes Wort, daß Glück die Entwicklung unserer Fähigkeiten ist.“31 „Unsere Fähigkeiten“ jedoch äußern sich im kindlichen Egozentrismus und Egoismus und das heißt auch in seinen Gefühlen, die für Key ohnehin der deutlichste Indikator für Individualität sind32 Das Gesetz der Individuierung gilt so als Gesetz der kleinen Abweichung vom Typus, als Erfüllung der gattungsbezo- genen Anpassungsleistung durch die Freigabe und Förderung individueller Macht33 Key verbindet schließlich – in einer systematisch überhaupt nicht, aber praktisch überzeugenden Weise – die antike Tugendethik der Heranbildung edler, glücksfähiger und glücklicher Charaktere mit einem ganz und gar modernen Gedanken: der Überzeugung vom Wert des Neuen als eines Selbstzwecks. „Die noch weiterlebenden Instinkte des Affen“, so führt sie in einer anthropologischen Nebenbemerkung aus, „verdoppeln beim Menschen die Wirkung des Erblichkeitsgesetzes, und der Konservativismus ist daher bis auf weiteres in der Menschenwelt stärker als das Streben, neue Arten hervorzubringen. Aber dieses letztere ist das Wertvollste.“34

Es dürfte deutlich geworden sein, wie weit sich Key in den Spuren Nietzsches von jeder herkömmlichen normativen Pädagogik entfernt und sich zwei Leitvorstellungen verschrieben hat, die von Christentum und Kantianismus gleichermaßen entfernt sind, ohne doch bedacht zu haben, ob und inwieweit diese Leitvorstellungen miteinander verträglich sind: hier das individuelle Glück, dort das Entstehen neuer Arten von Menschen. Ein Rückblick auf die klassischen, die antiken Theorien des Glücks, von Platon über Aristoteles bis hin zu den Epikuräern und Stoikern, würde sofort ergeben, daß sie alle von einer mehr oder minder konstanten Natur des Menschen und seiner Stellung im Kosmos ausgegangen sind und daher „Glück“ als eine Erfüllung menschlicher Wesensmöglichkeiten, nicht aber deren Neuerschaffung oder Neuerfindung verstehen. Auch die Ethiken des christlichen Abendlandes vertreten diese Auffassung, und noch Immanuel Kant hängt ihr in Teilen an. Sogar die nachidealistische Philosophie, namentlich bei dem christlichen Philosophen Kierkegaard und dem Aristoteliker Marx, zehrt von der Annahme einer gegebenen menschlichen Natur, hier in der Annahme ihrer konstitutiven Mangelhaftigkeit und Sündhaftigkeit, dort im Vertrauen auf ihre durch Praxis erreichbare Perfektibilität. Es war in der Tat erst Friedrich Nietzsche, der dieses – seit der Antike auch das Nachdenken über die Erziehung dominierende – Deutungsmuster außer Kraft gesetzt hat: An die Stelle eines Erfüllens vorgegebener und beschreibbarer Möglichkeiten des Menschen tritt jetzt der Gedanke seiner Neuerschaffung und mehr oder minder beliebigen Plastizität, eine Problematik, an der sich die philosophische Anthropologie von Scheler über Gehlen bis zu Plessner, von Mead über Foucault bis zu Judith Butler noch heute abarbeitet. Tatsächlich liegt die Exposition des Problems bereits in Immanuel Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht mit all seinen Dilemmata vor. Die Modernität dieser Exposition besteht zum einen in der schroffen und strikten Zurückweisung einer jeden transzendenten Sinnbestimmung des menschlichen Lebens und zum anderen im ebenso konsequenten Blick auf die nur naturwissenschaftlich leistbare Erklärung dieses Lebewesens: „Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er als frei handelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll.“35